Viele Menschen in strukturschwachen Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler fühlen sich von der Politik verlassen. Das ist das Ergebnis der ersten deutsch-französischen Vergleichsstudie ihrer Art.
Viele Menschen in strukturschwachen Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler fühlen sich von der Politik verlassen. Das ist das Ergebnis der ersten deutsch-französischen Vergleichsstudie ihrer Art: 500 Haustürgespräche zeigen auf, dass oftmals sozialpolitische Bedingungen – und nicht etwa Fremdenfeindlichkeit – Treiber für Unmut und Zukunftsängste sind. Zentrale rechtspopulistische Narrative verfangen weit weniger als angenommen. Weitere Hauptergebnisse der wurden heute vom Think-Tank Das Progressive Zentrum in Berlin vorgestellt.
Auf der Sonderseite zur Studie finden Sie die Publikation sowie
Hintergründe und den begleitenden Film:
In 500 Haustürgesprächen in 12 strukturschwachen Gebieten in Deutschland und Frankreich wurde ein detailliertes Bild der gesellschaftspolitischen Stimmungslage gezeichnet. Für Deutschland ergeben sich drei zentrale Deutungsmuster der dort lebenden Menschen: Erstens, eine “vergleichende Abwertungslogik” gegenüber Migranten nach der die Abwertung Anderer die Folge eines persönlichen Benachteiligungsgefühls ist. Zweitens, eine Verweigerung und falsche Priorisierung von Problemen durch die Politik, etwa dadurch ausgelöst, dass Außen- oder Migrationspolitik der Lösung eigener Probleme vorangestellt werden. Drittens, ein Wegbrechen von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur, das die Menschen zum Beispiel in Form von eingeschränkten Busfahrplänen oder schließender Geschäfte am eigenen Leib miterleben.
Der Autor der Studie, Johannes Hillje, Politik- und Kommunikationsberater sowie Policy Fellow bei Das Progressive Zentrum fasst die Erkenntnisse so zusammen: “Es herrscht ein Gefühl des Verlassenseins, von fehlender politischer, aber auch medialer Repräsentation der eigenen Probleme. Die Abwertung von Migranten folgt einer eigenen Abwertungserfahrung, die auf mangelnder Problemlösung durch die Politik basiert. Auf der fernen bundespolitischen Ebene identifizieren die Befragten Migration als größtes Problem, auf der persönlichen Ebene sind es jedoch v.a. sozialpolitische Defizite, welche die Menschen umtreiben. Niedrige Löhne und das Verschwinden von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur sind die realen Treiber von Zukunftssorgen.” Eine wichtige Erkenntnis sei außerdem, dass zentrale Narrative von Rechtspopulisten auf weniger Resonanz stoßen als meist angenommen. “Eine drohende Islamisierung, Europaskepsis oder pauschale Medienkritik haben wir in den Gesprächen kaum gehört. Im Gegenteil: Europa wird oftmals als Teil der Lösung denn als Problem gesehen”, sagt Hillje.
Aus Sicht des Autors kann auf fünf Handlungsfeldern das Vertrauen “der Verlassenen” zurückgewonnen werden: “Solidarität nach innen ist die Voraussetzung für Solidarität nach außen. Solange Menschen eigene Zukunftsängste haben müssen, wird es eine Skepsis gegenüber Hilfeleistungen für Fremde geben.” Außerdem müsse die Sozial- und Verkehrsinfrastruktur zur Förderung von Chancengleichheit gestärkt und der Strukturwandel gesellschaftsverträglich gestaltet werden. Der Autor appelliert zudem an die politischen Parteien: “Gerade die Volksparteien müssen sich auf lokaler Ebene wieder zivilgesellschaftlich nützlich machen, um Vertrauen zurück zu erlangen. Ich erwarte auch mehr Selbstbewusstsein gegenüber rechtspopulistischen Parolen, die oftmals zwar auf mediale Resonanz stoßen, aber von vielen Bürgern nicht übernommen werden.”
Elf offene Fragen, 12 besuchte Kommunen, 25 Minuten durchschnittliche Gesprächslänge, 500 Haustürgespräche, 5.102 Haustürbesuche, 55.000 aufgezeichnete Wörter im Datensatz. Die “Rückkehr zu den politisch Verlassenen” ist die erste qualitative Studie, die einen deutlichen Fokus auf jene Regionen legt, in welchen bei den vergangenen Wahlen der Front Nationale (FN) in Frankreich und die Alternative für Deutschland (AfD) hohe Stimmanteile einfahren konnten. Sie soll die Debatte über die „Antwort“ auf den Rechtsruck unterstützen und dient als qualitative Ergänzung zu repräsentativen Studien auf dem Gebiet.
“Die Wahlen in den beiden europäischen Kernländern boten uns die Möglichkeit, gesellschaftspolitische und kulturelle Entwicklungen in den Regionen, in denen sich die gesellschaftliche Spaltung überdurchschnittlich stark zeigt, in einem besonderen Umfeld zu verfolgen. Das Problem ist altbekannt: zu oft wird über diese Menschen gesprochen, statt mit ihnen. Wir sind vor Ort ins Gespräch gegangen, um besser zu verstehen, wie die Leute auf ihre Situation und die des Landes schauen”, so Philipp Sälhoff, Programmleiter Internationale Beziehungen bei Das Progressive Zentrum und Leiter des Projekts. “Wichtig waren dabei offene Fragen, die nicht unterbewusste Assoziationsketten in Gang setzen und ein starker Fokus auf das unmittelbare Lebensumfeld der Menschen.”
Die Orte der Befragung waren:
Deutschland
- Berlin Marzahn-Hellersdorf
- Eisenhüttenstadt
- Fürstenwalde-Molkenberg
- Duisburg-Neumühl
- Gelsenkirchen-Ost
- Datteln-Meckinghoven
Frankreich
- Calais-Matisse-Toulouse-Lautrec
- Loon-Plage-Les Kempes
- Tournehem-sur-la-Hem
- Marseille 14-Centre Urbain
- Marignane-La Calagovière-Parc Camoin
- Arles-Mas-Thibert
Durchschnittsalter der Befragten: 48,8 Jahre
Geschlechterverteilung: 52% Männer, 48% Frauen
Befragungszeitraum: 05. – 14. September 2017 (Deutschland), 25. – 29. September 2017 (Frankreich)
Anzahl der Gespräche: 500
Die Gespräche wurden mit dem französischen Kampagnentechnologie-Unternehmen „Liegey Muller Pons“ durchgeführt. Die Studie wurde durch das Auswärtige Amt gefördert.