Erstes European Policy Lab: Wie stabilisieren wir den europäischen Wirtschaftsraum?

ExpertInnen-Gespräch zu inklusivem Wachstum für Europa

Zum Auftakt des Projekts „Inklusives Wachstum für Europa“ fand am 6. Mai das erste European Policy Lab statt. Zusammen mit der Bertelsmann Stiftung lud Das Progressive Zentrum ExpertInnen im Bereich europäischer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ein. Gemeinsam diskutierten die TeilnehmerInnen die zentralen Herausforderungen und Potenziale inklusiven Wachstums in der Europäischen Union. Besonderer Fokus lag dabei auf Reformen zur Stabilisierung des europäischen Wirtschaftsraums.

Ein wirtschaftlich starkes Europa ist Grundvoraussetzung für Stabilität und Zusammenhalt. Angesichts des wachsenden Populismus und dem Erstarken europakritischer Parteien muss die Europäische Union jedoch mehr denn je unter Beweis stellen, dass sie für alle – und gerade auch für diejenigen, die sich abgehängt fühlen oder tatsächlich abgehängt sind – einen greifbaren Mehrwert bietet. Die European Policy Labs von Das Progressive Zentrum und der Bertelsmann Stiftung möchten neue Impulse in der Debatte über inklusives Wachstum in der EU setzen und so auf einen besseren Brückenschlag zwischen der Stärkung der europäischen Wirtschaft und einem soziale(re)n Europa hinwirken.

Das erste European Policy Lab drehte sich um die Frage, welche Reformen nötig und möglich sind, um die EU wirtschaftspolitisch zu stabilisieren und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber externen Schocks zu erhöhen. Prof. Dr. Anke Hassel, Professorin für Public Policy an der Hertie School of Governance, Prof. Dr. Almut Balleer, Professorin für Empirische Wirtschaftsforschung an der RWTH Aachen, sowie Jakob von Weizsäcker, Chefökonom und Leiter der Grundsatzabteilung im Bundesministerium der Finanzen, hielten Inputs zu den Herausforderungen, Reformmöglichkeiten und Instrumenten der europäischen Wirtschaftspolitik und der Stabilisierung der Arbeitsmärkte. Dr. Katharina Gnath, Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung, moderierte die Diskussionsrunde mit ExpertInnen aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft. Das European Policy Lab fand unter der Chatham House Rule statt.

Die zentralen Herausforderungen: Heterogenität der Lohnniveaus, Governance-Defizit und mangelnde Umverteilungsmöglichkeiten

Als eine der zentralen Herausforderungen für die wirtschaftliche Stabilität der Währungsunion wurde die Heterogenität der Lohnniveaus innerhalb der EU identifiziert. Während die osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU in den letzten Jahrzehnten in Sachen Wirtschaftsleistung und Lohnniveau zu ihren westlichen Nachbarländern aufschließen konnten, sieht sich der europäische Wirtschaftsraum mit einer wachsenden Divergenz zwischen den nord- und südeuropäischen Mitgliedsländern konfrontiert. Die Teilnehmenden betonten, dass sich der Abstand auch großer Volkswirtschaften wie Italien und Frankreich im Pro-Kopf-Einkommen gegenüber Deutschland und der „Neuen Hanse“ (skandinavische und baltische Mitgliedsländer sowie Irland) in den letzten Jahren vergrößert habe.

Langfristig sei es für die Stabilität des Wirtschaftsraums der EU sowie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unerlässlich, dass erfolgreiche Wachstumsmodelle für die binnenmarktorientierten südeuropäischen Länder gefunden werden. Zudem müssten exportorientierte Länder wie Deutschland ihr Wirtschaftsmodell inklusiver gestalten – beispielsweise durch eine Reduktion des Niedriglohnsektors -, um so den Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands einzudämmen. Dadurch wiederum könnten die Handelsdefizite südeuropäischer Staaten minimiert werden. Viele Hebel zur Stabilisierung des europäischen Wirtschaftsraums lägen also im nationalen Kompetenzbereich, so die Teilnehmenden.

Darüber hinaus sei es notwendig, die wirtschaftspolitische Governance der EU zu stärken. Aktuell sei hier ein Auseinanderfallen von politischer Lenkungsfähigkeit und ökonomischer Notwendigkeiten zu beobachten. Veränderungen der EU-Verträge seien wichtig, aufgrund mangelnden politischen Willens aber in naher Zukunft nicht zu erwarten. Im Policy-Bereich hingegen bestehe durchaus die Möglichkeit, sich auf europäischer Ebene auf Lösungen wie beispielsweise einen europäischen Mindestlohn oder einen „rainy day fund“ zu einigen, so einige Teilnehmende. Grundlegend sei hierfür allerdings, dass gerade große Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Haltung zu Grundfragen in der europäischen Wirtschaftspolitik entwickeln. Mit Blick auf die sozialstaatliche Dimension Europas wiesen die Teilnehmenden darauf hin, dass auf europäischer Ebene in naher Zukunft keine mit nationalstaatlichen vergleichbaren Umverteilungsmechanismen geschaffen werden würden.

