Unser Vorsitzender Wolfgang Schroeder schafft einen Überblick über die aktuelle Lage der Koalition in einem Interview für den Blog „Bruchstücke“.
Wolfgang Storz: Diese Ampel-Koalition nennt sich abgekürzt: Koalition des Fortschritts, wie immer der definiert wird. Nach mehr als anderthalb Jahren: welcher Titel passt zu ihr und ihrer Arbeit — was fällt Ihnen summarisch dazu ein?
Wolfgang Schroeder: Es ist nicht zuletzt eine Anti-CDU-Regierung. Das ist aber noch kein Titel, sondern das Ergebnis eines spezifischen machtpolitischen Gelegenheitsfensters; dass die Geburt dieser Koalition ermöglichte. Übrigens war deren Einlösung schon im Herbst 2021 nicht alternativlos. Als Narrativ zur CDU geführten Antithese wurde die nicht weiter reflektierte These der Fortschritts-Koalition geboren. Dass die These vom Fortschritt weniger Abbild einer bestimmten durchdrungenen und entwickelten Haltung ist, zeigt sich auch in der sperrigen und spröden Kommunikationsfähigkeit dieser Koalition. Statt sich einer eigenen Idee des Fortschritts zu versichern, bewegt sich die Koalition vor allem im Krisenbewältigungsmodus, der entweder extern gesetzt oder intern produziert wird. Kurzum, wenn es um einen Titel geht, dann wohl am ehesten: eine reaktive Krisenbewältigungskoalition. In diesem Sinne handelt es sich wohl um eine typisch deutsche Regierung, indem sie nämlich vorgibt, Großes leisten zu können, sich dabei großen Ideen verschreibt; sich aber doch schließlich vor allem in den Ebenen der Mühen, an den eigenen Interessen und Widersprüchen abarbeiten muss, um im Sattel zu bleiben.
Aktiver Stillstand ist zu wenig
Der oberflächlich schauende Beobachter hat den Eindruck: Die Regierung stabilisiert mit immer mehr Geld alte Strukturen und gibt zugleich viel Geld für Neues aus. Also eine Regierung des aktiven Stillstandes.
Aktiver Stillstand kann in Multi-Krisen Zeiten schon viel sein. Schließlich hat dieses Land nicht nur viel vor sich, also große Herausforderungen zu bewältigen, sondern auch viel zu verlieren. Schauen wir nur auf unsere Demokratie, das wirtschaftliche und soziale Fundament. Insofern ist es nicht gering zu schätzen, wenn es gelingt, Strukturen und Verhältnisse zu stabilisieren. Zugleich wissen wir, dass ohne notwendige Strukturveränderungen langfristig diese Dinge nicht zu halten sind, insofern bedarf es einer aktivierenden Bewegung zwischen Stabilisierung und reformorientierter Veränderung. Pointiert: aktiver Stillstand ist zu wenig, um die positiven Seiten unseres politisch-ökonomischen Systems abzusichern und weiter zu entwickeln.
Ein großes Verdienst dieser Regierung?
Sicherlich die Anerkennung der neuen weltpolitischen Lage. Die hierfür besetzte These der Zeitenwende kann aber nicht beliebig auf andere Politikfelder angewendet werden. Vielmehr ist in nahezu allen anderen Politikfeldern eher von einer vagen, unklaren Lage zu sprechen, die kaum den Topos der Zeitenwende beanspruchen kann. Und selbst in der Außen- und Sicherheitspolitik haben wir es mit viel Nebel zu tun, dessen Auflösung und Problemlagen sich erst sukzessive erschließen werden.
Und die entscheidende Schwachstelle?
Indem die Regierung bislang primär der Logik der situativen Dringlichkeit gefolgt ist, sind die Fragen nachhaltiger Wichtigkeit unzureichend profiliert. Geht man einmal davon aus, dass dem Gelingen einer nachhaltigen ökologischen-sozialen Transformation eine herausragende Bedeutung zukommt, dann ist deren positive Verankerung im politisch-ökonomischen Gefühlshaushalt sicherlich noch nicht hinreichend abgesichert. Es ist nicht zu sehen, dass das Verhältnis von beschleunigen und bremsen wirklich überwunden wird. Das ist aber nicht einfach durch die politisch verantwortlichen Akteure zu schaffen. Dazu braucht es zentraler gesellschaftlicher Akteure, die mithelfen zu beschleunigen und ebenso mithelfen das das Bremsen nicht zur zweiten Haut wird, sondern nur in besonderen Konstellationen zum Einsatz kommt. Wenn man sich z.B. einmal anschaut wie verzweifelt dieses Land, um den großen Schritt in der Digitalisierung wirbt, fast beschwörend, und wie langsam auf diesem Feld ein Fortkommen fest zu stellen ist. Da ist man schon fast geneigt, zu sagen, stellt mal eine Weile alle Kommissionen ein, die sich mit diesen Fragen befassen und tut etwas, zeigt, dass es vorangeht. Ich will damit nicht die These bedienen, dass wir kein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsdefizit haben. Beide Dimensionen scheinen sich vielmehr zu bedingen. Aber man braucht sichtbaren Fortschritt auch um den Leuten zu zeigen, dass es nicht nur um ein wolkiges Bla-Bla geht.
