Hätte man die letzten vier Jahre in einer Nachrichtenisolation verbracht, man müsste nur die Koalitionsverträge von 2013 und 2018 nebeneinander legen, um zu verstehen, was in der Zwischenzeit im Land passiert ist. Eine Sprachanalyse des Migrationskapitels.
Vergleicht man die Kapitel zur Migrationspolitik der beiden letzten GroKo-Abkommen, so ist die Zeitenwende unübersehbar. Zweifelsohne hat sich die Lage durch den Zuzug von mehr als einer Million Menschen tiefgreifend verändert. Neue Herausforderungen erfordern neue Maßnahmen. Doch Instrumente wie die Begrenzung des Familiennachzugs, effizientere Asylverfahren und die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten sind nur die eine Seite des politischen Handelns. Die andere Seite ist die Sprache, mit der diese Maßnahmen vermittelt werden. Sie gibt administrativen Vorgängen eine politische Deutung, fördern kollektive Sinngebung, transportiert ein gesellschaftliches Selbstverständnis, benennt Werte, schafft Identitäten – kurzum: Sprache ist der Soundtrack von Politik.
Gleich der erste Satz im Migrationskapitel des neuen Koalitionsvertrags setzt einen gänzlich anderen Ton als sein Vorgänger. 2013 hieß es dort: „Deutschland ist ein weltoffenes Land“. 2018 steht an dieser Stelle: “Deutschland bekennt sich zu seinen bestehenden rechtlichen und humanitären Verpflichtungen“. Das Selbstverständnis von Weltoffenheit wurde durch die Selbstverständlichkeit der Rechtstreue ersetzt. Dabei zeigte eine repräsentative Umfrage der „ZEIT“ erst kürzlich, dass die Gesellschaft „in ihrer großen Mehrheit weltoffen ist, tolerant und liberal“. 71 Prozent geben an, dass Flüchtlinge für sie zum „Wir“ in Deutschland gehören.
Im Koalitionsvertrag von 2013 folgten Sätze wie: „Wir begreifen Zuwanderung als Chance“ oder „Migranten leisten einen bedeutenden Beitrag zum Wohlstand und zur kulturellen Vielfalt unseres Landes“. 2018 folgt nach der rechtlichen Selbstverständlichkeit eine ausführliche Selbstbeschäftigung. Es geht erst einmal um „uns“. Man sei stolz auf die Integrationsleistung des Landes, aber die „Integrationsfähigkeit“ dürfe nicht überfordert werden. Aufschlussreich ist, was die Großkoalitionäre unter Integrationsfähigkeit verstehen: Sie bemesse sich nicht nur am Gelingen der Aufnahme von Neuankömmlingen, „vielmehr beinhaltet sie auch unseren Anspruch, die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen gerade angesichts der zu bewältigenden Zuwanderung zu berücksichtigen (Versorgung mit Kita-Plätzen, Schulen, Wohnungen etc.)“.
Das Wort „angesichts“ gibt hier den entscheidenden semantischen Ausschlag. Es definiert eine Gleichzeitigkeit, stellt die „hier lebenden Menschen“ den Zuwanderern gegenüber – mehr noch, es stellt diese beiden Gruppen in Konkurrenz zueinander, eben von Angesicht zu Angesicht. An dieser Grundkonstellation der rechtspopulistischen Ideologie („das wahre Volk“ vs „die Fremden“) dockte Sigmar Gabriel schon 2016 an, als er ein Ausgabenpaket für Deutsche vorschlug, das dem Eindruck entgegenwirken sollte „für die Flüchtlinge wird alles getan, für uns nichts“. Mit der Formel „für jedes Flüchtlingsheim gibt es ein Schwimmbad“ erreichte Gabriel mental genau den gegenteiligen Effekt: Er bestätigte die Idee, dass neue und alte Mitbürger um dieselben Aufmerksamkeits- und Geldkontingente der Politik konkurrierten, die alte Leier der Rechtspopulisten.
Mindestens aus zwei Gründen ist dies politisch nicht schlüssig: Erstens, hat Gabriel schlichtweg nur eingestanden, dass die Politik bestimmte Regionen (vor allem ländliche Räume) und Bevölkerungsgruppen (etwa Geringverdiener und Alleinerziehende) jahrzehntelang vernachlässigt hat und das Hinwegsehen über dieses Versäumnis nun wegen der Ausgaben für Geflüchtete nicht mehr rechtfertigen kann. Zweitens, wirkten 2016 laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Ausgaben für Flüchtlinge wie ein Konjunkturprogramm: Die Wirtschaft wuchs um zusätzliche 0,3 Prozent, davon profitierten lokale Unternehmen und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Staat investierte auch wieder stärker in den sozialen Wohnungsbau, was langfristig nicht nur Flüchtlingen, sondern den Einheimischen zugute kommt.
