Eine neue Kanzlerdemokratie: Die Ampel als Lern-Koalition

Die Kanzlerpartei ist in der Ampelkoalition dauerhaft in der Minderheit. Und das in Zeiten großer Transformationsaufgaben, die Führungsstärke erfordern. Die Bundesregierung hat vier Handlungsstrategien entwickelt, um mit dieser Konstellation umzugehen.  

Demokratiemüdigkeit, reichsbürgerliche Proteste und Empörungsfolklore setzen die Demokratie und damit auch die Ampelkoaliton von innen unter Druck. Von außen kommt der russische Angriffskrieg hinzu, der auch einen Angriff auf unsere Freiheit und unseren Lebensstandard darstellt. Dennoch gilt für das Jahr 2023 ein Comeback der Zuversicht. Denn trotz aller Unkenrufe und Polykrise erweist sich die Demokratie in Deutschland als extrem robust. Das wird auch das Wahljahr 2023 mit vier Landtagswahlen wieder bestätigen. Dazu einige Argumente.

Die Opposition: kooperative Besserwisser 

In unserer Umarmungsdemokratie profitiert die Opposition, wenn sie die Regierung unterstützt. Zur Zeit hat die Union die Regierungsparteien im Bund in den Umfragen weit hinter sich gelassen. Die hart verhandelte Zustimmung der CDU/CSU zum neuen Bürgergeld katapultierte die Verlierer der Bundestagswahlen aktuell auf rund 30 Prozent in der Sonntagsfrage. Im deutschen parlamentarischen System belohnen die Bürger und Bürgerinnen kooperative Opposition. Keineswegs Total-Opposition. Dabei ist es ungewohnt, sich wieder in eine starke demokratische Opposition einzuhören. Die politische Ökumene der Groko-Serien narkotisierte. Die Opposition war marginalisiert oder als AfD schrill. Angela Merkel (CDU) orchestrierte zudem als Kanzlerpräsidentin die (Fast)Allparteienmehrheiten. Die Debatten im Parlament litten unter Diskurs-Allergie.

Das ist in Zeiten der Ampel anders. Die parteipolitischen Fronten sind mit Rot-Grün-Gelb wieder sichtbarer. Die Debatten im Bundestag sind vielstimmiger Ausdruck der Demokratie, vitalisiert durch heftige Kontroversen mit echten Alternativen. Ein Empörungsort für Proteste. Friedrich Merz (CDU) brilliert in der Rolle des Oppositionsführers mit schneidiger Selbstgewissheit. Seine neo-dirigistische Entschiedenheitsprosa brachte den Kanzler häufig in die Defensive und bediente zugleich die gewachsene Nachfrage nach verlässlicher Autorität.

Die Bestwerte für die bürgerlich-konservative Opposition sind parlamentarisch erarbeitete Merz-Werte. Weder wünscht sich eine Mehrheit die Union als Kanzlerpartei zurück, noch erkennt eine Mehrheit besondere Alleinstellungsmerkmale einer inhaltlich erneuerten Union. Die Umfragen belohnen in deutscher Manier, wenig überraschend, den Sound des oberlehrerhaften Besserwissens.

Die Regierung: experimentelle Krisenlotsen 

Und diese Rolle ist in Zeiten des Gewissheitsschwundes leicht zu erobern. Denn die Bundesregierung agiert als permanenter Krisenlotse. Planbarkeit der Politik war gestern. Unberechenbarkeit ist heute das Prinzip der politischen Steuerung. Mit Versuch und Irrtum tastet sich die Ampel im Modus des Nachbesserns durch die Vielfach-Krisen. Da ist es für Oppositionsparteien leicht, nachträglich aufzulisten, was man problemlösend hätte besser machen können, ohne nachzuweisen, dass man mit gleichem Kenntnisstand zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen wäre.