Kann man das so sagen: Die externe Opposition, ob AfD, Union oder Die Linke, ist zu schwach, um die Ampel-Regierung in Bedrängnis oder gar aus dem Tritt zu bringen?
Die Opposition reicht von der rückwärts gerichteten, extremen AfD bis zur halb konstruktiven Union. Die Union als stärkste Oppositionskraft bietet der Ampel durchaus rhetorisches Paroli und Merz scheint seine Fraktion zu führen. Aber man hat nicht den Eindruck, dass es sich dabei um eine Regierungspartei im Wartestand handelt. Da fehlen eigene Vorstellungen, wie die sozial-ökologische Transformation aufgestellt werden kann, wie die Zukunft Deutschlands angesichts von Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demographischem Wandel aussehen könnte. Die halb konstruktive Opposition läuft im reaktiven steady state. Vielleicht bringt die Debatte um das neue Grundsatzprogramm noch einmal frischen Wind in den Wettbewerb. Zuweilen agiert sie allerdings auch im populistischen Modus, wie in der Heizungsdebatte, wo sie in vielen Bildern nicht weit von der AfD entfernt agiert. Insgemsamt kann man wohl sagen, dass die Opposition die Ampel bislang nicht wirklich aus dem Tritt bringt, das macht die Ampel schon selbst, indem sie eins ums andere Mal zwischen ihren polaren Positionen segelt und kein Bild geschlossenen Handelns abgeben kann.
Hat diese Regierung aufgrund ihrer Parteien-Konstruktion die Opposition in sich integriert: mal mehr die FDP, mal mehr die Grünen?
Die Ampel ist eine Koalition, die die zentralen gesellschaftlichen Milieus in Deutschland abbildet. Zwischen diesen gibt es hinsichtlich des Modus der Transformation noch keinen hinreichenden Konsens. Weil das so ist, müssten mehr Bemühungen unternommen werden, um diesen Konsens zu denken und auszutragen. Es scheint so, dass das Austragen all der Konflikte innerhalb der Ampel für diese eine Belastung ist. Also das öffentlich nachzuvollziehende Ringen um den richtigen Weg wird in der Öffentlichkeit gegenwärtig nicht positiv rezipiert, sondern als Schwäche und Krise identifiziert. Ob die Teilerfolge, die jede einzelne Partei in diesem öffentlichen Bargaining-Prozess erzielt, als Preis zu hoch sind, um den Zusammenhalt der Koalition zu sichern, wird sich zeigen. Jedenfalls scheint die Rollenteilung zwischen einer vorwärtstreibenden Grünen Partei, die für sich reklamiert, die treibende und gute Seite der Transformation zu verkörpern und der FDP, die darauf insistiert die Aktivitäten der Grünen abzubremsen und zu korrigieren, nicht wirklich plausibel zu funktionieren.
Nun hieß es erst: Da ist eine rotgrüne Regierung mit dem Beifahrer FDP. Nach den letzten zähflüssigen Koalitionsfeilschereien heißt es: Nein, das ist eine rotgelbe Koalition mit einem grünen Beifahrer. Wird das wieder wechseln oder kristallisiert sich die letztere Konstellation als dauerhaft heraus: SPD/FDP gegen die Grünen?
Die zurückhaltende Rolle der SPD, fast schon als Moderator, stabilisiert die Koalition. Auffallend ist aber ebenso, dass diese Rolle der SPD nicht wirklich positiv angerechnet wird. Das öffentliche Ringen um den richtigen Weg wird von den Fraktionen und der veröffentlichten Meinung kuratiert und dieser Prozess responsiven Regierens führt jeweils zu neuen Allianzen in der Koalition. Also die Macht der Gegenwart, die sich an den nächsten Themen und den jeweiligen Augenblicks-Konstellationen orientiert, generiert jeweils neue situative Machtverhältnisse. Insofern scheint das konkret praktizierte responsive Verhalten in der medial geöffneten Umfragegesellschaft nicht wirklich günstig für feste Allianzen und Machtverhältnisse in der Koalition.
