Zusammenfassung
Viele Menschen in strukturschwachen Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler fühlen sich von der Politik verlassen. Das befindet die erste Studie ihrer Art zu den letzten Wahlen in Deutschland und Frankreich: 500 Haustürgespräche zeigen auf, welche Herausforderungen die Befragten in ihrem Alltag haben und warum oftmals die sozialpolitischen Bedingungen – und nicht etwa Fremdenfeindlichkeit – Grund ihres Unmuts und ihrer Zukunftsängste sind. Basierend auf den authentischen Schilderungen der Menschen entschlüsselt die Studie „Rückkehr zu den politisch Verlassenen“ deren Deutungsmuster und macht sie zugänglich für Handlungsempfehlungen, die darauf abzielen, das Vertrauen dieser Bevölkerungsgruppen zurückzugewinnen.
Die wichtigsten Ergebnisse für Deutschland
Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen als „größtes Problem“ des Landes (Migration) und des eigenen Alltags (unsichere Arbeitsbedingungen, Wegfall von sozialer Infrastruktur) identifizieren. Die Medien und die Bundespolitik greifen diese „Agenda der Bürger“ nur unzureichend auf, was ein Gefühl der Benachteiligung erzeugt. Die Abwertung Anderer, insbesondere von Migranten, ist daher eine Folge einer eigenen Abwertungserfahrung („Vergleichende Abwertungslogik“). Eine intrinsische Fremdenfeindlichkeit zeigte sich in den Gesprächen hingegen nicht als Muster.
Zentrale Narrative der Populisten verfangen in ihren Hochburgen weitaus weniger stark als meist angenommen. Wenn die Menschen politische Zusammenhänge mit ihren eigenen Worten schildern, spielen Islamisierung, Europaskepsis, pauschale Medienkritik oder die Betonung der nationalen Identität kaum eine Rolle. Im Gegenteil: Zum Beispiel wird Europa mehr als Teil der Lösung denn als Problem gesehen.
Forderungen nach einem nationalistisch orientierten Kurs („Deutschland zuerst!“) beruhen im Wesentlichen auf dem Gefühl, dass die Politik die falschen Prioritäten setzt entgegen der Lebensrealität der Menschen. So besteht oft die Wahrnehmung, dass z.B. Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise oder außenpolitisches Engagement nicht grundsätzlich falsch sind, dafür aber Anstrengungen und Investitionen vor Ort ausbleiben, um handfesten Herausforderungen im Alltag, wie dem steigenden ökonomischen Druck auf Geringverdiener oder Lücken in der Daseinsvorsorge, zu begegnen. Viele Befragte glauben, dass sozial und geographisch Gesellschaftsräume entstanden sind, aus denen sich die Politik zurückgezogen hat. Es herrscht ein Gefühl des Verlassenseins.
Kontext: Repräsentative Befragung für Deutschland
Um die qualitativen Ergebnisse der Studie „Die Verlassenen“ zu kontextualisieren, hat Das Progressive Zentrum eine repräsentative Befragung beim Umfrageinstitut Civey in Auftrag gegeben. Auf die Frage „Wenn Sie an Ihr Lebensumfeld denken, was würden Sie sagen, welcher Bereich läuft an Ihrem Wohnort schlecht?“ antworteten knapp 25 % „der öffentliche Nahverkehr und ca. 17 % „Migrationspolitik“, allerdings auch ca. 15 % „Es läuft nichts schlecht“.
Die Umfrage aufgeschlüsselt nach „Wahlabsicht Bund“, „Bevölkerungsdichte“, „Vergleich Bundesländer West-Ost“, „Kaufkraft“ und „Alter“:
Bitte beachten Sie die erhöhte statistische Fehlergrenze bei einigen dieser Teilauswertungen (siehe Angaben unten links in der Grafik).
Schlussfolgerungen
Es gibt Räume der „politischen Verlassenheit“, in denen das Vertrauen der Menschen neu zu verdienen ist – mit lokaler Präsenz sowie Anerkennung und Lösung der vorliegenden Probleme. Dazu werden in der Studie fünf Handlungsfelder skizziert: Solidarität nach innen als Voraussetzung für Solidarität nach außen, Stärkung von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur zur Förderung von Chancengerechtigkeit, gesellschaftsverträgliche Gestaltung des Strukturwandels, zivilgesellschaftliches „nützlich machen“ von Parteien auf lokaler Ebene sowie mehr Selbstbewusstsein gegenüber rechtspopulistischen Narrativen.
Kurzfilm „Les Oubliés – Die politisch Verlassenen“
Die Reportage zur Studie:
Der Kurzfilm „Les Oubliés – Die politisch Verlassenen“ entstand im Zuge der Studienerstellung. Er wurde von der Snice-Filmproduktion erstellt und von der Alfred Herrhausen Gesellschaft gefördert.
Über die Studie
Das Progressive Zentrum hat mit dem französischen Partner „Liegey Muller Pons“ 500 Haustürgespräche in strukturschwächeren Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler in Deutschland und Frankreich durchgeführt. Ziel der Studie ist es, unter dem Stichwort der kulturellen Intelligenz das gegenseitige Verständnis von Deutschland und Frankreich über gesellschaftliche Narrative in einem Pilotprojekt zu stärken. Hierzu wurden systematisch jene Menschen befragt, über die in der öffentlichen Debatte viel gesprochen wird, die aber selbst nur selten zu Wort kommen.
Die Gespräche fanden in jeweils drei Regionen in Ost- und Westdeutschland sowie Nord- und Südfrankreich statt. Dabei beantworteten die Menschen allgemeine Fragen zu ihrer individuellen Lage sowie zur Sicht auf ihr Lebensumfeld und das Land (z.B. „Was läuft gut/schlecht in Ihrem Wohnort?“; Was würden Sie ändern, wenn Sie selbst in die Politik gehen würden?“). Dank dieser offenen Herangehensweise konnten aus den Gesprächsinhalten die authentischen Deutungsmuster der Menschen über ihr Leben und ihr Land mittels einer Diskursanalyse ermittelt werden. Die Ergebnisse sind für die Debatte über die „Antwort“ auf den Rechtsruck sehr aufschlussreich und liefern eine qualitative Ergänzung zu repräsentativen Studien auf diesem Gebiet.
Die Studie in den Medien
Die Studie erzeugte eine große Resonanz in nationalen und regionalen Medien.
- Aachener Nachrichten
- ARD
- arte
- baden online
- Baseler Zeitung
- Berliner Zeitung
- BR
- Deutsche Welle
- Deutschlandfunk
- Deutschlandradio Kultur
- Frankfurter Rundschau
- Handelsblatt
- Huffpost
- Kölner Stadtanzeiger
- Lausitzer Rundschau
Diese Studie ist ein Debattenimpuls im Rahmen dieses Projekts und spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider.
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