Vielleicht ist das der Preis der Risikomoderne, in der für die Politik immer eine Erwartungssicherheit des Nicht-Erwartbaren besteht. Die Umgangsroutinen der vergangenen Jahre führen nicht mehr zur Problemlösung. Politik wirkt immer unfertig, konfrontiert mit der Fiktion der dauerhaften Lösbarkeit von Problemen. Es existieren keine Zwangsläufigkeiten mehr. Das jeweils Unwahrscheinliche zu managen, setzt mehr als nur neue Lagedefinitionen voraus. Moderne Fähigkeit, mit Verunsicherung umzugehen, erfordert Probehandeln im Geiste. Weiterdenker müssen nicht sehen, was eine Gesellschaft will oder was auf sie zukommt, sondern eher, was sie glaubt, erwarten zu können. Wer sich festlegt in diesen Zeiten, riskiert Glaubwürdigkeitsverluste. Die Krisenunübersichtlichkeit fördert mithin auch die kommunikativen Meister des Diffusen und des Ultrapragmatischen.

Die Ampel modernisiert die Kanzlerdemokratie

Die niedrigen Umfragewerte für die Ampel im Bund sind insofern nicht überraschend. Denn welcher sicherheitsdeutsche Wähler liebt experimentelles Regieren? Hier wählt man das Bekannte, das Vertraute, die Amtsinhaber. Sie garantieren in der politischen Mitte eine verlässliche Langeweile, wie die zurückliegenden Landtagswahlen auch 2022 erneut verdeutlicht haben. 

Die Ampel leidet aber zusätzlich auch am ungewohnten Format – gegenüber Wählern ebenso wie gegenüber den Berichterstattern. Denn die Berliner Ampel modernisiert die traditionelle Kanzlerdemokratie. Scholz hat ein historisch schwaches Mandat von den Wählern bekommen, wie nie ein Kanzler zuvor. Die flexible Trias ist ein Sonderformat. Zu dritt ist man systematisch kontroverser als zu zweit. Die fluiden Fronten, als Dauer-Interessen-Abwägung, sind so zu moderieren, dass sich kein „zwei gegen einen“ verfestigt. Die Kanzlerpartei ist dauerhaft in der Minderheit. Und das in Zeiten von großen Transformationsaufgaben, wie im Koalitionsvertrag vereinbart. Das Berliner Politikmanagement reagiert in vier Spielarten darauf:

Anpassen:

Beim Thema Umwelt- und Klimaschutz fehlt das Gegenüber, denn mit der Erderhitzung kann man prinzipiell nicht verhandeln. Das neue Paradigma des darauf ausgerichteten adäquaten Regierungshandelns wäre Anpassen anstatt Aushandeln. Die Anpassungsleistung würde darin bestehen, Klimaschutztransformationen politisch zu implementieren. Das kann über Anreize ebenso geschehen wie über Regulierungen oder Verbote. Das sogenannte „Osterpaket“ aus dem Bundeswirtschaftsministerium zur Energiewende ist dafür ein gutes Beispiel.

Kuratieren:

Beim Thema Gesundheit und Corona zeigt sich eine andere Spielart von Transformativem Regieren: das Kuratieren. Das Virus ist zwar prinzipiell als Verhandlungspartner auch nicht sichtbar, doch in der sozialen Interaktion kommt es potentiell zur Infektion. Wie verhandelt man in der Konsequenz lebensrettende Isolationsmaßnahmen? Da bietet sich konzeptionell nicht das Anpassen, wie beim Klimaschutz, sondern eher das kuratierte Regieren als mögliche Antwort an. Es verwandelt unter dem Primat der Politik rasant transparente Informationsverarbeitung in sortierte und erklärte politische Entscheidungen der Krisen-Lotsinnen und Krisen-Lotsen. Kuratiertes Regieren kommt nicht als lenkende Anregung, wie etwa beim „Nudging“ daher. Die Varianten des Lockdowns (alles entschleunigen, alles entkoppeln, alles dekonstruieren) waren staatlich verordnet, kein Vorschlag. Kuratiertes Regieren hat eher mit krisenbedingter, appellativer Anordnung zu tun. Es nutzt einen Möglichkeitsraum. Das setzt Gestaltungswissen voraus (situativ in der Lage zu sein, zu lernen) und kombiniert dies mit einem Möglichkeitssinn (mit Zuversicht zu führen und zügig zu entscheiden). Die Spitzenpolitik avanciert so zum Hermeneuten der Resilienz.

