Wird im Osten die Bundestagswahl entschieden?

Repräsentative Umfrage zeigt: Der Osten ist gegenüber allen Kandidat:innen noch skeptisch

Laut repräsentativer Umfrage fühlt sich die Mehrheit der Ostdeutschen bislang von keinem der Kanzlerkandidat:innen politisch gut vertreten. Was bedeutet dieses Ergebnis für die drei Kandidat:innen und für die Bundestagswahl im September?

Presseresonanz zur Umfrage

Für die Bundestagswahl im September werden die Ostdeutschen möglicherweise den Ausschlag über Sieg und Niederlage geben. Und das trotz eines nur bei 15 Prozent liegenden Anteils an der Gesamtwähler:innenschaft. Das ist nicht neu: Bereits 1990 führte das Votum der Ostdeutschen zu einer temporären Zementierung der Asymmetrie im Parteienwettbewerb zugunsten der Union.

Im Jahr 1998 erhielt die rot-grüne Regierung ihre große Mehrheit durch die Vielzahl der Überhangmandate im Osten. Im Jahr 2002 wurde die SPD nur durch ihr gutes Abschneiden in den neuen Ländern stärkste Kraft, die Fortsetzung von Rot-Grün wurde letztlich durch das Scheitern der PDS an der 5-Prozent-Hürde möglich. Im Jahr 2013 ist wiederum die FDP aufgrund ihrer Schwäche im Osten an der 5-Prozent-Hürde gescheitert und hat so die Fortsetzung der schwarz-gelben Bundesregierung verhindert.

Auch 30 Jahre nach der Vereinigung zeigen sich mehrere strukturelle Unterschiede im Parteiensystem

  • Die „großen“ Parteien sind im Osten kleiner. Es gibt vier „mittelgroße“ Parteien im Bereich von 15 bis 25 Prozent: CDU, AfD, SPD und Linke. Mit Abstand folgen FDP und Grüne im Bereich von fünf bis 10 Prozent. 
  • Das hat große Auswirkungen auf die Chance, Direktmandate zu gewinnen. Direktmandate können in Ostdeutschland bereits ab Wähler:innen-Anteilen von 20 Prozent gewonnen werden. Angesichts der größeren Konkurrenzsituation haben auch mehr Parteien die Chance, einen Wahlkreis zu gewinnen (bei der letzten Wahl: CDU, SPD, AfD, Linke und Grüne). 
  • Etwa 70 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich „mit Ostdeutschland verbunden“. Dieser Wert determiniert auch den Blick auf politische Themen, auf das Angebot der Parteien und auf die Spitzenkandidat:innen. 

Hier alle Ergebnisse der Umfrage ansehen

Das Progressive Zentrum hat im Mai 2021 eine Umfrage in Auftrag gegeben, die die Stimmungslage in Ostdeutschland gegenüber den Kanzlerkandidaturen ergründet hat. 

Zentrale Erkenntnisse

Allen drei Kandidaturen wird jeweils zwischen 13 und 16 Prozent zugesprochen, das beste Verständnis zur Lage in Ostdeutschland zu haben. 56 Prozent sehen dies bei keinem der drei Kandidat:innen. Die Kanzlerkandidaturen werden als „Westdeutsche“ wahrgenommen, was zu größerer Distanz und Unentschlossenheit in der Wähler:innenschaft führt. So traut auch die Hälfte der Ostdeutschen keinem der Kandidat:innen zu, die soziale Ungleichheit im Land zu senken und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bewältigen. 

Während Olaf Scholz seine eigene Wähler:innenschaft zum größten Teil hinter sich hat (71 Prozent), ist dies bei Annalena Baerbock (64 Prozent) und Armin Laschet (55 Prozent) in deutlich geringerem Umfang der Fall. Baerbock und Laschet liegen im Osten jeweils stärker unter ihren Potentialen als im Westen. 

