Wie kann das Produktivitätswachstum in Deutschland und der EU so gestärkt werden, dass nicht nur die Zentren, sondern auch die Peripherien davon profitieren? Und welche Rolle spielen dabei Investitionen und wettbewerbspolitische Rahmenbedingungen? Gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung luden wir ExpertInnen aus Politik, Wissenschaft und Verwaltung zum zweiten European Policy Lab “Wachstum und Produktivität” ein, um Antworten auf diese Fragen zu finden.
Wie in vielen Industrienationen hat sich das Produktivitätswachstum in Deutschland und der Europäischen Union in den letzten Jahrzehnten verlangsamt. Es gelingt inzwischen nur wenigen Unternehmen, hohe Produktivitätszuwächse zu erzielen. In Folge dieser Entwicklung konzentriert sich das Wirtschaftswachstum auf bestimmte, oft urbane Regionen. Zudem scheint mit der steigenden Konzentration von Marktanteil in den Händen weniger führender Unternehmen – und an bestimmten geographischen Standorten – auch die soziale Ungleichheit in Europa zu wachsen. Dieser Trend droht zunehmend das europäische Wohlstandsversprechen zu gefährden.
Was muss eine europäische Wirtschaftspolitik leisten, um diesen Herausforderungen effektiv entgegenzutreten? Wie können wir die Rahmenbedingungen so verändern, dass mehr Menschen von Wachstum profitieren und sich Wohlstand geografisch gleichmäßiger verteilt? Welche Maßnahmen und Strategien sind geeignet, um die Innovationskraft gerade auch in der Peripherie zu stärken und gleichzeitig international wettbewerbsfähige Unternehmen zu fördern?
Diese Fragen diskutierten:
- Kerstin Andreae MdB, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen,
- Dr. Philipp Steinberg, Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik im Bundeswirtschaftsministerium für Wirtschaft und Energie,
- Prof. Dr. Alexander Kritikos, Forschungsdirektor der Querschnittsgruppe „Entrepreneurship“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), sowie
- Prof. Dr. Jörg Rocholl, Präsident der internationalen Wirtschaftshochschule ESMT Berlin.
Dr. Max Neufeind, Referent für Strategie und Digitalen Wandel in der Leitungsabteilung des Bundesministeriums der Finanzen und Policy Fellow von Das Progressive Zentrum, moderierte die Veranstaltung. Das European Policy Lab fand unter der Chatham House Rule statt.
Niedriges Produktivitätswachstum in der EU: regulatorischer Flickenteppich, geringe Investitionen und Superstar-Firmen
Vor dem Hintergrund des rasanten technologischen Fortschritts der letzten Jahrzehnte erscheint das stagnierende Produktivitätswachstum zunächst paradox. Die ExpertInnen wiesen darauf hin, dass ein Blick auf aggregierte Zahlen nicht ausreiche, um dieses Phänomen zu durchdringen. Schaue man sich die Daten im Detail an, werde deutlich, dass einige große Unternehmen – sogenannte Superstar-Firmen – gerade im Bereich der Plattformökonomie ein starkes Produktivitätswachstum erzielen. Durch Netzwerkeffekte und Größenvorteile würden sie für die Konkurrenz uneinholbar und dominierten ihre jeweiligen Märkte, so die Analyse einiger Teilnehmender. Diese Entwicklung hemme die Diffusion von Innovationen und verlangsame so das Produktivitätswachstum.
Neben der Diskrepanz zwischen Spitzenunternehmen und den übrigen MarktteilnehmerInnen bestehe innerhalb der EU auch ein starkes Nord-Süd-Gefälle, so einige ExpertInnen. Besonders Italien und Griechenland wiesen ein besonders geringes Produktivitätswachstum auf, während die skandinavischen Länder deutlich besser abschnitten. Als eine Ursache identifizierten die Teilnehmenden vor allem die unterschiedlichen regulatorischen Rahmenbedingungen innerhalb des Binnenmarktes. Die administrativen Hürden für Unternehmen seien in den südlichen und östlichen Mitgliedsländern deutlich höher, das Durchsetzen von vertraglichen Ansprüchen deutlich schwieriger, was auch dazu führe, dass nicht erst seit der Finanzkrise immer mehr Innovatoren in Richtung Nord- und Westeuropa abwandern. Dies treffe die Entsendeländer, die dadurch an Innovationskraft verlieren, besonders schwer.
Als weiteren Grund für das stagnierende Produktivitätswachstum machte die Runde eine unzureichende europäische Investitionsstrategie aus und wies auf die Fragmentierung der europäischen Finanzmärkte hin. Um Produktivität zu stärken und Wachstum inklusiv zu gestalten, müsste grenzüberschreitendes Investieren erleichtert werden. Einige TeilneherInnen wiesen darauf hin, dass auf europäischer Ebene in Zukunft klimafreundlich in die (digitale) Infrastruktur investiert werden müsse, was besonders für die Peripherie von hoher Bedeutung sei. Als mögliche zentrale Akteurin wurde in diesem Zusammenhang die europäische Investitionsbank ausgemacht.
Harmonisierung und Investitionen, ja! Aber wie?