Das Konkurrenzdenken überzeugt volkswirtschaftlich also nicht – doch es trägt eben dem Zeitgeist Rechnung, der sich in den vergangenen Jahren mit Unterstützung der AfD etabliert hat. 2013 hieß es im Koalitionsvertrag übrigens: „Integration ist ein Prozess, der allen etwas abverlangt. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Heute soll offenbar nur noch den Hinzukommenden etwas abverlangt werden.
Im Vertrag der Großen Koalition von 2013 finden sich darüber hinaus eine Menge Formulierungen und Begriffe, die man mittlerweile als „verbrannt“ bezeichnen könnte: „Vielfalt als Chance“, „Diversity“, „interkulturelle Öffnung von Staat und Gesellschaft“, „Willkommenskultur“. All das trauen sich selbst die Bündnisgrünen heute kaum noch öffentlich zu sagen. Nicht nur würde prompt der Hohn von ganz rechts folgen – auch Politiker wie eben jener Sigmar Gabriel finden mittlerweile, dass das Jahr 2015 als „Sinnbild für die Extremform von Multi-Kulti, Diversität“ stehe.
Wenn man den neuen Koalitionsvertrag liest und ihn mit dem vorherigen der gleichen Parteien vergleicht, dann muss man feststellen: Die deutsche Einwanderungsgesellschaft hat heute keine eigene Sprache. Keine Begriffe, die Brücken bauen, um Unterschiede anzuerkennen, wertzuschätzen und miteinander zu verbinden. Umso mehr hat die gesellschaftliche Spaltung eine Sprache – und die ist omnipräsent. Es ist verständlich, dass man nach den Ereignissen der vergangenen Jahre Migration nicht naiv beklatschen möchte, aber dennoch ist Diversität eine gesellschaftliche Realität und braucht deshalb auch seine sprachlichen Ausdrucksformen – gerade weil Asyl und Zuwanderung zwei Paar Schuhe sind.
Im neuen Koalitionsvertrag wird eine Sprache für die Einwanderungsgesellschaft aus Angst vor dem rechtspopulistischen Shitstorm vermieden. Und weil die Deutungshoheit über das Thema so weit nach rechts gerückt ist, traut man sich nicht einmal mehr das Leid von Flüchtlingen zu benennen – den eigentlichen Grund also, warum es überhaupt eine Asylpolitik gibt. Menschliches Elend wird 2018 technokratisch verklausuliert. Statt von Menschen zu sprechen, denen in der Heimat politische Verfolgung, Todesstrafe, Folter oder andere Gräuel drohen, redet die GroKo von „subsidär Schutzbedürftigen“. Man braucht kein Kognitionswissenschaftler sein, um zu verstehen, dass der Begriff „subsidär Schutzbedürftige“ deutlich weniger die Hilfsbereitschaft einer Gesellschaft auslöst als etwa die Formulierung „Menschen in Todesgefahr“. In ähnlicher Weise spricht man lieber kühl von „Familiennachzug“ als positiv gedreht von „Familienvereinigung“. Vor lauter Versessenheit auf die Belastbarkeit der Gesellschaft, ignoriert die Große Koalition die Empathiefähigkeit der Menschen.
Die Nüchternheit bei emotionalen Themen paart sich mit Euphemismus bei menschlich harten Punkten: Die neuen Asylzentren, von denen schon ein Prototyp mit Stacheldraht in Bamberg steht, werden kurz „ANkER“ genannt – ein wahrlich kreatives Akronym für „Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen“.
Niemand kann bestreiten, dass nach 2015 Maßnahmen der Migrationssteuerung geboten waren. Unterm Strich ist es aber der sprachliche Ausgleich, der im Kapitel zur Migrationspolitik des neuen Koalitionsvertrags fehlt: Die große Mehrheit der Deutschen ist weiterhin bereit, Schutzsuchenden zu helfen. Solidarität und Humanität sind Werte der Mehrheitsgesellschaft. Viele Deutsche leben noch immer die „Willkommenskultur“, wenn man sich die unzähligen Ehrenamtlichen im Land anschaut. Für diese Menschen und die ohnehin reale Einwanderungsgesellschaft hat der Koalitionsvertrag kein sprachliches Angebot. Stattdessen spricht er in Teilen die Sprache der Anderen: der AfD und ihren Spaltungshelfern.
Der Artikel wurde zuerst am 10.02.2018 bei Carta veröffentlicht.