Mehr Kooperation wagen

Warum Frankreich sein politisches System reformieren muss

Frankreich ist gespalten. Das liegt auch am französischen Mehrheitswahlprinzip, das die politische Macht auf den Wahlsieger konzentriert. Die anstehenden Parlamentswahlen könnten der Auftakt sein für eine institutionelle Reform und mehr Kooperation – solange Macron keinen klaren Wahlsieg davonträgt.

Einsame Entscheidungen, fehlender sozialer Dialog, keine Einbeziehung der Bürger:innen: Mehr als einmal ist Emmanuel Macrons selbstherrlicher Regierungsstil auf Ablehnung gestoßen und hat Protestbewegungen wie die „Gelbwesten“-Revolte ausgelöst. Indessen weist das Problem weit über den alten und neuen französischen Präsidenten hinaus. Er ist nicht der erste Amtsinhaber, der eine derartige Politik ohne Bodenhaftung praktiziert hat – und dem sie auf die Füße gefallen ist. 

Denn es sind in erster Linie systemische Gründe, die französische Staats- und Regierungschefs immer wieder dazu verleiten, kraft ihrer Mehrheit „durchzuregieren“. Dazu zählen institutionelle Faktoren wie das Übergewicht der Exekutive gegenüber dem Parlament, die Machtfülle, die dem Präsidenten von der Verfassung der V. Republik verliehen wird, der Zentralismus oder das auf fast allen Ebenen angewandte Mehrheitswahlprinzip. Auch die französische politische Kultur trägt dazu bei, dass Frankreich als typischer Fall einer Mehrheitsdemokratie bezeichnet werden kann. Die Macht ist stark auf den jeweiligen Wahlsieger konzentriert. Dieser verfügt über zahlreiche Befugnisse, die ihm die Möglichkeit geben, weitreichende politische Beschlüsse durchzusetzen, ohne vom Parlament oder von anderen Akteuren zu Verhandlungen oder Kompromissen gezwungen zu werden. Echte, auf Augenhöhe ausgehandelte Koalitionen sind dieser Mehrheitsdemokratie fremd. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Präsident nach seiner Wahl auch in den anschließenden Parlamentswahlen eine eigene Mehrheit gewinnt, wie dies 2007, 2012 und 2017 der Fall war. Dann gibt es kaum Gegengewichte, die ihn zu Verhandlungen, Konzessionen oder Kompromissen zwingen könnten. 

Vertikales Regieren – das Problem steckt im System

Eine wichtige Rolle spielt das Mehrheitswahlprinzip, das in allen wichtigen französischen Wahlen zur Anwendung kommt. Während im ersten Wahlgang die außerordentlich große Vielfalt des politischen Spektrums zum Ausdruck kommt, wird diese im zweiten Wahlgang drastisch reduziert, weil – wie in der Präsidentschaftswahl – nur noch zwei Kandidaten antreten und der Sieger die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Das Wahlsystem führt in der Regel zu klaren Mehrheiten, die aber auch künstlich sind. Genau hier liegt der Pferdefuß: Macron hatte 2017 im ersten Wahlgang gerade ein Viertel der Stimmen erhalten; 2022 waren es 28%. Beide Male verdankte er seinen überzeugenden Sieg gegen die rechtsextreme Kandidatin in der Stichwahl zahlreichen Wähler:innen, die seine Politik ablehnen, aber Schlimmeres verhindern wollten. Seine Macht steht insofern auf tönernen Füßen. Macron erlag aber wie vor ihm schon andere der Versuchung, trotz dieser eher schmalen Wählerbasis seine volle Machtfülle auszuschöpfen, als ob eine absolute Mehrheit der Wähler hinter seiner ehrgeizigen – und in Wirklichkeit höchst umstrittenen – Reformpolitik stände.

