Welche sozialen und politischen Folgen hat die Corona-Krise? Dieser Frage geht ein großangelegtes Umfrage-Programm der Universität Konstanz nach. Das Progressive Zentrum begleitet die Aufbereitung und Veröffentlichung der Ergebnisse samt Handlungsempfehlungen in mehreren Policy Briefs.
Die Kooperation zwischen dem Progressiven Zentrum und dem Exellenzcluster der Uni Konstanz hat das Ziel auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse Handlungsempfehlungen für EntscheidungsträgerInnen in Wirtschaft und Politik zu entwickeln, wie sozialer Ungleichheit in Deutschland und Europa begegnet werden kann. Für einen ersten Impuls wurden vier Policy Papers veröffentlicht, die auf einem großangelegten Umfragen-Programm des Konstanzer Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ beruhen.
Streitpunkt EU-Anleihen: Sind die Deutschen solidarisch? Ja, aber!
Die Studie mit dem Titel “Betten oder Bonds? Konditionale Solidarität in der Corona-Krise” von Sebastian Koos, Juniorprofessor für Corporate Social Responsibility an der Universität Konstanz und Dirk Leuffen, Professor für Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Politik an der Universität Konstanz untersucht in welchem Ausmaß und auf welche Weise die EuropäerInnen bereit sind, sich gegenseitig in der Corona-Pandemie zu unterstützen. Das Policy Brief samt Umfrage unter der deutschen Wohnbevölkerung zeichnet ein gemischtes Bild: Während die Bereitschaft zu medizinischer Solidarität hoch ist, zeigt sich nur eine begrenzte Bereitschaft zur Unterstützung finanzieller Umverteilungsmaßnahmen.
DER SPIEGEL nennt die Umfrageergebnisse “brisant”, weil sie zeigen würden, dass die Bundesregierung weiterhin um Zustimmung für ihre Krisenpolitik werben müsse. Der Redakteur David Böcking fasst zusammen:
„Konzentriere sich die Debatte allein auf Kosten, so reduziere dies die Hilfsbereitschaft, schreiben die Forscher. Auch die mittel- und langfristigen Interessen der Geberseite an den Hilfen sollten thematisiert werden.“
Im Debattenmagazin Social Europe fassen die Autoren das Kernergebnis ihrer Studie zusammen:
„[The study] shows that European solidarity is conditional. Specifically, it depends on the type of need, the cost of help and, ultimately, on the perceived ‘deservingness’ of recipients.“
Produktiv, motiviert – aber auch teilweise erschöpft: So sehen sich Beschäftigte im Homeoffice
Für das zweite Paper “Homeoffice in der Corona-Krise – eine nachhaltige Transformation der Arbeitswelt?” befragten Florian Kunze, Professor für Organizational Studies an der Universität Konstanz sowie zwei seiner wissenschaftliche MitarbeiterInnen Kilian Hampel und Sophia Zimmermann über verschiedene Zeitpunkte hinweg rund 700 Beschäftigte im Home-Office.
Die meisten gaben an, sich als “motiviert und produktiv” wahrzunehmen und Beruf und Privatleben besser vereinbaren zu können. Gegenüber einer Gruppe von “Vollüberzeugten” – jede vierte Person könne ganz auf den Bürobesuch verzichten – stehen vielen, die Einsamkeit und soziale Isolation sowie emotionale Erschöpfung erlebten.
Viele Medien berichteten über diese Studie, unter anderem die Süddeutsche Zeitung, die zusammengefasst hat, dass das “Wunschmodell bei vielen Befragten eine ausbalancierte Mischung aus Homeoffice und Präsenztätigkeit” sei.
Corona-Regeln: Wer will sie aufheben und warum?
Wer Lockerungen fordert, tut das oft aus Sorge um die Gesellschaft – oder aus Misstrauen gegen den Staat, zeigt die dritte Studie der Universität Konstanz mit dem Progressiven Zentrum: “Raus aus dem Lockdown? Warum es manchen zu schnell und anderen nicht schnell genug geht”. Prof. Dr. Claudia Diehl, Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Co-Sprecherin des Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“, und ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Felix Wolter, befragten rund 4.800 Personen zu ihrer persönlichen Einstellung gegenüber den Corona-Maßnahmen und möglichen Lockerungen.
Es zeigt sich: Vertrauen ist wichtiger als Eigeninteresse. Die Haltung zur Lockerung pandemiebedingter Einschränkungen wird vor allem dadurch bestimmt inwiefern die Befragten Grundrechtseinschränkungen wahrnehmen – und weniger, ob jemand wirtschaftliche oder familiäre Folgen für sich selbst oder die Gesellschaft befürchtet. Es geht es also vor allem um das Vertrauen in staatliche Institutionen.
Unter anderem die Süddeutsche Zeitung und Die Welt griffen eine Meldung der Deutschen Presseagentur zur Studie auf:
“Entscheidend für die Politik sei eine klare Krisenkommunikation. […] Zentral sei zudem die Aufklärung über die entsprechenden Ursache-Wirkung-Zusammenhänge.“
Eine Frage der Polarisierung: Wer misstraut dem Gesundheitssystem und der Regierung?
Das zuletzt erschienene Paper “Heilmittel oder Zankapfel? Vertrauen in das Gesundheitssystem während der Corona-Krise” untersucht die Wahrnehmungen der BürgerInnen zur Leistungsfähigkeit und Fairness des Gesundheitssystems und wie sehr die BürgerInnen dem Gesundheitssystem und dem Staat vertrauen.
Antworten liefert Prof. Dr. Marius R. Busemeyer, Politikwissenschaftler und Experte für Sozialpolitikforschung. Die Parteinähe sei bei der Einschätzung der BürgerInnen entscheidend. Wer der “Alternative für Deutschland” (AfD) nahe stehe, misstraut dem Gesundheitssystem und der Informationspolitik der Bundesregierung weitaus häufiger als Menschen mit anderer parteipolitischer Ausrichtung. Geschlecht, Einkommen, Alter und Bildungsstand der Befragten spielen ebenfalls eine – wenn auch geringere – Rolle. Die Studie belege eine Polarisierung zwischen einer misstrauisch-unzufriedenen Minderheit und dem mehrheitlichen Rest der Bevölkerung.
Medien wie n-tv.de berichten, dass über die Informationspolitik der Bundesregierung “Unzufriedenheit herrsche” und “lediglich 48,2 Prozent” der Meinung seien, dass die “Bundesregierung ‘ziemlich’ oder ‘sehr wahrheitsgetreu’ informiert habe”. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland schreibt:
“Insgesamt vertritt eine Mehrheit der Befragten die Meinung, die Regierung sei schlecht auf die Pandemie vorbereitet gewesen.„