Die Große Koalition wird das heiße Eisen Europa nicht mehr los. Mit großer Beständigkeit streiten die Regierungsparteien über Lösungen und Antworten auf die europäischen Krisen unserer Zeit. Jüngstes Beispiel: der Zwist zwischen SPD-Parteichef Sigmar Gabriel und dem Europa-Doyen der CDU Wolfgang Schäuble. Streitpunkt ist diesmal die Ausrichtung der künftigen Europapolitik in der post-Brexit-Ära.
In einem Interview mit der Wochenzeitung Welt am Sonntag machte der CDU-Politiker deutlich, dass im Bedarfsfall einzelne Regierungen europapolitisch voranschreiten müssten: „Und wenn die Kommission nicht mittut, dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand, lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen.“ Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Gabriel warf seinem Kabinettskollegen vor, der Spaltung Europas Vorschub zu leisten. Stattdessen schlug der Sozialdemokrat eine Verkleinerung der EU-Kommission vor sowie neue Wachstumsimpulse für die nach wie vor kriselnde Wirtschaft in den südeuropäischen Schuldnerstaaten. Dem ging ein gemeinsames Grundsatzpapier voran von Sigmar Gabriel und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz. Darin fordern sie einen kompletten Neustart in der Europapolitik, insbesondere in den Bereichen Wachstums-, Investitions-, Sozial- und Außenpolitik.
Integrationisten vs. Intergouvernementalisten?
Auf den ersten Blick scheint in dieser Auseinandersetzung die großkoalitionäre Rollenverteilung klar: auf der einen Seite Schäuble, der entgegen seiner persönlichen Überzeugung eine Vertiefung der europäischen Integration ablehnt und das Heft des Handelns in den Händen nationaler Regierungen sieht. Auf der anderen Seite führende SPD-Politiker, welche die durch den Brexit verursachte europäische Identitätssuche mit einer verstärkten europapolitischen Zusammenarbeit beantworten möchten.
Bei genauerem Hinsehen scheint dieser Konflikt jedoch konstruiert und die Positionen der beiden Seiten keineswegs unähnlich. Denn Gabriel und Schulz musste klar sein, dass ihr Papier mit dem weitreichenden Titel „Europa neu gründen“ sicherlich nicht den Konsens aller EU-Mitgliedsländer finden würde. Im besten anzunehmenden Fall würden sich einzelne, willige EU-Staaten zusammenfinden, um die Forderungen des sozialdemokratischen Grundsatzdokuments in die Praxis umzusetzen. Kein unwahrscheinliches Szenario, bastelt Gabriel doch seit einigen Wochen mit den sozialdemokratischen und sozialistischen Regierungschefs in Frankreich, Italien und Griechenland an einem neuen, innereuropäischen Bündnis, das der EU insgesamt einen neuen, sozialpolitischen Anstrich verleihen soll. Inhaltlich steht Schäuble einem solchen Ansinnen diametral entgegen, strukturell aber keineswegs, denn für beide politischen Lager gilt: sie haben eingesehen, dass die europäische Konsensfindungsmaschinerie an ihr Ende gelangt ist. Wenn sich europapolitisch etwas tut, dann nur, wenn eine Gruppe von Mitgliedsländern das Integrationstempo erhöht.
Eine solche Denkweise ist keineswegs revolutionär. Im Gegenteil. Ob Kerneuropa, Europa der zwei Geschwindigkeiten, Europa der konzentrischen Kreise oder Europa à la carte: die Diskussion über abgestufte und flexible Formen der Integration ist fast so alt wie die EU selbst. Doch nicht nur das. Mit der sogenannten Verstärkten Zusammenarbeit (VZ) gibt es auch eine klar definierte europarechtliche Grundlage. In den Artikeln 20 sowie 326 bis 329 des EU-Vertrages ist u.a. folgendes geregelt: die VZ erfolgt in Politikfeldern, die zwar in den Kompetenz-, nicht aber in den Zuständigkeitsbereich der EU fallen. Sie darf den Zielen und Interessen, dem Binnenmarkt und dem Acquis communautaire der EU nicht widersprechen, muss allen EU Mitgliedstaaten offenstehen und wird von einer Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten beantragt und durchgeführt. Wer voranschreiten will, kann dies also durchaus tun. Eine Veränderung der EU-Verträge ist dafür keineswegs notwendig.
Verstärkte Zusammenarbeit für Europa – ein Ausweg aus der integrationspolitischen Sackgasse?
Die weitaus wichtigere Frage ist also nicht ob, sondern wie diese Form der abgestuften Integration geschehen soll. Entscheidend werden hier insbesondere zwei Aspekte sein, die es nun zu verhandeln gilt:
Erstens: Mit welchen Themen soll sich eine wie auch immer geartete VZ befassen? Die Nutzung der VZ-Klausel erfolgte bisher in den sehr spezifischen Feldern Patent- und Scheidungsrecht. Das wird nicht reichen, um europäische Politik von Grund auf neu zu denken. Dabei mangelt es nicht an möglichen Handlungsfeldern wie etwa der Einführung eines europaweiten Mindestlohnkorridors, Maßnahmen gegen die grassierende Jugendarbeitslosigkeit, dem Kampf gegen Steuerflucht oder gemeinsame Schritte in der Außen- und Verteidigungspolitik. Doch gleichzeitig gilt: Die Fokussierung der VZ auf eines oder mehrere dieser Themen kommt einer inhaltlichen Grundsatzentscheidung für die kommenden Jahrzehnte gleich. Dem liegt die Frage zugrunde: In Welchem Europa wollen wir eigentlich leben? Anders gesagt: Der VZ muss eine Reflexionsphase vorausgehen, die insbesondere den vermeintlichen Konflikt zwischen Unterstützern der Investitionspolitik und Befürwortern der Austeritätspolitik ein für alle Mal auflöst.
Dies führt direkt zur zweiten Kernfrage: Welche Länder beteiligen sich an einer VZ? Merkel und Schäuble haben mit Großbritannien einen engen Verbündeten verloren, der ihre Austeritätspolitik in den vergangenen Jahren loyal unterstützt hat. Stärken sie nun das informelle Bündnis mit den verbleibenden Fürsprechern ihres Sparkurses, also insbesondere den Niederlande, Schweden und den baltischen Staaten? Oder wird sich der SPD-Vorsitzende durchsetzen mit seinem Plan, die südeuropäischen Länder hinter einer konsequenten Investitionspolitik zu vereinen? Im Sinne des Alliance Building wird hier entscheidend sein, welches der beiden politischen Lager über mehrheitsfähige Konzepte und tragfähige Netzwerke mit europäischen Regierungen und Parteien verfügt. Für den Moment gilt: das Brexit-Referendum hat den Anhängern einer europäischen Investitions- und Sozialpolitik Auftrieb verliehen. Die Frage ist, ob dieser gemeinsame Nenner ausreicht, um Eckpfeiler der Europäischen Union auch im Rahmen der VZ neu auszurichten.
So bleibt festzuhalten: die europapolitischen Wege führen mal wieder nach Berlin. Bei der Reform relevanter Politikbereiche der EU – sei es auch nur vorangetrieben im kleinen Kreis von einer Gruppe von Mitgliedsstaaten – wird Deutschland eine führende Rolle spielen. Dies macht die Europafrage zu einem nicht unwichtigen Teil deutscher Innenpolitik. Erst nach der Bundestagswahl 2017 wird sich entscheiden , mit welchen wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen sich die Bundesrepublik für einen institutionellen Umbau der Europäischen Union einsetzt.