Corona-Pandemie: Namenloser Ausnahmezustand?

Herantasten: Semantiken der „Corona-Krise“

Eine scharfe Beobachterin intellektueller Diskurse hat jüngst davor gewarnt, auf ein Ereignis, das angeblich an die Grenzen der Vorstellung geht und als absolutes Novum ausgegeben wird, die immer selben Antworten zu geben. Als Beispiel nannte sie Giorgio Agambens Rede vom „Ausnahmezustand“, der alles Mögliche bezeichnen sollte – und nun eben auch die Pandemie. Verständlich mag dieser Rückgriff sein, weil man sich Unbekanntes kommensurabel machen und durch die Reduktion auf Bekanntes zuschneiden möchte. Aber eine Soziologie der Katastrophe muss vorsichtiger und anspruchsvoller zugleich sein, um das, was wir gerade erleben, einordnen zu können und ex negativo anhand der in Umlauf befindlichen Semantik plausibel zu machen.

Nein, die Corona-Pandemie ist kein „Krieg“, auch wenn ich die von Emmanuel Macron und Elizabeth II. bei Winston Churchill und Charles de Gaulle entlehnten Bezüge zu den „grandes guerres“ des 20. Jahrhunderts nachvollziehbarer finde als meine pazifistischen Freunde in Deutschland. Doch da ist kein Feind und kein Aggressor wie in den beiden Weltkriegen, auch wenn man eine massenhafte Zahl unüblicher Todesfälle erwarten muss. Dass sich nationalistische Abgründe nun sogar an der deutsch-französischen Grenze auftun und manche die Pandemie – Albert Camus komplett missverstehend – mit der Besatzung durch die boches 1940ff. assoziieren, zeigt die intellektuelle Sackgasse einer militärischen Semantik.

Die “Corona-Krise” ex negativo

Nein, „Corona“ ist auch keine „Katastrophe“, womit wir in der Regel ein punktuelles Ereignis, wie die „Havarien“ in Tschernobyl und Fukushima, ein Erdbeben oder einen Tsunami, auch besonders schlimme Hurrikane, einen Vulkanausbruch oder „a Big One“ unter den Erdbeben bezeichnen würden: einmalige, den Alltag massiv unterbrechende Ereignisse, die mittel- und langfristige Wirkungen zeitigen. Das gilt am meisten für Haiti, das seit dem Erdbeben von 2010 an dessen Dauerfolgen leidet. Gemeinsam ist wieder die große Zahl der Opfer und die Höhe der Schäden, aber die Dauereskalation einer Pandemie erfordert eine andere, konstante Aufmerksamkeit.

Und nein, „Corona“ ist auch (noch) nicht eine lang dauernde Wirtschaftskrise von der einschneidenden Wirkung der Great Depression (und schon absehbar stärker als bei der Finanzkrise von 2008), auch wenn sich eine solche Depression als Sekundärschaden anschließen dürfte. Hier spielt vor allem die Lernfähigkeit des (immer noch oft genug lernunfähigen und im Effekt mörderischen) Kapitalismus eine Rolle, der ein elaboriertes Krisenmanagement ausgebildet hat und derzeit noch den Eindruck erweckt, auch diese unerhörten Pandemiefolgen als „Delle“ wegstecken zu können.


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Corona- und Klimakrise

Schließlich ist die Corona-Krise trotz ihrer „natürlichen“ Verursachung auch etwas anderes als die Klima-Krise, die ja weniger eine „Naturkatastrophe“ als eine menschengemachte Sozialkatastrophe ist und durch ein Antidot wie eine Impfung nicht aufzuhalten sein wird. Gleichwohl haben Corona- und Klimakrise gemeinsam, dass die uns umgebende Natur aus dem Gleichgewicht und an bedrohliche Kipppunkte gelangt ist. Und die rigiden Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie öffnen ein Gelegenheitsfenster, zumindest ein Gedankenexperiment, wie man aus den bis dato für unmöglich gehaltenen Einschränkungen des Lebensstils mit den daraus folgenden Emissionsminderungen überleiten kann in ein neues Paradigma ökologisch eingebetteten Wirtschaftens, das mit dem technischen Begriff Green New Deal umschrieben wird und nicht zuletzt erhebliche Korrekturen im globalen Nord-Süd-Verhältnis nach sich ziehen muss. Denn außer der natürlichen Umwelt sind die Massen im „globalen Süden“ der Hauptverlierer nicht nur der Pandemie, sondern der seit Langem bestehenden Externalisierung der Umweltkosten in diese Regionen.

Ausnahmezustand? Auch mit der Etablierung totalitärer Diktaturen im Zwanzigsten Jahrhundert haben die Maßnahmen zur Krisenbewältigung weder in autokratischen Regimen zu tun, wo der Ausnahmezustand schon Alltag ist, noch in demokratischen Gesellschaften, wo eher der paranoide Politikstil eines Donald Trump und der politische Nihilismus des völkisch-autoritären Nationalismus Sorgen bereitet, der auf eine Art freiwillige Selbstunterwerfung hinausläuft. 

Der kleine Durchgang durch die Krisenrhetoriken demonstriert ex negativo, was die aktuelle Pandemie nicht ist, so dass am ehesten vergleichbar noch Pandemien früherer Zeiten von der mittelalterlichen und neuzeitlichen Pest bis zur Spanischen Grippe 1918-1920 und zur Hongkong-Grippe 1968/9 sind. Die Aufgabe einer „Soziologie der Katastrophe“ besteht nun darin, Veränderungen alltäglicher Interaktionen und Kommunikation genau zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen auf den schleichenden Wandel der Gesellschaft unter dem Diktat „krassen sozialen Wandels“ (Lars Clausen).

Autor

Claus Leggewie

Zentrum für Medien und Interaktivität
Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaften. Von 1996 bis 1999 war er Gastprofessor an der New York University und forschte bis 2000 am Wissenschaftskolleg Berlin. Leggewie ist ordentlicher Politikprofessor in Gießen und Direktor des dortigen Zentrums für Medien und Interaktivität.

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