Wer hat denn in dieser Koalition das letzte Wort? Die Scholz-Partei mit knapp 26 Prozent kann ja wohl nicht als d i e Kanzlerpartei angesehen werden, die im Zweifel die Richtlinien durchsetzt; der erste und vermutlich letzte Versuch in Sachen AKW-Laufzeit ist ja schon entsprechend kläglich verlaufen.
Im Deutschland des Jahres 2023 existiert keine Kanzlerdemokratie. Wir haben eine Verhandlungsdemokratie, die eher symbolisch oder in verfassungspolitischen Extremsituationen das letzte Wort zulässt. Zugleich bieten bestimmte Konstellationen, die wir auch als Gelegenheitsfenster bezeichnen können, die Möglichkeit, spezifische Interessen und Positionen jenseits der Verhandlungsdemokratie durchzusetzen. Das hat Merkel mit der Abschaffung der Wehrpflicht, dem Ende der Atomkraft praktiziert; Scholz mit der außenpolitischen Zeitenwende. Das sind die besonderen Situationen, die nicht beliebig vermehrbar sind. Situationen in denen das Kanzleramt die Fäden so in der Hand hat, um von dort Inhalt, Prozess und Ergebnis zu prägen, sind diesseits der Außenpolitik eher selten.
Es gibt doch in der Regierung, auch in der Gesellschaft keine politische Formation, die auch nur annähernd hegemonial wirken kann. Oder?
Es geht darum, die Prägekraft und Kräfteverhältnisse innerhalb eines spezifischen politischen Zyklus zu erfassen. Damit soll deutlich gemacht werden, dass es eine Abgrenzung zu anderen Zyklen gibt. Zugleich ist das, was sich in diesem Zyklus abspielt nicht beliebig und damit eben auch nicht unabhängig von vorhergehenden Zyklen zu verstehen. Kräftekonstellationen können zeitlich, akteurspolitisch und thematisch umrissen werden. Innerhalb der Regierung streiten missionspolitische und technokratische Positionen miteinander. Beide haben ihre eigenen Zugänge zu den Themen der Regierungspolitik. Die missionspolitischen Haltungen sind vor allem in der FDP und bei den Grünen, während die technokratische Position stärker bei der SPD anzutreffen ist. In der Gesellschaft finden sich neben diesen beiden Zugängen auch noch in erheblicher Lautstärke die populistischen sowie die verschwörungstheroretischen Positionen.
Und es gibt auch keine Idee, kein Projekt, welches eine solche hegemoniale Anziehungskraft vorweisen kann. Richtig?
Die Mission des Koalitionsvetrages scheint klar: die ökologische und digitale Transformation gesellschaftlich und staatlich-adminstrativ abzusichern und die technologischen Möglichkeiten dabei maximal auszunutzen. Zugleich wird darum nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Regierung gestritten. Und zwar sowohl um den Zielkorridor wie auch um die Wege wie auch um den Instrumentenbereich. Zentral sind dabei die Debatten green growth versus de-growth, staatlich-reguliert versus marktlich organisiert.
Am besten keine Masken, kein Tempolimit, keine höheren Steuern für Wohlhabende und Milliardäre — Die FDP ist zur Partei des rücksichtslosen Individualismus geworden. Spiegelt ihre jüngsten anhaltend schlechten Wahlergebnisse wider, dass es in dieser Republik doch solidarischer zugeht, als die FDP es will?
