“Diese Veranstaltung macht Mut” –  Erkenntnisse und Methoden zur Prävention jugendlicher Einsamkeit

Beim Fachtag zu Einsamkeit und Demokratiedistanz haben Praktiker:innen aus der Jugendarbeit und Jugendhilfe mit Expert:innen aus Wissenschaft und Politik diskutiert, wie wir als Gesellschaft mit Einsamkeitserfahrungen und Radikalisierung im Jugendalter umgehen können.

Erfahrungen mit Einsamkeit sind bei Jugendlichen weit verbreitet. Das hat nicht nur gesundheitliche und ökonomische Folgen für das Individuum; es ist auch eine Gefahr für die Demokratie. Die Studie “Extrem einsam?” des Progressiven Zentrums zeigt, dass Einsamkeit junge Menschen empfänglich macht für autoritäre Einstellungen und somit ein demokratiegefährdendes Potenzial birgt. Der dringende Handlungsbedarf, der sich daraus ableitet, erfordert die Stärkung niedrigschwelliger Begegnungsorte, den Zugang zu politischen Bildungsangeboten und den Ausbau von Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten für Jugendliche. 

Diese Ausgangslage nahm das Progressive Zentrum in Kooperation mit dem Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB) zum Anlass für einen Fachtag. Rund 100 Teilnehmende aus Forschung, Praxis und Politik diskutierten Erkenntnisse und Methoden zum Thema Einsamkeit und Demokratiedistanz im Jugendalter.

In ihrer eröffnenden Keynote betonte die Sozialpsychologin und Professorin für Soziale Arbeit Dr. Beate Küpper die Relevanz des Phänomens Einsamkeit: “Junge Menschen gelten heute als Krisengeneration. Und eine dieser Krisen ist Einsamkeit.” Die vielen Krisen – von Pandemie, über Kriege bis hin zur Klimakrise – ließen Jugendliche orientierungslos und mit einem Gefühl der Überforderung zurück. Küpper berichtete zudem von einer Normalitätsverschiebung, die sie in ihrer Forschung beobachte, dass junge Leute heute rechtsextremer seien als ältere Menschen – das sei früher andersherum gewesen. Wichtigster Einstiegsgrund in den Extremismus sei das Verlangen nach Gruppenzugehörigkeit; und hierfür seien Einsame besonders empfänglich.

Ansätze in der Jugendarbeit sind vielfältig und innovativ

Was also tun gegen Einsamkeit und Radikalisierung? Diese Frage stand im Zentrum der Workshops des Fachtags. Dabei lag der Fokus von Impulsgeber:innen und Teilnehmenden auf den Themen Digitalisierung, Partizipation sowie Diskriminierungserfahrungen und Mental Health im Kontext von Einsamkeitsphänomenen.

Anna Wilde und Marco Padilla von krisenchat untersuchten in ihrem Workshop Chancen und Risiken der Sozialen Medien in Bezug auf Einsamkeit. Ihnen zufolge bieten soziale Medien für Jugendliche beides. Besonders gefährlich sei, dass junge Erwachsene einen Realitätsverlust erliten und nicht mehr unterscheiden könnten zwischen der Welt, die auf Instagram und anderen Plattformen dargestellt wird, und der „realen Welt“. Dieser Verlust könne wiederum zu Einsamkeitsgefühlen führen.

Helena Hotopp und Adrian Junger von Kopfsachen e. V. diskutierten die psychologischen Auswirkungen von Einsamkeit und vermittelten interaktiv Impulse, mit denen die mentale Gesundheit von Jugendlichen im Alltag gestärkt werden kann. Dabei beobachteten die Teilnehmenden einen Shift: Lag der Fokus in der Jugendarbeit früher auf den “lauten” Kids –  wer stört, sollte “auf Kurs gebracht werden” – brauche es heute den Blick auf die “leisen” Jugendlichen, die sich zurückziehen. Das sei zwar schwieriger zu erkennen, die Probleme, die dahinter liegen, seien aber nicht weniger relevant.

Yesilkaya Feyzullah und Jenny Omar von Ufuq e. V. beleuchteten ​​die Möglichkeiten von Pädagogik und politischer Bildung vor dem Hintergrund von Einsamkeits- und Diskriminierungserfahrungen bei Jugendlichen. Dabei wurden Religion und Migration als Faktoren von Einsamkeit näher diskutiert und verschiedene Ansätze des Adressierens dieser Aspekten aus der Präventionsarbeit vorgestellt. Übergreifend wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass Einsamkeit ein gesellschaftliches und politisch ernstzunehmendes Problem ist und eine Entstigmatisierung von Einsamkeit dringend notwendig ist. 

Christian Hörr und Diego Cuadra vom Peer Helper Netzwerk Neukölln stellten Peer-to-Peer-Ansätze in der Jugendarbeit vor. Insbesondere wurde hierbei das Projekt FUN – ein Freizeit und Nachbarschaftsprojekt in der Weißen Siedlung in Neukölln – näher vorgestellt. Eine Schlüsselerfahrung des Projekts war, dass Jugendliche selbst ein wichtiges Potenzial besitzen, um andere Kinder und Jugendliche zu erreichen und eine Stärkung von emotionalen und sozialen Kompetenzen besonders wichtig für die Einsamkeitsprävention ist. 