Kehrseite dieses vertikalen Systems ist eine tiefe Vertrauenskrise zwischen Bürger:innen und den als bürgerfern und abgehoben kritisierten politischen Eliten. Parteien, Verbände oder dezentrale Gebietskörperschaften sind aufgrund ihrer notorischen Schwäche nicht in der Lage, Kritik oder alternative Positionen in die politische Willensbildung einzubringen. Da der oppositionelle Druck sich institutionell kein Gehör verschaffen kann, verlagert er sich regelmäßig auf die Straße. Zuletzt waren es die massiven Revolten der Gelbwesten-Bewegung, die 2018-19 das ganze Land erfassten und den Präsidenten an den Rand einer Regierungskrise brachten. Diese Protestbewegung thematisierte neben sozialen Problemen gerade die schweren Funktionsmängel der V. Republik, die abgehobene Art des Regierens, die Verkümmerung des sozialen Dialogs und die fehlende Einbeziehung der Bürger und der Zivilgesellschaft. 

Eine „neue Methode“ des Regierens

Insofern wird sich einiges ändern müssen; das weiß auch der wiedergewählte Präsident. Aber was?
Macron selbst hat 2019 nach den Protesten der Gelbwesten verschiedene Elemente der Bürgerbeteiligung lanciert – eine aufwändige Aktion namens „große nationale Debatte“ mit zahlreichen Bürgerbefragungen und -dialogen im ganzen Land, an der insgesamt knapp 2 Millionen Personen beteiligt waren. Außerdem ließ er einen Bürgerkonvent mit 150 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Personen zu Maßnahmen der Klimapolitik einrichten. Nach seiner Wiederwahl hat er erneut eine „neue Methode“ des Regierens versprochen und die Einrichtung eines „nationalen Erneuerungsrates“ (Conseil national de la refondation), der aus Vertreter:innen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Organisationen, Kräften der Zivilgesellschaft und der Kommunen sowie Bürger:innen bestehen und sich mit den großen Projekten der neuen Regierungspolitik befassen soll. Allerdings stimmen die bisherigen Erfahrungen eher skeptisch: Die Neuerungen waren eher opportunistische ad-hoc-Regelungen als wirksame Formen der Bürgerbeteiligung. Darüber hinaus bleibt völlig ungeklärt, welchen Stellenwert und welche Verbindlichkeit die Beschlüsse derartiger Beratungsgremien gegenüber dem Parlament und seiner Gesetzgebungshoheit haben können. So bleibt der Verdacht, dass es sich hier eher um eine Inszenierung des Präsidenten als um einen ernsthaften Ansatz einer stärker deliberativen Form des Regierens handelt.

Eine institutionelle Reform, über die seit Jahren geredet wird, ist die Änderung des Wahlrechts mit der Einführung von Elementen der Verhältniswahl (eine vollständige Anwendung der Verhältniswahl wird weiter abgelehnt, weil aus der Wahl eine regierungsfähige Mehrheit hervorgehen soll). Je nach Ausgestaltung dieser Reform wäre zumindest gewährleistet, dass die relevanten politischen Kräfte des Landes eine einigermaßen angemessene parlamentarische Vertretung bekämen, die Nationalversammlung wieder zum Ort zentraler politischer Debatten werden und die politische Willensbildung bereichern könnte. In der vergangenen Amtsperiode scheiterte die von Macron versprochene Reform nicht zuletzt am mangelnden politischen Willen des Präsidenten.

Wie ernst ist es ihm diesmal? Einen ersten Hinweis könnten die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni geben. Bekommt der Präsident wieder eine absolute Mehrheit, dürfte sich wenig ändern. Ein klarer Sieg des oppositionellen, von Jean-Luc Mélenchon geführten linkspopulistischen Bündnisses könnte dagegen zu einer schwierigen Kohabitation (Machtteilung) zwischen Macron und Mélenchon und zu einer lang anhaltenden inneren Krise führen. Interessant würde es bei unklaren Mehrheitsverhältnissen, weil Macron dann erstmals auf Vereinbarungen mit gemäßigten Konservativen oder Sozialisten angewiesen wäre, um seine Politik im Parlament durchzusetzen. Dies könnte seine Bereitschaft, seine Regierungsmethode tatsächlich zu ändern, befördern. Wie auch immer: Ohne einen eingebauten Zwang zur Kooperation, soviel steht fest, dürfte sich nur wenig am vertikalen Regieren à la française ändern.

Autor

Prof. Dr. Henrik Uterwedde

Deutsch-Französisches Institut
Prof. Dr. Henrik Uterwedde ist assoziierter Wissenschaftler am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Im Juli 2022 erscheint die Neuauflage seines Buches Frankreich – eine Länderkunde im Verlag Barbara Budrich.

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