Ja, die FDP. Sie hat den weitesten Weg in diese Koalition, ist mit am unerfahrensten im Regieren und bringt erhebliche Rollenunsicherheit mit. Einerseits sieht sie sich dem Vorwurf aus den eigenen Reihen ausgesetzt, das Feigenblatt für eine linke Koalition zu sein. Andererseits dem Vorwurf, die Opposition in der Regierung zu sein. Beides trifft den Kern ihrer Existenzproblematik in der Koalition nicht ganz. Sie verkörpert die besitzbürgerliche Seite dieser klassenübergreifenden Koalition. Aus der Funktionslogik eines politischen Systems, dass mit begrenzten materiellen und immateriellen Ressourcen ausgestattet ist, bringt sie die Interessen ihrer Klientel ein, und versucht sich als Partei authentisch für ihre Chancen im Parteienwettbewerb zu halten. Auf beiden Ebenen ist sie recht erfolgreich. Bei den vergeichsweise schlechten Wahlergebnissen, die sie seit der Bundestagswahl verzeichnet, muss man erstens sehen, dass ein Teil ihrer Wähler von 2021 wieder zur Union zurück sind. Zutiefst umstritten ist in der FDP, ob sie ihre Politik an den 6% ausrichten soll, die ihr als Stammwähler die Stange halten oder ob sie sich an einem möglichen Potential von 16% orientiert und sich inhaltlich öffnet. Aus dieser Konstellation heraus fehlt ihr als Regierungspartei die dynamische Eindeutigkeit, die mobilisierend wirken könnte. Offensichtlich ist aber, dass sie wenig dazu beiträgt, um ein positives Profil der Regierung zu entwickeln. Dafür ist sie zu schwach, zu unentschieden und zu unsicher.
Eine Autokratie aus wenigen Auto-Konzernen, IG Metall und SPD war viele Jahre der Wohlstands- und Gewinnbringer der Nation. Dieser Machtblock wird jetzt zur entscheidenden Hürde beim Versuch, die Volkswirtschaft ökologisch umzubauen. Wo ist diese Beschreibung falsch?
Diese Gruppen bilden zusammen weniger einen Block als einen lose verkoppelten, fragmentierten Haufen mit begrenzter Strategiefähigkeit. Das wurde sehr deutlich im Frühjahr 2019 als VW gegen den Willen der anderen Automobilkonzerne eine forcierte E-Strategie durchzusetzen versuchte, was zwar vordergründig funktionierte. Aber im Ergebnis nicht wirklich nachhaltig war. Zudem sind diese Akteure aufgrund verschiedener Entwicklungen schwächer geworden. Dazu zählen der Aufstieg der Chinesen, die Stärke der Amerikaner aber eben auch die zu zögerliche Fähigkeit zur eigenen strategischen Positionierung. Stattdessen verharrt man zu sehr in einem uneindeutigen Sowohl-als-auch. Also die entscheidende Hürde beim ökologischen Umbau der Volkswirtschaft ist dieser Machtblock nicht. Das sogenannte bürgerliche Lager mit der Union an der Spitze hat sich hinsichtlich eigener, innovativer Ideen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Dazu kommt eine vetoorientierte Gesellschaft und ein nicht gut aufgestellter Staatsapparat.
Ist der Großkonflikt um die sozial-ökologische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich der alles Entscheidende, so dass man sagen kann: Klar, Außenpolitik, Waffenlieferungen, Cannabis ja/nein, Gender-Sprache, das alles ist irgendwie auch wichtig, aber letztlich vor diesem Großkonflikt zu vernachlässigen?
Entscheidend ist die Rahmung dieser Konfliktlagen: Werden die Konflikte eher kulturalisiert oder werden sie stärker in den Dimensionen der sozio-ökonomischen Konfliktlagen thematisiert. Im zurückliegenden Zyklus dominierten die sozio-kulturellen Konflikte. Es spricht einiges dafür, dass die ökologische Transformation auch in diesem Strudel bleibt. Da das politische System eigentlich darauf geeicht ist, potentielle Großkonflikte kleinzuhacken, erscheinen sie auch nicht als solche. Gesetze sind kleinteilig und adressieren jeweils überschaubare Gestaltungsräume, die dann im Rahmen der Verhandlungsdemokratie mit ihren diversen Tauschmechanismen entschärft werden. Das Denken in der Kategorie des Großkonfliktes verlangt eine aktive strategische Choreographie, die in entsprechende Kräfteverhältnisse eingebunden sein muss. Bei der technologischen Kleinteiligkeit, die in der politischen Arena vorherrscht, ist es sehr schwer, die DNA des Großkonfliktes hoch zu halten, es ist mühsam und kaum durchzuhalten. Zugleich gelingt es der populistischen Koalition der Bremser und Ignoranten die kleinen Fehler der Koalition – siehe Heizungskonflikt – als das Scheitern des Großprojektes auszugeben. Zugleich und daran muss unbedingt erinnert werden, könnte man in der Transformation doch auch das Angebot sehen, um eine grundlegenden Modernisierung der Volkswirtschaft zu ermöglichen , bei der nicht nur alle gebraucht werden, sondern auch alle im Sinne ihrer Interessen mitwirken können. Wo bleibt also das Großprojekt und die damit verbundene Großkonfliktlage? Auch wenn die Opposition einiges dafür tut, um den Großkonflikt herbeizuschreien, sehe doch eher sehr viele, unzählige Kleinkonflikte, die nicht einfach an einen Großkonflikt rückgebunden werden können. Der Großkonflikt scheint mir in diesem Sinne eine Schimäre. Die einen versuchen die großen Ziele in kleinen Schritten zu erreichen und die anderen versuchen den Großkonflikt herbeizuschreien.
