Die Übergangenen – Strukturschwach & Erfahrungsstark

Eine Studie zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation

Zusammenfassung

Der Klimawandel und die Sorge vor dessen Folgen beschäftigen auch die Menschen in strukturschwachen Regionen. Eine höhere Priorität haben dort jedoch andere Themen: Soziale Herausforderungen und Angst vor ungerechten Folgen der Transformations- und Klimapolitik überwiegen. Das befindet die qualitative Studie “Die Übergangenen: Strukturschwach & erfahrungsstark” des Berliner Thinktanks Das Progressive Zentrum in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Eine Studie zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation

Die Studie zeigt, wie Menschen in strukturschwachen Gegenden Deutschlands auf ihre persönliche Zukunft, die Zukunft ihrer Region und des ganzen Landes blicken. Dabei wird deutlich, welche Herausforderungen und Probleme die Menschen dort sehen. In den über 200 Haustürgesprächen in vier strukturschwachen Regionen Deutschlands (Duisburg, Regionalverband Saarbrücken, Bitterfeld-Wolfen und Vorpommern-Greifswald) wurde aber auch über die Rolle der Politik und das Vertrauen in die gewählten Vertreter:innen gesprochen.

Besonders ist diese Studie jedoch nicht nur, weil sie auf der qualitativen Auswertung dieser Gespräche beruht. Sie zeigt auch Möglichkeiten auf, wie Betroffene der Großen Transformation zu Mitgestalter:innen der Zukunft werden können. Zudem gibt die Untersuchung Antworten darauf, wie politische Akteur:innen auf die Bedürfnisse, Erfahrungen und Interessen der Bürger:innen eingehen können.

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Strukturschwache Regionen im Überblick

Die Studie basiert auf 217 Haustürgesprächen in vier strukturschwachen Regionen Deutschlands: in Bitterfeld-Wolfen, Duisburg und Bochum sowie im Regionalverband Saarbrücken und in Vorpommern-Greifswald.

Dabei wurden zehn offene Fragen gestellt, sodass selbstgewählte Prioritäten und die eigenen Sichtweisen der Menschen viel Raum hatten. Mit einer Clusteranalyse wurden anschließend Deutungsmuster des Wandels herausgearbeitet. Begleitet wurde die Studie von einer intensiven Forschungsstrategie. Hierzu wurden systematisch jene Menschen befragt, über die in der öffentlichen Debatte viel gesprochen wird, die aber selbst nur selten zu Wort kommen.


Die Ergebnisse der Studie – drei Deutungsmuster

Die Befragten in den vier Regionen beantworteten zehn offene Fragen zur persönlichen, regionalen und gesamtgesellschaftlichen Zukunft. Es ging dabei um Wünsche und Sorgen, aber auch um die Wahrnehmung der Problemlösungsfähigkeit von Politik. Erwartungsgemäß waren die Antworten so heterogen wie der Kreis der Teilnehmer:innen. Die vielen Antworten lassen sich gleichwohl zu einigen wenigen Deutungsmustern verdichten, welche die zentralen Aussagen enthalten.

Gegenwart: Die Klimakrise ist ein Problem, aber uns drängen hier soziale Nöte.

Von einer Mehrheit der Befragten wird der Klimaschutz als eine der wichtigsten kollektiven Herausforderungen anerkannt. Was aber nicht heißt, dass er auch im Alltagskontext eine hohe Priorität hätte. Dort ist eher die Sehnsucht nach einer besseren Nahverkehrsanbindung von Belang, eine zeitgemäße Infrastruktur und die Wiederbelebung von örtlichen Kultur- und Freizeitangeboten.

Zukunft: Ich bange nicht um meine Zukunft, aber um die der Region.

Während die Umwelt- und Klimakrise als nationale Herausforderung anerkannt wird, beschäftigt die Befragten mit Blick auf die Zukunft ihrer Region vor allem eines: deren Abstieg. Sie fürchten, als Ort nicht mehr dazuzugehören, als Subjekt nicht mehr teilhaben zu können.

Prozess: Unsere Demokratie ist stark, aber die da oben sind alle unfähig.

Zwar behaupteten die Befragten mehrheitlich, Vertrauen in die Demokratie zu haben – zugleich ließen sie  aber eine ausgeprägte Grundskepsis gegenüber ihren gewählten Entscheidungsträger:innen erkennen.


Handlungsempfehlungen

Geld: Strukturschwache Kommunen und ihre Bewohner:innen sollten vom Wandel profitieren.

Die Klimakrise wird in strukturschwachen Regionen als Problem wahrgenommen. Doch soziale Nöte erscheinen den Menschen dort größer. Der sozial-ökologische Umbau – die Transformation – wird nicht als Chance für verbesserte Lebensumstände genannt. Im Gegenteil: eher besteht die Sorge, dass die Transformation zu weiteren Nachteilen für die Region und Menschen führt. In der Konsequenz sollten klimapolitische Maßnahmen für strukturschwache Kommunen keine Last sein. 

