Selbstverständlich europäisch!? 2022

Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die deutsche Europapolitik in der „Zeitenwende“

Zusammenfassung

Russlands Einmarsch in die Ukraine ist eine „Zeitenwende“ für Europa und verlangt auch eine Neuausrichtung deutscher Europapolitik. Eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung wünscht sich dabei für die Zukunft eine aktivere und zugleich kooperative Führungsrolle in der EU, das ist das Ergebnis einer neuen Studie der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum.


Mit der Feststellung, Russlands Überfall auf die Ukraine markiere eine „Zeitenwende“, leitete Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 seine Rede in einer Sondersitzung des Bundestages ein. Während er zunächst die bloße Diagnose eines fundamentalen Wandels der Weltpolitik auf den Punkt brachte, formulierte der Bundeskanzler seine Schussfolgerungen daraus als Handlungsaufträge für die deutsche Politik. Erst gegen Ende seiner Rede schlug Scholz den Bogen zur Europapolitik, verzichtete dann aber auf konkrete politische Ableitungen für die Europäische Union.

Bislang kommt die Europapolitik in der deutschen Debatte über die Zeitenwende zu kurz.

Dr. Johannes Hillje

Für das Friedensprojekt Europa stellte Russlands Invasion einen historischen Realitätsschock dar. Die gemeinsame unmittelbare Reaktion der EU-Länder war dementsprechend so schnell, substanziell und  geschlossen wie selten zuvor in der Geschichte der EU. Es dauerte allerdings nur bis zum nächsten EU-Gipfel zwei Wochen später, bis erste Risse in der Einigkeit der EU sichtbar wurden.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen und sich neu-ergebenden Handlungsfeldern untersucht die Langzeitstudie „Selbstverständlich europäisch!?“ der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum zum vierten Mal in Folge das Selbstbild der deutschen Bevölkerung bezüglich Deutschlands Rolle in der EU und ihre Erwartungen an die Bundesregierung. Dabei kristallisiert sich heraus: Die Bürger:innen finden, Deutschland soll entschiedener und stärker europapolitisch ausgerichtet werde

Studienzusammenfassung

Selbstverständlich europäisch?! 2022: Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die deutsche Europapolitik in der „Zeitenwende“

Eine Studie von Dr. Johannes Hillje und Dr. Christine Pütz

Die wichtigsten Ergebnisse der repräsentativen Umfrage

Das Verhalten der Bundesregierung in der EU haben in letzter Zeit weniger als die Hälfte (49,6%) der Bürgerinnen und Bürger als aktiv wahrgenommen. Knapp 40% nahmen die Bundesregierung in letzter Zeit auf EU-Ebene weniger aktiv wahr. Für die Zukunft wünschen sich jedoch 72% ein aktives Verhalten. Zusätzlich befürworten 68,3% ein kooperatives Auftreten  Deutschlands in Europa.

72,1% der Deutschen bewerten die unmittelbare Reaktion der EU auf Russlands Invasion als angemessen. Für die kommende Zeit sind die Bürgerinnen und Bürger der Ansicht, dass die Unabhängigkeit der Energieversorgung das dringlichste Thema (66,9%) innerhalb der EU ist. Als weitere Bereiche mit hoher Priorität folgen die Verteidigungsfähigkeit der EU-Staaten (52,8%), Inflationsbekämpfung in der EU (34,6%), Lebensmittelsicherheit (30,7%) sowie die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (26,8%).

37,6% der Deutschen sprechen sich für einen neuen EU-Investitionsfonds für Energieunabhängigkeit aus; weitere 37,5% für Fonds für Energieunabhängigkeit wie auch für Verteidigung; und zusätzliche 10,1% für einen Fonds allein für Verteidigung. Nur 11,4% sprechen sich gegen ein neues gemeinsames Investitionsinstrument aus. Als Finanzierungsquelle befürworten 49,4% die Einführung von EU-Steuern (z.B. Digitalsteuer), 47% sprechen sich für Beiträge der Mitgliedsstaaten aus. Außerdem sind 48,1% für mehr Spielraum für Zukunftsinvestitionen auf nationaler Ebene; 33,4% sprechen sich hingegen für strikte Haushaltsdisziplin in den EU-Staaten aus und 18,5% sind unentschieden.