Priorisieren:

Beim Thema Krieg und Frieden zeigt sich eine radikal gewendete Dialektik in der Kombination von Moral- und Realpolitik: Reden und Rüstung, Friedfertigkeit und Abschreckung, Kooperation und Wehrhaftigkeit. Das Gegenüber ist beim Regierungshandeln nicht nur sichtbar, sondern existenziell bedrohlich. Transformatives Regieren agiert hierbei im Modus des extremen Priorisierens: Hierarchie für Sprung-Innovationen. Der Kanzler nutzte dazu die Regierungserklärung in der Sondersitzung des Bundestages zum Krieg in der Ukraine. Er entschied unter existenziellem Ernst den Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: die Zeitenwende.

Tauschen:

Anders als traditionelle Koalitionen mit zwei Partnern und klarem Hierarchiegefüge suchen die Ampel-Parteien bei der Spielart des Tauschens nicht nach Schnittmengen oder kleinsten gemeinsamen Nennern – als dilatorische Formel-Kompromisse oder quantitative Verteilungskompromisse. Der Kompromiss taucht sichtbar in umfangreichen Gesetzgebungspaketen auf, in denen, wie beim sogenannten „Osterpaket“ 2022 zur Energiesicherheit sichtbar wurde, für alle drei Partner und deren Wähler-Klientel Angebote gemacht werden. Im alltäglichen Tauschhandeln der Regierung sieht man jedoch häufiger Differenzmodelle. Sie beschreiben Kompensationen, die über Tausch funktionieren, weil sie Differenz aushalten. Sie sind daher stärker als der bloße Kompromiss. Wer die Differenz aushält, überbrückt Widersprüche. Wenn das Gemeinsame weiterhin das Hauptziel ist, kann eine Entdifferenzierung über vertrauensvolle und ressortbezogene Tauschpolitiken mehr Einheit in der Differenz sichern. So kann jeder der drei Ampel-Partner auch mal öffentlichkeitswirksam punkten.

Der Modus des Veränderns im Kontext von Transformationen in Zeiten der Krisenpermanenz ist vielschichtig, wie die vier Spielarten des Transformativen Regierens zeigen. Vieles deutet darauf hin, dass im klassischen Verständnis der Policy-Forschung der Policy-Typ, das jeweilige Politikfeld, den vorrangigen Typus des Politikmanagements bestimmt.

Krisengewinnerin ist die robuste Demokratie

Die Krisennot stabilisiert die Unterstützer-Allianz der Ampel. Dabei kann die Macht im Kanzleramt sein, muss sie aber nicht. So wandelt sich die Kanzlerdemokratie zu einer kollaborativen Lern-Formation. Die Macht des Miteinanders hat bislang dazu geführt, dass Interna intern blieben. Die Dynamik der Vielstimmigkeit ist Teil der Vereinbarung. Wir müssen uns daran wieder neu gewöhnen, dass zum multizentrischen Regieren auch die Fraktionen des Bundestags dazugehören; ebenso wie die öffentlichen kontroversen Diskurse innerhalb der Koalition. Man hat den Eindruck, dass die Entscheidungsfähigkeit wichtiger ist als die Entscheidungskompetenz. Lernend-kollaborativ, fehlertolerant zeigt sich die Ampel. Das wirkt aufdringlich unfertig. Widersprüche zu umarmen ist zudem in der Ampel schwierig, aber auch für uns als Bürger und Bürgerinnen anstrengend zu beobachten. 

