“Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt”

In ihrem neuen Buch zeichnen Hanno Burmester und Clemens Holtmann das Idealbild einer transformativen Partei

Zusammenfassung

Endet mit der Ära Merkel in Deutschland auch die Zeit der Volksparteien? Die Entwicklungen in an anderen liberalen Demokratien deuten darauf hin. Aber was kommt danach? Unser Policy Fellow Hanno Burmester und sein Ko-Autor Clemens Holtmann plädieren in ihrem neuen Buch “Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt” für einen neuen Partei-Typus: die transformative Partei. Wodurch zeichnet sie sich aus und was können die etablierten Parteien von ihr lernen?

Bei der Bundestagswahl 1972 vereinten SPD und Union noch 91,2% der abgegebenen Stimmen auf sich. In der aktuellen Sonntagsfrage (17. März 2021) kommt keine der mittlerweile sechs Parteien im Bundestag auf über 30%. Trotz dieser massiven Veränderungen gilt die deutsche Parteienlandschaft im europäischen Vergleich als stabil. 

In Italien wurden seit der letzten Parlamentswahl 2018 drei verschiedene Regierungskoalitionen gebildet – mit Conte und Draghi als parteilosen Technokraten an deren Spitze. Die letzte Regierungsbildung in Belgien dauerte 493 Tage, 2011 waren es sogar 541. In Frankreich sind Konservative und Sozialisten in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Wiederwahl Emmanuel Macrons bei der Präsidentschaftswahl 2022 ist alles andere als sicher und mit Marine Le Pen hat eine rechtsnationalistische Kandidatin weiterhin realistische Chancen auf das Präsidentenamt.

Insbesondere die Volksparteien müssen sich reformieren, wollen sie dem Abwärtstrend in Wähler- und Mitgliedschaft entgegenwirken.

Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass auch die etablierten Parteien in Deutschland künftig einem zunehmenden Veränderungsdruck ausgesetzt sein werden. Insbesondere die Volksparteien müssen sich reformieren, wollen sie dem Abwärtstrend in Wähler- und Mitgliedschaft entgegenwirken. Die neue Parteiführung der SPD ist deshalb mit dem Ziel angetreten, die älteste Partei Deutschlands zu erneuern – bisher nicht mit sichtbarem Erfolg. Der Union dämmert, dass auch sie sich nach der Ära Merkel wird neu erfinden müssen.

Es liegt auf der Hand, dass von der Mitgliederbeteiligung über die Frauenförderung bis hin zur Digitalisierung weiterhin Reformbedarf besteht. Nur drängt sich angesichts des rapiden Wandels der Parteienlandschaft in anderen Ländern die Frage auf, ob etablierte Parteien ihre Stellung und die damit einhergehende Stabilität des Parteiensystems sichern können, indem sie bloß an diesen Stellschrauben drehen. Oder ob die gesellschaftlichen Umstände und die politischen Herausforderungen unserer Zeit nicht eine grundsätzliche Veränderung erfordern, vielleicht sogar einen neuen Partei-Typus?

Passt die Politik des 20. Jahrhunderts zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? 

Für einen solchen neuen Partei-Typus plädieren Hanno Burmester, Policy Fellow des Progressiven Zentrums, und Clemens Holtmann, Mitbegründer der Partei Demokratie in Bewegung, in ihrem neuen Buch Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt”, das am 26. März im Quadriga Verlag erscheint. In drei Kapiteln entwerfen die beiden Autoren das Idealbild einer transformativen Partei. Ihre Kernthese: etablierte Parteien sind in ihrer Arbeits- und Funktionsweise so sehr im 20. Jahrhundert verhaftet, dass sie für die transformativen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts keine zufriedenstellenden Lösungen bereitstellen können. 

In Zeiten des rasanten gesellschaftlichen Wandels müssten Parteien große Linien zeichnen und grundlegende Reformen vorantreiben, anstatt sich ausschließlich auf das zu fokussieren, was sie in der Vergangenheit ausgezeichnet hat: die Kunst der Trippelschritte, das Bereitstellen einer großen Anzahl kleiner Lösungen. Dieser Wandel erfordere mehr als ein neues Programm oder eine neue Führung. Parteien müssten “ihre innere Verfasstheit – die Art, wie sie sich verstehen, organisieren und arbeiten – grundsätzlich verändern”, so Burmester und Holtmann.