Ähnlich wie im Vorjahr sehen zwei Drittel der Deutschen (66,2%) in der EU-Mitgliedschaft mehr Vor- als Nachteile. Gestiegen im Vergleich zu 2021 ist die Zustimmung zum politischen Nutzen der EU: 63,7% (+4,2%) der Befragten meinen, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit als ohne die EU erreichen kann. Gesunken ist hingegen die Zustimmung zum wirtschaftlichen Nutzen der EU-Mitgliedschaft: 48,8% (-4,5%) sind der Meinung, dass rein wirtschaftlich gesehen der Nutzen der EU-Mitgliedschaft die Kosten überwiegt. 46,4% (+3,8%) meinen, dass die Kosten überwiegen, was u.a. auf die insgesamt gestiegene wirtschaftliche Verunsicherung zurückgeführt werden kann.

Handlungsempfehlungen: Impulse zu drei wichtigen Bereichen

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine aktive Rolle Deutschlands in Europa. Auch viele EU-Partner wünschen sich, dass Deutschland seiner besonderen Verantwortung gerecht wird. Die Bundesregierung sollte dabei eine proaktiv gestaltende Rolle einnehmen. Initiativen sind nun in erster Linie für die (in den European Green Deal eingebettete) Energieunabhängigkeit Europas sowie die Neuaufstellung der europäischen Sicherheitsarchitektur gefragt.

Nur eine handlungsfähige EU wird die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen meistern können. Inhaltlich geht es darum, die europäische Souveränität etwa in Energie-, Wirtschafts- und Verteidigungsfragen zu erhöhen. Institutionell geht es um effiziente Entscheidungsprozesse, die verbindliche Entscheidungen in einem absehbaren Zeitraum ermöglichen.

Angesichts der aktuellen Bedrohungen und Herausforderungen wollen die Bürgerinnen und Bürger mehr europäische Handlungsfähigkeit. Dazu wünschen sie sich eine aktivere deutsche Europapolitik und befürworten klar neue gemeinsame Investitionen in Energiesicherheit, Verteidigung und Klimaschutz.

Dr. Christine Pütz

Deshalb sollten Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat ausgeweitet werden, wie es auch in den Vorschlägen der „Konferenz zur Zukunft Europas“ gefordert wird. Eine wichtige Voraussetzung für europäische Handlungsfähigkeit ist zudem ein starkes Fundament bestehend aus Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, das es in allen Mitgliedsstaaten zu verteidigen und stärken gilt.

Handlungsfähigkeit beruht auch auf finanzpolitischer Ermöglichung. Die neuen Herausforderungen mit Blick auf Europas Zukunft erfordern zusätzliche Investitionen, gleichzeitig stehen die Bürgerinnen und Bürger einem neuen EU-Investitionsinstrument positiv gegenüber. Für die Finanzierung sollten die EU-Staaten auch neue Eigenmittel für die EU schaffen, beispielsweise eine CO2-Grenzabgabe, Plastik- oder Digitalsteuer. Den Mitgliedsstaaten sollte zudem mehr Flexibilität für Zukunftsinvestitionen auf nationaler Ebene ermöglicht werden.

Reaktionen auf „Selbstverständlich europäisch!? 2022“


Über die Methode

Das Meinungsforschungsunternehmen Civey hat für diese Studie 5.000 Personen im April 2022 online befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahren. Der statistische Fehler der Gesamtergebnisse liegt bei 2,5 Prozent. Für die Erstellung des Fragebogens wurden 2019 und 2021 Fokusgruppen durchgeführt.


Die Studie ist ein Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum.

Autor:innen

Dr. Johannes Hillje ist Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und Brüssel. Er berät Institutionen, Parteien, Politiker, Unternehmen und NGOs. Zur Europawahl 2014 arbeitete er als Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei. Zuvor war er im Kommunikationsbereich der UN in New York und in der heute.de-Redaktion des ZDF tätig.
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Dr. Christine Pütz

Heinrich-Böll-Stiftung
Dr. Christine Pütz ist Referentin für Europäische Union im Referat EU/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung. Bis 2007 arbeitete sie an Forschungs- und Bildungseinrichtungen wie dem Centre Marc Bloch (Berlin), dem Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung und dem CEVIPOF in Paris.
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