Es gibt bei diesem Groß-Konflikt zwei Linien: Technik oder das Leben ändern. Die eine sagt, wir werden genügend technische Verfahren und Produkte neu entwickeln, mit denen wir alle Probleme rund um die Klimakatastrophe lösen, ohne dass jemand seinen Lebensstil wird ändern müssen. Die anderen, vor allem die Grünen und Teile der Linken, sagen dagegen: technische Neuerungen recht und schön, aber das wird keinesfalls reichen, die Bevölkerung wird anders leben und deutlich weniger konsumieren müssen — weniger reisen, Energie und Wasser verbrauchen, Fleisch essen. Ist diese Konfliktlinie weitgehend korrekt beschrieben?
Ja, in der Theorie kann man eine solche Konfliktlage zeichnen. Beides wird notwendig sein. Bei den Verhaltensänderungen wird der Widerstand groß werden; weshalb Regierungspolitik gut beraten ist, diese Dimension auf hintergründige Weise zu moderieren. Bei den technologischen Dimensionen stehen wir erst am Anfang. Für die meisten Bereiche haben wir kaum eine Vorstellung über die immensen Möglichkeiten im Guten wie im Bösen. Ich vertrete die Auffassung, ohne eine kontrollierte, gleichwohl dynamische Nutzung neuer Technologien und Prozesse werden wir weder die ökologischen noch die demokratiepolitischen Herausforderungen bewältigen können.
Unternehmen sind immer auch Wunschmaschinen
Die Parteien, welche auf die Strategie der Technik setzen wie Union, FDP und SPD, gehen doch grundsätzlich davon aus: Es bedarf keiner politischen Visionen. Es reicht, wenn die Unternehmen in ihren Innovationsschmieden genügend neue Techniken entwickeln. So sind und werden Unternehmen zu den treibenden Visionären, nicht Parteien und gesellschaftliche Organisationen.
In der Aufzählung fehlen die Grünen. Ich empfehle gerne das Grundsatzprogramm der Grünen aus dem Jahr 2020: Habe selten ein Parteiprogramm gelesen, dass so viel Technikbegeisterung ausstrahlt. Wer mit Technik Probleme lösen will, muss missionarisch denken und handeln. Nicht erst seit der Atomkraftdebatten gehört dazu auch eine kritische Auseinandersetzung mit den nicht intendierten Folgen des avisierten Technikeinsatzes. So wird offensichtlich, dass diejenigen, die einfach auf Technik setzen, ohne dafür eine gesellschaftliche Strategie zu haben, eher scheitern werden. Auffallend ist, dass auch Unternehmen, die erfolgreich sind, sich zumindest auf die Wünsche und Ideen der Menschen einlassen. Dafür steht die deutsche Industriegeschichte: Unternehmen wie Bosch, Mercedes, BASF waren immer auch Wunschmaschinen. Dagegen waren die Parteien im Hinblick auf Technik eher reaktiv oder allgemein-missionarisch.
Gemessen an den Wahlbeteiligungen — mit maximal 50 Prozent und deutlich darunter, auf der Ebene der Länder oder der Kommunen — scheint die Gesellschaft von diesem Großkonflikt noch nicht elektrisiert und politisiert, sondern eher apathisch zu sein.
Ich erlebe die Gesellschaft nicht apathisch. Zwar sind die klassischen Großorganisationen von den Parteien bis zu den Kirchen, von den Gewerkschaften bis zu den Verbänden schwächer geworden. Zugleich gibt es aber immens viele neue Möglichkeiten sich zu artikulieren, was auch schon ein Problem sein kann, wenn das gemeinsame Lagerfeuer in dieser Vielfalt verloren geht. Aber im Hinblick auf die ökologische Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat ist noch viel Luft nach oben. In diesem Kontext bieten sich auch vielfältige Chancen, die eigenen Ideen einzubringen und damit das neue, kommende Zeitalter mitzuprägen.
Bruchstücke 19.06.2023. Ein Interview von Wolfgang Storz.