Fokus auf „pre-distribution“ und europäische Stabilisierungsinstrumente

Angesichts der Tatsache, dass die Umverteilungsmöglichkeiten zwischen europäischen Staaten also deutlich schwächer ausgeprägt sind als innerhalb dieser, verwiesen die Teilnehmenden auf die zentrale Bedeutung des Konzepts des inklusiven Wachstums. Gerade auf europäischer Ebene sei es entscheidend für die Sicherstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, den europäischen Wirtschaftsraum so zu gestalten, dass bereits vor einer Umverteilung mehr Menschen und Orte in höherem Maße von wirtschaftlichem Wachstum profitieren. Neben der „re-distribution“ spiele also auch die „pre-distribution“ eine zentrale Rolle für die Herstellung von Konvergenz.

Grundvoraussetzung für ein inklusives Wachstum in der EU – darüber bestand Einigkeit – sei ein stabiler Wirtschaftsraum, der auch externe Schocks abfedern könne. Vor dem Hintergrund, dass sich die Finanz- und Eurokrise vor allem in Form hoher Arbeitslosenquoten in Südeuropa auswirkte, setzte sich die Diskussionsrunde vertieft mit zwei Instrumenten zur Stabilisierung der Arbeitsmärkte auseinander: eine europäische Arbeitslosen-Rückversicherung und ein europäisches Kurzarbeitergeld.

In vielen europäischen Mitgliedsländern, insbesondere Griechenland, wurde der Sozialstaat während der Krise zurückgedrängt, also just dann, als er am meisten gebraucht wurde. Eine europäische Arbeitslosen-Rückversicherung könne dazu dienen, so einige Teilnehmende, einer solchen Entwicklung in Zukunft vorzubeugen, indem sie im Kri­sen­fall dem Arbeits­lo­sen­sys­tem des betrof­fe­nen Mit­glied­staats zur Seite springt. Eine solche europäische Arbeitslosen-Rückversicherung würde demnach ergänzend zu einer Selbstversicherung der Mitgliedstaaten der EU wirken. In diesem Zusammenhang wurde zudem die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit es sinnvoll sei, dass sich im Sinne einer variablen Geometrie zunächst nicht alle Mitglieder der Eurozone an der Arbeitslosen-Rückversicherung beteiligten.

Das Kurzarbeitergeld könne insofern komplementär zur Arbeitslosen-Rückversicherung wirken, so einige Teilnehmende, als es einen kurzfristigen staatlichen Ausgleich des Verdienstausfalls darstellt und so die Arbeitslosenquote in Phasen des Abschwungs verringere. Effektiv sei dieses Instrument vor allem dann, wenn Unternehmen von der Möglichkeit einer Umstellung auf Kurzarbeit wüssten und das Instrument als Übergangslösung und nicht zur künstlichen Aufrechterhaltung von unproduktiven Wirtschaftszweigen eingesetzt würde.

Entscheidend für den Erfolg dieser fiskalpolitischen Instrumente auf EU-Ebene sei neben der technischen Umsetzung auch das politische Framing. Teilnehmende wiesen darauf hin, dass viele europäische BürgerInnen einer gemeinsamen Sozialpolitik in Europa skeptisch gegenüberstünden. Vor diesem Hintergrund sei es notwendig, die Vorteile von „Risiko-Pooling“ noch stärker herauszustellen und die Vorschläge gegebenenfalls mit populäreren Projekten wie der Bereitstellung von europäischen öffentlichen Gütern zu verknüpfen. Es wurde schließlich darauf hingewiesen, dass die offene Methode der Koordinierung zur Stärkung der sozialen Säule in der EU nützlich sein könnte.

Die zentralen Thesen des ersten European Policy Labs

  • Innerhalb der bestehenden EU-Verträge gemeinsame Haltungen zu Grundfragen der europäischen Wirtschaftspolitik finden
  • Lohnkonvergenz fördern: Passende Wachstumsmodelle für binnenmarktorientierte südeuropäische Mitgliedsländer finden und den Leistungsbilanzüberschuss exportorientierter Staaten verringern
  • Den Fokus auf „pre-distribution“ legen: Wirtschaftliches Wachstum in der EU inklusiver gestalten, statt nur auf Umverteilungsmaßnahmen zu setzen
  • Instrumente zur Krisenfestigkeit der Eurozone etablieren: Eine Arbeitslosen-Rückversicherung und die Einführung eines Kurzarbeitergeldes können die Auswirkungen eines konjunkturellen Abschwungs auf den europäischen Arbeitsmärkten verringern

Auftakt einer umfassenden Debatte zu inklusivem Wachstum in Europa

Die Diskussion mit ExpertInnen aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung bildete den Auftakt für das Projekt „Inklusives Wachstum für Europa“ von Das Progressive Zentrum und der Bertelsmann Stiftung. In den folgenden European Policy Labs werden die Themenbereiche „Wachstum und Produktivität“ sowie „Mindeststandards und Konvergenz“ diskutiert.

Die Workshop-Reihe schließt damit an das Vorgängerprojekt des Progressiven Zentrums “Neue Wege zu inklusivem Wachstum – Impulse für die Soziale Marktwirtschaft von morgen“ sowie die fünfteilige Essay-Reihe „Soziale Marktwirtschaft: All inclusive?“ mit der Bertelsmann Stiftung an.

Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden und der Bertelsmann Stiftung für einen inspirierenden und erkenntnisreichen Austausch und freuen uns auf die nächsten European Policy Labs.

Autor:innen

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.
Sophie Pornschlegel ist Policy Fellow am Progressiven Zentrum und arbeitet derzeit als Senior Policy Analyst am European Policy Centre (EPC) sowie als Projektleiterin für Connecting Europe, eine gemeinsame Initiative des EPC mit der Stiftung Mercator.

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