Der Analyse entsprechend bestand Einigkeit darüber, dass die wettbewerbspolitischen Rahmenbedingungen des europäischen Binnenmarktes einheitlich sein müssen und es zusätzlich einer koordinierten und nachhaltigen europäischen Investitionsstrategie bedarf, um das Produktivitätswachstum erfolgreich anzukurbeln. Die eigentliche Schwierigkeit bestehe vielmehr darin, sich auf konkrete Maßnahmen zur Erreichung dieser übergeordneten Ziele zu verständigen.
Laut einiger Teilnehmender müsse vor dem Hintergrund der Heterogenität des europäischen Wirtschaftsraums verstärkt diskutiert werden, an welchen Stellen Harmonisierungen möglich und nötig und in welchen Bereichen spezifische, nationale Lösungen vorzuziehen seien. Neben Hebeln zur Stärkung der Eigenkapitalinstrumente wie einer besseren Integration des Crowdfunding-Marktes und einer Erleichterung grenzübergreifender Finanzierung von Start-ups müssten womöglich auch Bereiche in Angriff genommen werden, die mit stärkeren Widerständen in den Nationalstaaten verbunden seien, wie beispielsweise die Angleichung von Insolvenzrechts- und Verwaltungsvorschriften.
Bezüglich einer benötigten Investitionsoffensive sprachen sich einige Teilnehmende dafür aus, die Rolle des Staates in der Wirtschaft neu zu denken. Anstatt sich darauf zu beschränken, einen Ausgleich zwischen verschiedenen Wachstumsmodellen in den einzelnen europäischen Ländern zu schaffen, müsse eine umfassende wirtschaftspolitische Wachstumsstrategie für Europa entwickelt werden. Die zuständigen Institutionen müssten sich dabei in ihrer Rolle nicht rein ordnungspolitisch, sondern auch innovationssteuernd verstehen, so einige Teilnehmende. Dazu gehöre auch, die europäischen Fonds mehr in Richtung nachhaltige und regionale Innovationssysteme zu lenken. Eine zentrale Herausforderung bestehe darin, die Innovationsförderung zwischen Zentrum und Peripherie so zu steuern, dass sie zugleich dem Ziel der Effizienz als auch der Inklusion gerecht werde.
Kann Europa in der Plattformökonomie noch eine tragende Rolle spielen?
Einen weiteren Baustein für eine erfolgreiche Wachstumsstrategie identifizierten die Teilnehmenden in der Konkurrenzfähigkeit europäischer Unternehmen auf den großen Zukunftsmärkten. Neben der künstlichen Intelligenz wurde hier vor allem Europas Rolle in der Daten- und Plattformökonomie kontrovers diskutiert. Die derzeit auf den Aktienmärkten am höchsten bewerteten Unternehmen lägen allesamt außerhalb der EU. Während einige Teilnehmende argumentierten, dass die großen amerikanischen und chinesischen Plattformunternehmen nicht mehr einzuholen seien, stellten andere auf die Unvorhersehbarkeit von Innovationen (innovation as the previously unthinkable) ab und räumten europäischen Unternehmen durchaus Chancen ein, konkurrenzfähig zu werden. Es ginge hier nicht darum, das nächste Google hervorzubringen, sondern neuartige, dezentrale und vernetzte Plattformmodelle zu entwickeln. Zudem hätten europäische Unternehmen gerade im Business-to-Business Bereich das Potenzial, mit der internationalen Konkurrenz mitzuhalten, so einige ExpertInnen.
Die europäische Wirtschaftsordnung der Zukunft: nachhaltig, innovationsfreundlich und koordiniert
Abschließend betonten die Teilnehmenden, dass Europa angesichts aktueller disruptiver Entwicklungen wie der Energiewende, der Digitalisierung und geopolitischen Verschiebungen vor der Herausforderung stehe, die eigene Wirtschaftsordnung so auszurichten, dass sie gegenüber dem amerikanischen und dem chinesischen Modell konkurrenzfähig bleibe. Dafür bedürfe es einer nachhaltigen Wachstumsstrategie im ökologischen wie auch im ökonomischen und generationenübergreifenden Sinne sowie einer Vertiefung des Binnenmarktes, die ein innovationsfreundliches Klima im Zentrum und in der Fläche schafft. Konkret sollten dazu in Zukunft die strategisch geeigneten Bereiche für Investitions- und Harmonisierungsinitiativen ausfindig gemacht werden, d.h. die Bereiche, in denen solche Vorstöße wirksam und zugleich umsetzbar sind.
Das zweite European Policy Lab als Teil einer umfassenden Debatte zu inklusivem Wachstum in Europa
Das zweite European Policy Lab war Teil des Projekts „Inklusives Wachstum für Europa“. Am 6. Mai fand das erste European Policy Lab zum Thema Stabilisierung der Eurozone statt. Das dritte European Policy Lab am 25. September rückt Fragen zu europäischer Konvergenz und Mindeststandards in den Mittelpunkt.
Die Workshop-Reihe schließt damit an das Vorgängerprojekt von Das Progressive Zentrum “Neue Wege zu inklusivem Wachstum – Impulse für die Soziale Marktwirtschaft von morgen“ sowie die fünfteilige Essay-Reihe „Soziale Marktwirtschaft: All inclusive?“ mit der Bertelsmann Stiftung an.
Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden und der Bertelsmann Stiftung für einen inspirierenden und erkenntnisreichen Austausch und freuen uns auf das nächste European Policy Lab.