Annalena Baerbock ist die erste grüne Kanzlerkandidatin

Wie sie und Robert Habeck einen neuen Politikstil etablieren – und worauf es im Wahlkampf jetzt ankommt

Die Grünen schicken Annalena Baerbock ins Rennen ums Kanzleramt. Nachdem die SPD bereits im August vergangenen Jahres Olaf Scholz als ihren Kandidaten in einem auffällig geordneten Verfahren gekürt hatte, sind Führung und programmatische Schwerpunkte der beiden großen Mitte-Links-Parteien fünf Monate vor der Bundestagswahl 2021 geklärt. Ganz anders sieht es bei den Unionsparteien aus. Aber auch wenn das Treffen von Armin Laschet und Markus Söder vergangene Nacht ergebnislos endete und der unerbittliche interne Machtkampf der Union damit in die nächste Runde geht: Die heiße Phase des Wahlkampfs ist eröffnet. Und die Chancen für einen neuen Politikstil ab Herbst stehen besser denn je.

Die Union zeigt aktuell, wie es nicht geht. Sie liefert ein unwürdiges Schauspiel ab, das so gar nicht in die Zeit der dritten Corona-Welle passt: Nach dem CDU-internen Kampf um den Parteivorsitz zwischen Laschet und Merz erst vor wenigen Wochen liefern sich nun Laschet und Söder einen brutalen, geradezu selbstzerfleischenden und nicht enden wollenden Machtkampf. An dessen Ende werden mindestens ein klarer Verlierer sowie letztlich gleich zwei beschädigte Parteivorsitzende stehen.

Die Grünen gehen einen anderen Weg. Sie haben verstanden, dass die Rolle des unterlegenen Zweitplatzierten für die Operation “Wahlsieg” von immenser Bedeutung ist. So zeigt die heutige Nominierung nicht nur eine strahlende und hochmotivierte grüne Spitzenkandidatin Baerbock, sondern auf souveräne Weise auch ein starkes Duo Baerbock-Habeck.

Der während der Pressekonferenz, aber auch in den vergangenen Monaten beschworene Teamgeist wirkt echt, die Geschlossenheit innerhalb der Partei ist spürbar. Und Annalena Baerbock weiß: Als Einzelkämpferin wird sie in den kommenden Monaten und Jahren politisch nicht reüssieren. So ist Robert Habeck – sofern die Grünen im Herbst Regierungsverantwortung übernehmen, worauf fast alles hindeutet – eine Schlüsselposition im neuen Kabinett sicher. Die Grünen bleiben damit trotz der heutigen Entscheidung für eine Kanzlerkandidatin ihrem Erfolgsmodell einer Doppelspitze aus zwei politischen Hoffnungsträgern treu.

Regierungserfahrung ist nicht alles

Aber: Der eigentliche Lackmus-Test steht nun erst bevor, denn der Ton in der öffentlichen Auseinandersetzung wird nach Ausrufung der Spitzenkandidatur deutlich rauher, der Blick kritischer. Die Melodie, die nun zweifellos in den kommenden Monaten medial von den politischen Wettbewerbern gesungen werden wird: Annalena Baerbock mangele es an Regierungserfahrung. Das stimmt. Doch wahr ist auch: Regierungserfahrung darf angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen auch nicht überbewertet werden. Worauf es jetzt, nach 16 langen Merkel-Jahren ankommt, ist ein gesellschaftlicher Aufbruch, ein Neustart in zahlreichen Politikfeldern. Dieser Aufbruch wird nicht (allein) aus den teilweise überkommenen Strukturen des klassischen Regierungsgeschäfts erwachsen.

Dazu kommt Corona: Eine vollständige Rückkehr zur „alten Normalität“ erscheint für die Post-Pandemiephase ab Herbst nicht nur unwahrscheinlich, sondern nicht einmal wünschenswert. Stattdessen ist es – zumal aus progressiver Perspektive – geboten, den Weg aus der Krise dafür zu nutzen, die Erneuerung unserer Gesellschaft grundsätzlich voranzutreiben. Dies entscheidet sich in den beiden Gestaltungsfeldern “Sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft” sowie “Europa und Internationale Zusammenarbeit”. Annalena Baerbock tritt überzeugend für diesen Aufbruch an.