Auch in Ostdeutschland gibt es einen Wunsch nach Politikveränderung – und zwar sowohl im Stil als auch in den Inhalten. 50 Prozent der Befragten erwarten vom neuen Kanzler oder der neuen Kanzlerin “Durchsetzungsstärke”, 42 Prozent erwarten “Veränderungsbereitschaft” und 46 Prozent “mutig neue Wege zu gehen”. Diese Werte unterscheiden sich kaum von den Werten in den alten Bundesländern. Der Blick auf die ostdeutsche politische Agenda (vgl. Allensbach-Umfrage vom 17.5.21) zeigt, dass die Flüchtlingspolitik weiter Platz eins einnimmt und das Thema “Klimapolitik” weiter hinten; dagegen liegt im Westen eine nahezu umgekehrte Reihenfolge vor. Verbunden sind beide am ehesten in der Rentenfrage, worin sich das Megathema “demographischer Wandel” zu Wort meldet. Gerade deshalb scheint die Bevölkerung ein starkes Bedürfnis nach einer Politik zu verspüren, die aktiv gestaltet und Wandel vorantreibt. Der Wunsch nach Aufbruch wird laut Umfrageergebnissen im Osten wie im Westen und unabhängig von Geschlecht, Alter und Bildungsgrad in der Breite der Gesellschaft geteilt. 

Was bleibt bis zur Bundestagswahl? 

Den Osten entdecken.

Es scheint, die Menschen in Ostdeutschland nehmen keinen der drei Kandidat:innen als den oder die ihre war.  Für alle drei gilt, dass im Osten noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Denn gleichzeitig schlummern für die Nachfolge von Angela Merkel hier noch größere Potenziale, da über die Hälfte der Wähler:innenschaft sich noch keine abschließende Meinung gebildet hat. Wer das Potenzial im Osten ausschöpfen will, muss Lebenslagen, Präferenzen und die andere Themenstruktur ernst nehmen. Vielfältige Hinweise dazu gibt beispielsweise der Abschlussbericht der Einheitskommission, der bisher kaum öffentlich zur Kenntnis genommen wurde.

Über die eigene Klientel hinaus Wählerinnen und Wähler ansprechen. 

Lediglich Olaf Scholz hat die eigene Parteianhängerschaft in hohem Maße hinter sich. Sowohl Annalena Baerbock als auch Armin Laschet müssen noch Überzeugungsarbeit in der eigenen Wähler:innenschaft leisten. Für eine erfolgreiche Regierungsbildung und Kanzlerschaft ist es jedoch notwendig, über die eigene Klientel hinaus auf Wählerinnen und Wähler überzeugend zu wirken. “Mobile Randwähler:innen” aus den anderen Parteien zu sich zu ziehen, ist auch eine wichtige Voraussetzung für den Fall eines engen Rennens um die Kanzlerschaft. Hier haben alle drei Nachfolge-Aspiranten von Amtsinhaberin Angela Merkel noch Überzeugungsarbeit vor sich. 

Programm der neuen Wege mit Durchsetzungskraft und Kompetenz kombinieren. 

Ähnlich wie 1998, jedoch weniger wie 2005, setzen die Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland auf einen politischen Neuanfang. Für eine erfolgreiche Kanzlerkandidatur kommt es deshalb zwingend darauf an, Angebote politischer Innovation mit Kompetenz und Vertrauen zu verknüpfen. Dabei sollte die ostdeutsche Dimension – angesichts der großen Transformationserfahrungen der vergangenen drei Jahrzehnte – besonders deutlich gemacht werden. 

Der Schlüssel für die Bundestagswahl 2021 könnte abermals das Ost-West-Paradox werden: Man kann die Bundestagswahl in Ostdeutschland vielleicht nicht gewinnen. Die Historie zeigt aber: Man kann sie dort sehr wohl verlieren. Angesichts der höheren Wechselbereitschaft, der größeren Offenheit und der anderen Agenda ist in Ostdeutschland also mehr (zusätzliches) Wähler:innenpotential aktivierbar. 

Über die Umfrage

Den Ergebnissen liegt eine Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zugrunde. Die Stichprobe der Befragten ist repräsentativ für die deutsche Wohnbevölkerung ab 18 Jahren. Die Umfrage wurde im Auftrag von Das Progressive Zentrum vom 18.05. bis zum 19.05.2021 durchgeführt. Die Fragen wurden in einem deutschlandweiten Netzwerk aus mehr als 20.000 Websites ausgespielt (»Riversampling«). Die Stichprobengröße beträgt 5.000. 


Autoren

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder ist Vorsitzender des Progressiven Zentrums. Er hat den Lehrstuhl „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Kassel inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Verbände und Gewerkschaften.
Thomas Kralinski ist Mitgründer des Progressiven Zentrums und war bis 2022 Mitglied des Vorstands. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Osteuropawissenschaft in Leipzig und Manchester (UK).

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