Vielmehr sollten sie finanzielle Vorteile mit sich bringen. Viele Regionen, die vom anhaltenden Wandel betroffen sind, haben Standortvorteile, die Investitionen erleichtern – etwa große Freiflächen für regenerative Energieerzeugung. Mit einer zweckgebundenen Altschuldenentlastung oder einer direkten Beteiligung an den Erträgen können Kommunen zu Profiteur:innen des Wandels werden. Die Autor:innen der Studie empfehlen außerdem eine Diversifizierung der Investitionen auf Folgeindustrien nachhaltiger Energieerzeugung, etwa Wasserstofferzeugung, E-Mobilität, Batterieproduktion oder Wärmepumpen.

Investitionen sollten jedoch auch auf der individuellen Ebene erfolgen. Die Politik könnte das Angebot machen, die Kosten für die Haussanierung oder den Ausbau von Solar- oder Thermoheizanlagen zu übernehmen, wobei die gesparten Strom- bzw. Heizkosten als Leasing-Gebühr zurückgezahlt werden. Auch das Angebot, das alte Verbrenner-Auto gegen ein E-Auto zu tauschen, wobei die Kosten für das alte Auto erstattet werden, könnte die Menschen in strukturschwachen Regionen zu Profiteur:innen des Wandels machen.

Gestaltungsmacht: Betroffene sollten zu Gestalter:innen werden, in dem sie über die Zukunft ihrer eigenen Region mitbestimmen können. 

Die Studie hat gezeigt, dass das Gefühl der Bedeutungslosigkeit sich nicht nur auf materielle Dinge beschränkt. Die Menschen in strukturschwachen Regionen leiden auch unter dem Eindruck mangelnder Repräsentanz, Wertschätzung und Einbindung. Dem sollte die Politik begegnen, in dem sie mehr Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Zukunft der eigenen Region schafft. Dies ist beispielsweise durch sog. regionale Transformationscluster möglich: Orte, an denen Betriebe, Gewerkschaften, Politik, Kultur, Zivilgesellschaft und Bürger:innen gemeinsam über wegweisende Entscheidungen beraten. Zu derartigen Beteiligungsinstrumenten gehört auch eine breite und verlässliche Kommunikation.

Gehör: Mehr zuhören, Respekt und Wertschätzung stärken.

Die dritte Empfehlung bezieht sich auf das Verhältnis zu den gewählten Volksvertreter:innen. Das Vertrauen in die Demokratie ist auch in strukturschwachen Regionen groß. Das in die Politiker:innen jedoch nicht. Auch hier sollte die Politik stärker auf die Menschen zugehen und wirksame Dialogformen etablieren. Im Hinblick auf unterschiedliche Fähigkeiten und Bedürfnisse sollte das nicht bloß online geschehen. Zudem fragen sich viele Bewohner:innen strukturschwacher Regionen, was mit ihren Wünschen und Vorschlägen geschieht. Eine Reaktion auf Eingaben der Bürger:innen sollte verbindlich sein, um Ergebnistransparenz herzustellen.


Stimmen zur Studie

„Die DPZ-Studie zeigt auf erhellende Weise gleichermaßen die Chancen und die Herausforderungen der Transformation auf gesellschaftlicher Ebene: Denn einerseits sehen die Menschen den dringenden Handlungsbedarf zum Schutz des Klimas, und das ist gut für die Akzeptanz politischer Maßnahmen. Andererseits werden auf der regionalen Ebene andere Probleme als drängender empfunden, und Veränderung geht einher mit der Sorge, dass sich die persönliche Lebenssituation verschlechtert. Die Transformation bedeutet jedoch Wandel auf allen Ebenen, und somit bietet die Studie höchst relevanten Lehrstoff dazu, was es wirklich bedeuten muss, die Menschen einzubeziehen und ihre Sorgen und Bedürfnisse ernst zu nehmen.“

Anna Lührmann, Staatsministerin für Europa im Auswärtigen Amt

„Die Interviewstudien des DPZ haben die Debatte zu den ökonomisch abgehängten Regionen schon in der Vergangenheit maßgeblich vorangebracht. Die Neuauflage analysiert erstmalig den Klimawandel in diesem Zusammenhang und entwickelt eine Reihe von hoch relevanten Vorschlägen zu einer zeitgemäßen Interpretation des Begriffs der ´Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse’ und für die zukünftige Ausgestaltung der Regional- und Strukturpolitik.“

Prof. Dr. Jens Südekum, Professor für International Economics, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

“Die Studie „Die Übergangenen: strukturschwach und erfahrungsstark“ des DPZ liefert einen wichtigen und analytischen Beitrag zur Debatte um die sozial-ökologische Wende. Die Studie untersucht vor allem die politische Relevanz des Themas der sozialen, regionalen und ökologischen Gestaltung der Klimapolitik vor Ort. Dabei wird deutlich: die Menschen vor Ort können dann für den Wandel gewonnen werden, wenn sie zu Gestalter:innen ihrer eigenen Zukunft werden.”