Zu den extrem antagonistischen Umfragewerten zwischen Regierung und Opposition kommt es auch durch den Gegenstand des Koalitionsvertrags. Geplant sind keine Reparaturarbeiten am Wohlfahrtsstaat, sondern die Transformation in eine digitale Nachhaltigkeitsgesellschaft. Und dies paart sich mit realen Verlustängsten. Wie soll das eine Gesellschaft goutieren, in der viel mehr Menschen über 70 Jahre stimmberechtigt sind als unter 30? Wie weit reicht der Veränderungspatriotismus angesichts der ökonomischen Knappheit? Wie entscheiden sich risikoaverse Sicherheitsdeutsche, die fast überall mit Angstlust  zögerlicher agieren als andere Europäer. Wie populär klingen Zumutungen? Da liegt es nahe, dass sich viel mehr hinter den Bewahrern, als hinter den Veränderern scharen. Da der Wählermarkt aber auch viele Fans des Erfolgs kennt, könnten nach einem durchgeheizten Winter die Werte für die Regierung wieder nach oben klettern. Bereits jetzt im Januar nehmen die Zustimmungswerte zur Regierungstätigkeit wieder zu. Die Landtagswahlen werden den politisch mittigen Kurs auch in 2023 bestätigen. Wir sollten die Realität rehabilitieren: Krisengewinnerin ist die robuste Demokratie.

Literaturhinweise des Autors zum Thema

Regieren in der Transformationsgesellschaft, Springer VS, Wiesbaden 2023 i.E. (Mitherausgeber).

Handbuch Regierungsforschung, Springer VS Verlag, 2. erweiterte und aktualisierte Neuauflage Wiesbaden, 2022 (Mitherausgeber).

Transformatives Regieren in Zeiten der Krisenpermanenz, in: dms – der moderne staat. Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, 15. Jg. H.2/2022, S. 1-17.

Coronakratie. Demokratischen Regieren in Ausnahmezeiten, Campus Verlag Frankfurt/New York, 2021 (Mitherausgeber).

„Im Land der Oberlehrer“, in: SZ vom 9. Dezember 2022

Autor

Karl-Rudolf Korte

NRW School of Governance
Karl-Rudolf Korte ist seit 2002 Professor an der Universität Duisburg-Essen im Fachgebiet „Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und moderne Governance-Theorien“. Seit ihrer Gründung im Jahr 2006 ist er außerdem Direktor der NRW School of Governance.

Weitere Beiträge aus dem Online-Magazin

Status quo – im Namen der Zukunft! Generationengerechtigkeit zwischen Klimaschutz und Schuldenbremse

Veröffentlicht am
Gerechtigkeit hat viele Facetten. Deshalb wird sie nur dort erreicht, wo die Politik Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern berücksichtigt. Exemplarisch zeigt sich dies in der gegenwärtigen Debatte um die Finanzierung unserer Klimapolitik: Wer die nächsten Generationen vor hohen Schulden retten will, läuft schnell Gefahr, ihnen dabei schwere Klimahypotheken aufzubürden.

“Es kann niemand wollen, dass erste Wahlerfahrungen zu Frust und Ärger führen”

Veröffentlicht am
Junge Menschen sind von großen Problemen wie der Klimakrise und dem demografischen Wandel besonders betroffen. Ihre Interessen scheinen in der politischen Debatte aber häufig weniger Gewicht zu haben als die der Älteren. Würde ein einheitliches Wahlrecht ab 16 daran etwas ändern? Und wie blicken junge Menschen heute auf das Land und ihre Zukunft? Ein Interview mit Catrina Schläger und Thorsten Faas.

Warum wir keine Zeit haben, nicht zu beteiligen

Veröffentlicht am
Beteiligung ist kein Hindernis, sondern der Schlüssel zur Beschleunigung der Klimawende. Gerade umfassende Transformationsvorhaben erfordern eine Einbeziehung des Parlaments. Verbindet man parlamentarische Gesetzgebung mit zufallsbasierter Beteiligung von Bürger:innen, führt das zumeist zu progressiverem Klimaschutz. Mehr Partizipation erhöht also das Tempo der Transformation.
teilen: