Die politische Landschaft in Deutschland ist in Bewegung geraten. Auch wenn es noch einige Tage bis zur Bundestagswahl ist: sicher ist, dass die politische Landkarte in Deutschland deutlich anders aussehen wird als vor dem Wahltag. In besonderer Weise wird dies in Ostdeutschland zu Tage treten.
Zwar stellt der Osten nur etwa 15 Prozent der Wahlberechtigten. Aber bereits mehrfach seit 1990 waren die Wählerinnen und Wähler in den neuen Ländern entscheidend für den Wahlausgang im ganzen Land. 1998 kam die komfortable rot-grüne Regierungsmehrheit nur durch die Überhangmandate im Osten zustande. 2002 wurde die SPD nur durch das überdurchschnittlich gute Ergebnis in den neuen Ländern erneut stärkste Kraft. 2013 scheiterte die Wiederwahl von Schwarz-Gelb daran, dass die FDP durch das schwache Abschneiden im Osten unter die 5%-Hürde gedrückt wurde.
2017 wurde die CDU zwar auch im Osten mit 28% erneut stärkste Kraft, musste aber deutlich größere Verluste hinnehmen als in den alten Ländern. Auf Platz 2 folgte die AfD mit 22%. Die Rechtspopulisten wurden in Sachsen sogar (knapp) stärkste Kraft, was zum Rücktritt von Stanislaw Tillich als CDU-Ministerpräsident führte. Die SPD wurde 2017 im Osten mit 14% sogar nur viertstärkste Kraft.
Zur Beliebtheit der Kandidat:innen im Osten
Das Progressive Zentrum hat im Mai 2021 eine Umfrage in Auftrag gegeben, die die Stimmungslage in Ostdeutschland gegenüber den Kanzlerkandidaturen ergründet hat.
Presseresonanz
- Handelsblatt, 25. September 2021, „Bund, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern: Der Wahlsonntag wird eine Zäsur – für das Land und die SPD“ von Martin Greive
- Süddeutsche Zeitung, 23. September 2021, „Warum die SPD im Osten eine Renaissance erlebt“ von Cerstin Gammelin und Jens Schneider
Wenige Tage vor der Bundestagswahl zeichnet sich eine enorme Verschiebung der politischen Kräfte ab
Die SPD hat die Chance – kommend von Platz 4 – stärkste Kraft in Ostdeutschland zu werden. Gewann sie 2013 und 2017 nur jeweils ein einziges Direktmandat, zeichnet sich ab, dass sie diesmal in allen ostdeutschen Ländern Direktmandate gewinnen kann. Das ist ihr zuletzt 2002 gelungen. Gleichzeitig wird die CDU erneut massiv an Stimmen verlieren – sie hätte ihr Ergebnis dann innerhalb von acht Jahren mehr als halbiert. Auch wenn es der AfD erneut gelingen könnte, stärkste Kraft in Sachsen zu werden – zum ersten Mal aber scheint das Wachstum der AfD beendet zu sein. Auch für die Grünen wird das Ergebnis einen Unterschied markieren – sie werden im Osten nur etwa halb so stark zu sein wie im Westen.
Es zeichnet sich also ab, dass der „Ostwind“ für die Dynamik des gesamtdeutschen Parteiensystems besonders relevant ist. Es sind vor allem drei spezifisch ostdeutsche Entwicklungen, die – wie schon in der Vergangenheit – einen prägenden Einfluss auf den deutschen Parteienwettbewerb ausüben.
Die Demografie.
Die Wählerinnen und Wähler im Osten sind deutlich älter als im Westen. Der Anteil der über 65-Jährigen liegt mit 31% deutlich höher als in den alten Ländern (25%) – und hat sich seit 1990 im übrigen verdoppelt. Nicht zu unterschätzen auch die Bevölkerungsdichte – sie liegt bei gut einem Drittel des westdeutschen Wertes. Beide Faktoren führen dazu, dass Wählerinnen und Wähler ein erhöhtes Interesse an Stabilität des Renten- und Gesundheitssystems als auch öffentlicher Infrastruktur haben.
Die makroökonomische Lage.
Bei allem Erfolg des Aufbau Ost: Wir haben es immer noch mit einigen strukturellen ökonomischen Unterschieden zu tun. Während das durchschnittliche Vermögen in Westdeutschland rund 200.000 Euro beträgt, liegt es im Osten bei unter 70.000 Euro. Die Unternehmenslandschaft ist in erster Linie von klein- und mittelständischen Betrieben geprägt, die weniger exportieren und vor allem aber eine geringere Innovationskraft haben. Der Niedriglohnsektor liegt bei fast 40% aller Beschäftigten, im Westen dagegen beträgt er nur 20%. Es fehlt an Betrieben mit Forschung und Entwicklung. Es gibt also weniger komplexe Jobs. Vor diesem und dem Hintergrund der Erfahrungen des enormen Strukturbruches in den 1990er Jahren wurde und wird der Kohleausstieg in den neuen Ländern deutlich kritischer wahrgenommen – führt er doch dazu, dass ein bedeutender einkommensstarker Industriezweig komplett verschwinden wird. Auch dieser Trend stärkt tendenziell eher Kräfte, die auf schrittweise Transformation mithilfe staatlicher Intervention setzen.
Das politische Vertrauen.
Das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen liegt in Ostdeutschland um etwa 10 Punkte signifikant niedriger als im Bundesdurchschnitt. Doppelt so viele Ostdeutsche wie Westdeutsche lehnen die Demokratie als Staatsform ab. Die Hälfte der Ostdeutschen ist mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden – gegenüber zwei Dritteln der Westdeutschen. Sei es Bundesregierung, Bundestag, Justiz oder die Medien – die Ostdeutschen sind jeweils deutlicher skeptischer. Das hat unterschiedliche Ursachen. Dazu gehört zweifellos die geringere Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen in Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und der Justiz.
Auch die große Wahrnehmung als „Bürger 2. Klasse“ und die mangelhafte Sichtbarkeit aktueller ostdeutscher Themen trägt zum Vertrauensdefizit bei vielen Ostdeutschen bei. Somit sind die neuen Länder bereits seit den 1990er Jahren eine Hoffnungsbastion des Populismus vor allem rechter Couleur. Bis auf die PDS waren alle anderen Parteien zu sehr mit dem westdeutschen Verfassungspatriotismus verflochten, um als emotional verankertes Sprachrohr des Ostens gegenüber dem politischen Zentrum in Berlin zu agieren. In den letzten Jahren konnte insbesondere der Rechtspopulismus in Form der AfD von einem hohen Wählerpotenzial in den neuen Bundesländern zehren. Es ist gerade diese AfD-Protestkultur, die sich zum Sprecher des ländlichen Raumes und der Politikfernen inszeniert, die es den anderen Parteien so schwer macht. Hinzu kommt eine traditionell deutlich geringere Parteienbindung in den neuen Ländern.
Warum die SPD bei dieser Wahl punktet
Es sind diese Faktoren, die dazu beitragen, dass die Wahlentscheidung in den neuen Ländern anhand anderer Leitlinien erfolgt. Zum einen finden Positionen einen größeren Widerhall, die auf starke Sozialsysteme und öffentliche Intervention in Wirtschaft und Infrastruktur setzen. Themen wie Rente, Zuwanderung, soziale und innere Sicherheit spielen im Osten eine deutlich größere Rolle, Klimawandel eine untergeordnete. Hinzu kommt, dass Personen und ihre Glaubwürdigkeit eine wichtigere Bedeutung haben als Parteien.
Diese Faktoren begünstigen 2021 die SPD. Zum einen hat sie als einzige Partei ein neues ostdeutsches Narrativ („Vorsprung Ost“) entwickelt, das stärker auf ostdeutsche Repräsentanz und Eigenentwicklung setzt. Hinzu kommen neue Gesichter wie Manuela Schwesig und Franziska Giffey – die ihre jeweiligen parallel zur Bundestagswahl stattfindenden Landtagswahlen souverän gewinnen werden. Sie haben eine Sprache entwickelt, die die Menschen verstehen, sie haben mit ihrem pragmatischen, lösungsorientierten und undogmatischem Politikstil Räume eröffnet, die es ermöglichen, Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückzugewinnen.
Olaf Scholz hat mit einem ähnlichen Politikverständnis Erfolg. Der Umstand, dass er als Listenführer in Brandenburg in einem ostdeutschen Wahlkreis antritt, hat ebenfalls dazu beigetragen, dass er Glaubwürdigkeit im Osten gewonnen hat. Die SPD hat sich damit im Osten als traditionelle „Partei der Mitte“ sowohl inhaltlich als auch personell positioniert, was es ihr ermöglicht, sowohl von CDU, Linken und AfD Wählergruppen zurückzugewinnen. Parallel dazu verliert die CDU mit dem Abgang von Angela Merkel, die in den neuen Ländern zwar erst spät auch als „Ostdeutsche“ wahrgenommen wurde, eine wichtige Identifikationsfigur, die sie im Wahlkampf nicht ersetzen konnte.
Größere Wechselbereitschaft, eine andere Themenagenda und eine strukturell anders zusammengesetzte Wählerschaft werden so das Wahlergebnis in den neuen Ländern determinieren. Die Verschiebungen im Parteiensystem in den neuen Ländern haben so zwei direkte Folgen. Das stärker zersplitterte Parteiensystem – immerhin haben mit SPD, AfD, CDU und Linker vier Parteien realistische Chancen auf Direktmandate – wird dazu führen, dass die Wahlkreiskarte eine vollkommen andere Färbung erhalten wird. Denn Direktmandate können in Ostdeutschland bereits ab Wähleranteilen von etwa 20 Prozent gewonnen werden. Hinzu kommt: Bei einem engen Rennen zwischen SPD und CDU auf der gesamtstaatlichen Ebene können es die großen Verschiebungen in der ostdeutschen Wählerschaft sein, die genau den Unterschied machen in der Frage, wer am Ende stärkste Kraft in Deutschland ist.