Katharina Baumgartner von der Bildungsstätte Anne Frank und Charlotte Lohmann untersuchten und reflektierten mit den Teilnehmenden die vielfältigen Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Präventionsarbeit. Eine Erkenntnis: KI kann dabei unterstützen, die positive Selbstwahrnehmung zu stärken – etwa bei der Entwicklung von Rollenspielen. Dabei müssten die Grenzen der Technologie beachtet und der Einsatz verantwortungsvoll gestaltet werden.

Im Workshop des Progressiven Zentrums stellten Melanie Weiser, Jonah Schwope, Janina Orlić und Aaron Remus den Methodenkoffer gegen Einsamkeit vor. Die Sammlung bietet eine vielfältige Auswahl neuer Formate, die in der Arbeit mit Jugendlichen eingesetzt werden können, um den Umgang mit Einsamkeit und prodemokratische Haltungen zu stärken. Eine zentrale Erkenntnis des Austauschs: Jugendarbeiter:innen können in der Begegnung mit Jugendlichen auch an eigene Einsamkeitserfahrungen anknüpfen und so einen empathischen Zugang auf Augenhöhe schaffen.

Der Aufbruch, die Demokratie zu verteidigen, ändert auch die Narrative

In der abschließenden Fishbowl Diskussion ging es um die Rolle von Politik und Zivilgesellschaft bei der Prävention von Einsamkeit und Radikalisierung. Paulina Fröhlich, stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin des Schwerpunkts Resiliente Demokratie beim Progressiven Zentrum, wollte von den Panelist:innen wissen: Was hat euch in letzter Zeit Mut gemacht in Bezug auf das Thema Einsamkeit bei Jugendlichen?

Katrin Krumrey (SPD), Kinder- und Jugendbeauftragte des Landes Brandenburg, erzählte: “Wenn ich heute nicht hier wäre, würde ich feiern” –  weil in Brandenburg gerade das erste Kinder- und Jugendgesetz vom Kabinett verabschiedet worden sei, das nun vor dem Parlament diskutiert würde. Das Gesetz soll nicht nur die Rechte der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken, sondern wurde auch gemeinsam mit Jugendlichen geschrieben. Für Krumrey ist dies jedoch erst der Anfang; jetzt müsse es weitergehen und die Forderungen der Jugend auch umgesetzt werden. 

Sarah Nagel (Die Linke), Stadträtin für Jugend in Berlin-Neukölln, berichtete ebenfalls von stärkenden Maßnahmen auf kommunaler Ebene in Form der Gründung eines Kinder- und Jugendparlaments in ihrem Bezirk. “In einem Gremium zu sein ist eine wichtige Selbstwirksamkeitserfahrung für junge Menschen”, betont Nagel. Beteiligung dürfe nicht so gedacht werden, dass es  immer nur studierte Leute mit Flipcharts seien, die Fragen stellten.

Es braucht Demokratie-Erfahrungen in der Fläche

An dieser Stelle sahen jedoch die Teilnehmenden aus der Kinder- und Jugendhilfe die größte Herausforderung: Die Kultur, junge Menschen zu beteiligen, werde noch viel zu selten gelebt. Wenn über die Köpfe von Kindern hinweg entschieden wird, gingen sie enttäuscht nach Hause – das gelte im Fußballverein genauso wie im Jugendclub. Dabei gehe es bei Partizipation nicht um reine Angebote, sondern um Gestaltungsmöglichkeiten – auch außerhalb der Politik. Deshalb seien Gremien als Maßnahme nicht immer attraktiv. Paul Lachmann, wissenschaftlicher Koordinator im Projekt gemEINSAM gegen RECHTS der Stiftung Adam von Trott, unterstrich diese Beobachtung: “Demokratie-Erfahrung […] passiert nicht im Parlament, sondern im Alltag.”

Dem stimmte auch Ariane Fäscher (SPD) zu: “Wir haben ein Momentum”, sagte die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende im Unterausschuss Engagement. Wichtig sei nun, dieses Momentum für die Demokratie zu nutzen, um sie zu verteidigen. Hierfür sei ein Gefühl der Wertschätzung bei jungen Menschen essenziell. Die grundlegende Akzeptanz von Individuen – unabhängig von Leistung, Herkunft oder Wohlstand – müsse gestärkt werden.

Wichtig war allen Diskutierenden, dass Beteiligung niedrigschwellig und auf Augenhöhe sein muss. Dafür sei auch eine gewisse Transparenz der Politik notwendig, betonten alle drei Politikerinnen. Es müsse Jugendlichen auch erklärt werden, warum etwas nicht umgesetzt werden könne, betonte Ariane Fäscher. 

Mit den diskutierten Ansätzen und Methoden kann es Jugendarbeit, Zivilgesellschaft und Politik gemeinsam gelingen, das Thema Einsamkeit bei Jugendlichen zu adressieren – und so nicht nur individuelles Leid zu bekämpfen, sondern auch die Demokratie zu stärken. Paul Lachmann brachte die Stimmung des Fachtags auf den Punkt: “Veranstaltungen wie diese machen mir Mut.”

Fotos des Fachtags

© Kathleen Pracht

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