Zusammenfassung
Die Europawahl 2024 findet im Schatten multipler Krisen statt. In diesem Kontext untersucht die sechste Ausgabe der Langzeitstudie Selbstverständlich europäisch!?, wie die deutsche Bevölkerung auf die Europawahl blickt und die Rolle Deutschlands in der EU beurteilt. Die diesjährige Studie zeigt: Die Bürger:innen in Deutschland haben wenige Monate vor dem Urnengang ein hohes Interesse an der Europawahl. Für den Wahlkampf wünschen sie sich Debatten über krisenbehaftete Themen, die auch europäischer Lösungen bedürfen – vor allem über Migration, Sicherheit/ Verteidigung und Wirtschaft. Die Mehrheit der Befragten spricht sich darüber hinaus für einen höheren oder gleichbleibenden Umfang der EU-Unterstützung für die Ukraine aus. Auch ist eine knappe Mehrheit weiterhin überzeugt, dass die EU mehr Vor- als Nachteile bringt – an den wirtschaftlichen Nutzen der EU für Deutschland aber glaubt derzeit weniger als die Hälfte der Befragten. Für die Zukunft wünscht sich eine Mehrheit von knapp zwei Dritteln ein kooperatives und aktives Auftreten Deutschlands in Europa.
Die Langzeitstudie ist ein Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum und wurde 2024 bereits zum sechsten Mal in Folge durchgeführt.
Die wichtigsten Ergebnisse
Hohes Interesse an Europawahl, hohes Desinteresse im AfD-Lager
66,1 Prozent der Bürgerinnen und Bürger haben mehrere Monate vor dem Urnengang ein sehr oder eher hohes Interesse an der Europawahl. Bei 11,0 Prozent ist das Interesse sehr gering. Überdurchschnittlich groß ist der Anteil der sehr gering Interessierten im Lager der AfD (15,3 Prozent), weitere 6,0 Prozent der AfD-Unterstützenden sind eher gering interessiert (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Wie ist Ihr Interesse an den Europawahlen am 9. Juni 2024? (in Prozent)
Europäische Krisenlösungen in den Fokus des Wahlkampfes
Geht es nach den Befragten, sollen im Wahlkampf die Themen im Mittelpunkt stehen, für die es auch europäische Lösungen braucht: 74,7 Prozent wollen, dass das Thema Migration debattiert wird, gefolgt von Sicherheit/Verteidigung (63,3 Prozent), Wirtschaft (48,8 Prozent), Klima/Energie (37,2 Prozent) und Inflation (37,1 Prozent).
Abbildung 2: Welche dieser Themen sollten Ihrer Meinung nach im Wahlkampf für die Europawahlen am 9. Juni 2024 vor allem disktutiert werden? Mehrfachauswahl – max. drei Antworten (in Prozent)
Rückhalt für EU-Unterstützung der Ukraine
Mehr als 60,0 Prozent der Befragten plädieren für einen höheren (41,8 Prozent) oder gleichbleibenden (18,3 Prozent) Umfang der EU-Unterstützung der Ukraine. In den ostdeutschen Bundesländern spricht sich dagegen eine knappe Mehrheit von 51,0 Prozent für eine geringere Unterstützung der Ukraine aus.
Zweifel am wirtschaftlichen Nutzen Europas
Für 56,9 Prozent der Bürgerinnen und Bürger überwiegen weiterhin die Vorteile der EU-Mitgliedschaft und 52,9 Prozent meinen, dass die aktuellen Krisen eher auf europäischer als auf nationaler Ebene gelöst werden können. Allerdings sagen nur noch 45,2 Prozent, dass der wirtschaftliche Nutzen der EU-Mitgliedschaft die Kosten übersteigt.
Abbildung 3: Wie schätzen Sie den Nutzen der EU-Mitgliedschaft für Deutschland ein?
Kooperative und aktive EU-Politik der Bundesregierung
Das Auftreten der Bundesregierung in der EU nehmen 46,4 Prozent in letzter Zeit als aktiv wahr und 41,7 Prozent als weniger aktiv. Für die Zukunft wünscht sich eine klare Mehrheit von knapp zwei Dritteln ein kooperatives und aktives Auftreten Deutschlands in Europa.
Trends und politische Empfehlungen
Interesse an Europawahl nutzen
Das hohe Interesse an der Europawahl – insbesondere unter pro-europäischen Wählerinnen und Wählern – sollten Parteien und Zivilgesellschaft nutzen, um vor der Wahl konkrete europäische Lösungsansätze für aktuelle Krisen (z. B. Sicherheit, Klima, Migration) zu diskutieren. Die EU sollte etwa ihre Verteidigungsfähigkeit stärker als gemeinsames europäisches Projekt denken und kohärenter gestalten. Auch die Unterstützung der Ukraine gegen Russlands Angriff sollte gemeinsam vorangetrieben werden.
Europas Nutzen betonen
Der Trend dieser Langzeituntersuchung zeigt zwar, dass die Bürgerinnen und Bürger vom politischen Nutzen der EU überzeugt sind, gleichzeitig glaubt nur noch eine Minderheit an den wirtschaftlichen Nutzen. Diese Wahrnehmung dürfte auch mit der Krise der hiesigen Wirtschaft zusammenhängen. Gerade deshalb sollte die Politik herausstellen, dass der EU-Binnenmarkt ein Wohlstandsgarant für die Exportnation Deutschland ist und diesbezügliche Desinformation – z. B. von Seiten der AfD – durch Fakten widerlegen. Die zahlreichen Blockaden der Bundesregierung auf EU-Ebene hingegen sind nicht hilfreich, um den Glauben an Europas Handlungsfähigkeit zu stärken.
In die Zukunft investieren
Eine deutliche Mehrheit befürwortet mehr Spielraum für gemeinsame europäische wie auch nationale Zukunftsinvestitionen. Daher wäre es angezeigt, den Stabilitäts- und Wachstumspakt der Eurozone um eine „goldene Investitionsregel“ zu erweitern, die Investitionen in Zukunftsaufgaben von konsumtiven Staatsausgaben unterscheidet. Den Bürgerinnen und Bürgern geht es vor allem um eine Stärkung der Resilienz durch Investitionen in Sicherheit, Forschung/Innovation und einen sozialgerechten European Green Deal.
Methode
Für die Studie Selbstverständlich europäisch!? 2024 hat das Meinungsforschungsunternehmen Civey im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung zwischen dem 1. und 3. Februar 2024 5.000 Personen befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahren. Der statistische Fehler der Gesamtergebnisse liegt bei 2,5 Prozent. Bei einigen Fragen waren Mehrfachnennungen möglich. Der Fragebogen besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil ist identisch zu den Vorgängerstudien und untersucht primär das Selbstbild der Deutschen in der EU. Der zweite Teil des Fragebogens besteht aus fünf Fragen zu aktuellen Themen der Europapolitik. Die diesjährige Studie befasst sich mit der Haltung und Stimmung der Bürgerinnen und Bürger bezüglich der bevorstehenden Europawahlen im Juni 2024.
Die Studie ist ein Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum.
Autor:innen
Aufgeheizte Debatte?
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