Prof. Dr. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin

„Es gibt wenig wichtigeres im Moment als die Frage, wie wir die notwendige Klimapolitik und die damit einhergehende ökonomische Transformation mit politischer Akzeptanz verbinden können. Diese Studie geht dahin, wo die wichtigsten Hinweise zur Beantwortung der Frage liegen: direkt zu den Menschen, die potentiell betroffen sind. Nicht nur für Politiker*innen, auch für Ökonom*innen äußerst lesenswert.“

Dr. Christian Odendahl, Chefökonom, Centre for European Reform

„Die auf Haustürgesprächen basierende Studie des DPZ „Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation“ zeigt deutlich, wie wichtig nachhaltige Transformationsprozesse in strukturschwachen Regionen sind. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann nur gelingen, wenn gleichwertige Lebensverhältnisse geschaffen werden und die Menschen am Gestaltungsprozess teilhaben können. Die Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zu aktuellen politischen Debatten.“

Dr. Karamba Diaby MdB

„Die Einsicht ist seit Langem da: Eine umfassende Transformation unserer Gesellschaft im kommenden Jahrzehnt ist Voraussetzung für eine gerechte und nachhaltige Zukunft.  Sie wird nur gelingen, wenn sie demokratisch, lokal und „bottom up“ gestaltet wird und dabei soziale und ökologische Bedürfnisse miteinander in Einklang bringt. Die Interviewstudie des DPZ erschließt eindrucksvoll die Perspektive und Deutungen der Menschen in strukturschwachen Regionen, die als Mitgestalter:innen einer sozialökologischen Transformation erst noch gewonnen werden müssen.“

Prof. Dr. Patrizia Nanz, Vizepräsidentin des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung

Danksagung

Die Autor:innen und das Team danken:

Ünsal Başer, Andreas Bredenfeld, Dr. Alexander Brehm, Ulrich Commerçon, Patrick Dahlemann, Dr. Andrä Gärber, Johannes Hillje, Wolfgang Höffken, Brigitte Juchems, Paul Jürgensen, Horand Knaup, Thomas Kralinski, Mareike Le Pelley, Nicole Loew, Dr. Dietmar Molthagen, Stefanie Moser, Dr. Christian Odendahl, Max Ostermayer, Norman Prange, Alexander Reitzenstein, Franziska Richter, Catrina Schläger, Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Matthias Schröder, Dr. Sabrina SchulzDominic Schwickert, Torsten Steinke, Prof. Dr. Jens Südekum, Dr. Ringo Wagner, Prof. Dr. Bernhard Wessels, Petra Wilke und Constanze Yakar für ihre hilfreichen Anregungen und konstruktive Kritik.


Die Studie ist in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden.

Autor:innen

Florian Ranft

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Florian Ranft ist Mitglied der Geschäftsleitung und verantwortet den Schwerpunkt „Green New Deal“ des Progressiven Zentrums.
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Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin | Resiliente Demokratie
Paulina Fröhlich ist stellvertretende Geschäftsführerin und verantwortet den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“ des Berliner Think Tanks Das Progressive Zentrum. Dort entwirft sie Dialog- und Diskursräume, leitet die europäische Demokratiekonferenz „Innocracy“ und ist Co-Autorin von Studien und Discussion Papers.
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Prof. Dr. Tom Mannewitz ist Professor für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte an der Hochschule des Bundes in Berlin. Zuvor lehrte er im Bereich Politikwissenschaftliche Forschungsmethoden in Chemnitz. Seine Forschungsgebiete erstrecken sich von Demokratie, Populismus und Extremismus über politische Kultur bis zur sozialwissenschaftlichen Methodologie. Er studierte Politik und Kommunikationswissenschaft in Dresden.

Projektteam

Jan Niklas Engels betreute das Projekt seitens der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er ist Referent für empirische Sozial- und Trendforschung im Referat „Analyse und Planung“ der FES. Zuvor war er in verschiedenen Funktionen im In- und Ausland für die FES tätig, u. a. als Büroleiter in Budapest, Ungarn.

Johanna Siebert ist Projektmanagerin im Schwerpunkt „Green New Deal“ des Progressiven Zentrums. Zuvor war sie als Bildungsreferentin in der NGO-Arbeit sowie als freiberufliche Wissenschaftlerin für das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) tätig. Ihre Forschung liegt im Bereich der Globalen Politischen Ökonomie und konzentriert sich auf sozioökonomische Gerechtigkeitsfragen im Hinblick auf die sozialökologische Krise und gesellschaftliche Transformation.

Inhalt

Zusammenfassung
Anhang
Autor:innen

Florian Ranft

Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter | Green New Deal

Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin | Resiliente Demokratie

Wir entwickeln und debattieren Ideen für den gesellschaftlichen Fortschritt – und bringen diejenigen zusammen, die sie in die Tat umsetzen. Unser Ziel als Think Tank: das Gelingen einer gerechten Transformation. ▸ Mehr erfahren