Die transformative Partei

Wie sieht sie also aus, die Partei, die im 21. Jahrhundert langfristig erfolgreich sein kann? Wer das herausfinden möchte, sollte das Buch mit all seinen detaillierten Vorschlägen zu parteiinterner Führung, Entscheidungsfindung und Organisationskultur lesen. 

Hier nur so viel: Den beiden Autoren zufolge braucht die transformative Partei ein starkes Fundament und ein funktionierendes Betriebssystem. Das Fundament setzt sich aus einem harmonischen Dreiklang aus Purpose, strategischer Positionierung und wertegebundener Parteikultur zusammen. Die transformative Partei ist sich im Klaren darüber, worin ihr Sinn und Daseinszweck besteht und kann diesen verständlich nach außen kommunizieren. Sie scheut den Ideologie-Begriff nicht, sondern erkennt an, dass jeder politischen Positionierung eine Weltanschauung und ein Menschenbild zugrunde liegen. Und sie füllt die Werte, die sie nach außen vertritt, auch innerhalb der Partei mit Leben.

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Das, was das Buch als Betriebssystem beschreibt, ist keine Anleitung dafür, wie die Partei der Zukunft in ihrer internen Struktur und Organisation auszusehen hat. Vielmehr wird hier eine systematische Sammlung alternativer Konzepte der (Nicht-)Mitgliedereinbindung, der Führung und interner demokratischer Prozesse entwickelt, die den Bedürfnissen der Menschen und den Ansprüchen an eine moderne Organisation entsprechen. Die transformative Partei könnte beispielsweise dezentral organisiert sein, sie könnte Rollen anstelle von Ämtern verteilen und von einer Doppelspitze aus politischem und organisatorischem Vorsitz geführt werden. Was die transformative Partei auszeichnet, ist, dass sie die eigenen Strukturen, Regeln und Normen reflektiert und bereit ist, sich an veränderte Anforderungen und Rahmenbedingungen anzupassen.

Ein Buch für alle, die Parteien besser machen wollen

In den letzten 50 Jahren hat sich die deutsche Parteienlandschaft massiv verändert und man muss kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass sie sich auch in den nächsten 50 Jahren wandeln wird. Ob die etablierten Parteien dann noch immer eine Rolle spielen werden, hängt auch davon ab, ob sie in der Lage sind, sich an die Welt um sie herum anzupassen. Das Buch “Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt” hilft der Parteivorsitzenden und dem Neumitglied genauso wie der Parteigründerin dabei, an politischen Parteien zu arbeiten, die auch in der Zukunft noch eine zentrale Säule unserer parlamentarischen Demokratie bilden. 

Autor:innen

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.
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Hanno war bis Oktober 2021 Policy Fellow im Progressiven Zentrum und arbeitete dort vor allem zur Zukunft der Demokratie. Mit seinem Beratungsunternehmen unlearn berät er DAX-Konzerne, mittelständische Unternehmen und öffentliche Institutionen zur kulturellen Seite der Digitalisierung.
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Clemens Holtmann

Generationen Stiftung
Clemens Holtmann beschäftigt sich intensiv mit Fragen zu Demokratie und Partizipation. Er ist stellvertretender Geschäftsführer der Generationen Stiftung. Davor war er aktiv für Demokratie in Bewegung und Demokratie in Europa.
Vom Versuch, eine politische Partei neu zu denken
Um wachsen zu können, ist das Community Organizing, der Aufbau von Beziehungen zwischen den Menschen, für eine Partei von größter Bedeutung
Die privatisierte Demokratie
Der Staat darf Beteiligung nicht an private Unternehmen auslagern

Inhalt

Zusammenfassung
Autor:innen

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent

Clemens Holtmann

Generationen Stiftung

Wir entwickeln und debattieren Ideen für den gesellschaftlichen Fortschritt – und bringen diejenigen zusammen, die sie in die Tat umsetzen. Unser Ziel als Think Tank: das Gelingen einer gerechten Transformation. ▸ Mehr erfahren