Annalena Baerbock wäre die zweite Frau im Kanzleramt. Anders als Angela Merkel lebt und verkörpert sie dabei auch einen modernen Feminismus, der eine echte gesellschaftspolitische Vorwärtsbewegung auslösen könnte (abgesehen davon, dass sich dieser moderne Feminismus im Politikstil so wohltuend von der unwürdigen Sandkasten-Rangelei zwischen Söder und Laschet absetzt). Deutschland braucht neues Denken, einen neuen Politikstil und eine neue Generation von Politiker:innen – dafür steht das Duo Baerbock-Habeck. Und dies könnte auch einen Mobilisierungsschub für die anderen progressiven Parteien auslösen.

Worauf es bei allen Vorschusslorbeeren nun für die Grünen ankommt

Die Partei war vor wichtigen Wahlen schon häufiger Umfrage-Weltmeister und hat dann auf den letzten Metern an Zustimmung verloren. Zugleich ist an das Schicksal des zwischendurch zum Heilsbringer verklärten Martin Schulz als Kanzlerkandidat 2017 zu erinnern. Vor diesem Hintergrund dürfen die Grünen jetzt keine Fehler zu machen, die an der eigenen Regierungsfähigkeit, Professionalität und Teamorientierung Zweifel aufkommen lassen könnten.

Die Kernherausforderung von Baerbocks Wahlkampfs wird es sein, überzeugend zu vermitteln, dass sie nicht nur eine Vision, sondern auch die Kompetenz hat, eine der mächtigsten Industrienation der Welt zu regieren.

Und sie muss die vielen unterschiedlichen Interessen, die an die Grünen in ihrer neuen Rolle herangetragen werden, in eine gesunde Balance bringen. Dies betrifft insbesondere das Kunststück, das idealistisch-diskursfreudige linke Kernmilieu bei der Stange zu halten und zugleich neue ”Volkspartei der Mitte” zu sein – womit eben auch eine breite Einladung an eher konservativ gesinnte Wähler:innen-Milieus verbunden sein muss. Kurzum: Der neue grüne Volkspartei-Modus muss in den kommenden Wochen über die gebildeten, urban geprägten “Wohlfühl”-Milieus hinausstrahlen.

Bei diesem Ritt auf der Rasierklinge könnten die Grünen sehr wohl noch ins Straucheln geraten. Problematisch bleibt zudem, dass die Grünen – wenngleich derzeit als großer Aufsteiger auf dem Wähler:innen-Markt gefeiert – in vielen Regionen Deutschlands jenseits der großen Städte kaum mehr sind als eine Klein- und Randpartei. Wie sehr dies zum Problem werden kann, haben gerade erst die hessischen Kommunalwahlen eindrucksvoll gezeigt.

Fazit

Der Prozess der grünen Kandidatinnen-Kür deutet eindrücklich darauf hin, dass 2021 ein völlig neuer Politikstil die politische Bühne dominieren könnte.

Und unabhängig davon, wie man zu den Grünen steht: Die anderen Parteien in Deutschland und Europa sind gut beraten, die Disziplin, Geschlossenheit und Strategiefähigkeit der Grünen in ihrer aktuellen Anmutung genau zu studieren. Hier gibt es viel zu lernen. Wenn dieser Lernprozess zur Folge hätte, dass in Deutschland ab Herbst 2021 eine Koalition wirklich erneuerungsfreudiger Kräfte regiert, wäre das unendlich viel wert. Denn Deutschland und Europa, von Coronamüdigkeit und wirtschaftlicher Auszehrung gezeichnet, haben auf vielen Ebenen einen Aufbruch zum besseren Neuen dringend nötig.

Autor

Dominic Schwickert

Geschäftsführer des Progressiven Zentrums
Dominic Schwickert ist seit Ende 2012 Geschäftsführer des Progressiven Zentrums. Er hat langjährige Erfahrung in der Politik- und Strategieberatung (u.a. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bertelsmann Stiftung, IFOK GmbH, Stiftung Neue Verantwortung, Deutscher Bundestag, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie).

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