Was sind die Lehren aus der Wahl in NRW?

Wahlnachlese mit Julia Schwanholz und Thorsten Faas

Steht einer schwarz-grünen Koalition im bevölkerungsreichsten Bundesland noch etwas im Wege? Was erklärt die niedrige Wahlbeteiligung in Nordrhein-Westfalen? Warum konnte gerade die SPD nicht mehr Wähler:innen mobilisieren? Über die wichtigste Landtagswahl des Jahres und ihre Auswirkungen auf die Ampelregierung im Bund diskutierten wir mit Julia Schwanholz und Thorsten Faas.

Mit den Ergebnissen der Landtagswahl haben sich die Karten für die Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen neu gemischt. CDU und Grüne gehen als Gewinnerinnen aus der Wahl hervor, während SPD, FDP, Linke und AfD deutliche Verluste verzeichnen. Neben dem hohen Abstand zwischen CDU und SPD überrascht besonders die geringe Wahlbeteiligung von 55,5 Prozent. Was war besonders an dieser Landtagswahl? Und was bedeutet der schwarz-grüne Wahlerfolg für die Ampelregierung in Berlin? Das diskutierten wir im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe “Progressives Regieren” mit der Politikwissenschaftlerin Julia Schwanholz und dem Wahlforscher Thorsten Faas. Moderiert wurde die Runde von Leonard Novy, Journalist und langjähriger Wegbegleiter des Progressiven Zentrums.

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Wahlsieg ist nicht gleich Regierungsauftrag

Lässt sich aus den Wahlergebnissen ein schwarz-grüner Regierungsauftrag ableiten? Nicht unbedingt, meint Wahlforscher Thorsten Faas. Die umlaufenden Gewinnernarrative seien vielmehr parteipolitische und strategische Kämpfe um Deutungshoheit. Und mit dem Konzept des Regierungsauftrags kann Faas wenig anfangen. Wenn Parteien rechnerisch als Siegerinnen aus einer Wahl herausgingen, impliziere dies nicht direkt einen Auftrag der Wähler:innen an die stärksten Parteien, die Regierung zu übernehmen. Regierungsbildung sei immer ein Aushandlungsprozess, der in der Bundesrepublik keinen festgeschriebenen Regeln unterliege. 

Es gibt keine Regeln für die Phase der Koalitionsbildung. Es liegt komplett in der Hand der politischen Parteien, mit wem sie reden und mit wem nicht.

Thorsten Faas

Julia Schwanholz ist anderer Meinung: Es gebe durchaus auch Traditionen, ungeschriebene Regeln und Strukturen, die bestimmten wie die Koalitionsbildung ablaufe. Eine dieser Regeln sei mit Sicherheit die: „Der Wahlsieger eröffnet die Gespräche.“

Grundsätzlich sehen jedoch beide eine schwarz-grüne Regierung als wahrscheinliche Option in NRW. Das Wahlergebnis beschere aber besonders den Grünen neue Handlungsspielräume. In einer schwarz-grünen Koalition könnten sie möglicherweise aus einer starken Position heraus agieren, da die Alternative einer Ampel-Regierung auch weiterhin bestünde. CDU-Ministerpräsident Wüst habe diese Option nicht, er müsse also den Partner glücklich halten. Eine solche Koalitionsbildung wäre aber auch nicht ohne harte Auseinandersetzungen zu haben: Denn während die Grünen die ökologische Transformation zielstrebig voranbringen wollten, stünde die Union in NRW für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Konfliktpotenzial und Uneinigkeit bestehe aber auch bei anderen Themen wie Bildungs-, Wohnungs- und Landwirtschaftspolitik.

Wahlbeteiligung ist nicht überall gleich (gering)

Das historisch beste Wahlergebnis der Grünen war nicht der einzige Rekord, den die NRW-Wahl hervorgebracht hat. Obwohl die Demoskopen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Spitzenkandidaten Wüst und Kutschaty prognostiziert hatten, machten sich nur knapp 55% der Wahlberechtigten auf den Weg zur Urne. Die Wahlbeteiligung erreichte damit ein Rekordtief in der nordrhein-westfälischen Geschichte. Thorsten Faas weist daraufhin, dass sich damit ein langanhaltender Trend sinkender Wahlbeteiligung in NRW fortsetze. Bei der vergangenen Landtagswahl 2017 lag der Wert zwar 10 Prozentpunkte höher, das habe aber vor allem an der zeitlichen Nähe zur Bundestagswahl und der Mobilisierungskraft von – man hat es schon beinahe vergessen – Martin Schulz gelegen. 

Betrachtet man die Beteiligungsdaten etwas genauer, lassen sich große regionale Unterschiede feststellen: Im Wahlkreis Duisburg III lag die Wahlbeteiligung bei 38%, in Münster III/Coesfeld bei fast 70%. Die regionalen Unterschiede stehen aber auch in einem starken Zusammenhang mit sozio-ökonomischen Faktoren. Thorsten Faas weiß:

In prekären Stadtvierteln ist die Beteiligungsrate deutlich geringer als in wohlsituierten Gebieten. Argumente wie ‘die Leute sind so zufrieden, deswegen gehen sie nicht wählen’ sind Humbug.

Thorsten Faas

Mehr politische Bildung und mehr Mobilisierung

Aus der Diskussion wurde aber auch deutlich, dass die Politikwissenschaft aufgrund begrenzter Datenlage vor großen Herausforderungen bei der Erforschung der Nicht-Wähler:innen und ihrer Motive steht. Julia Schwanholz wehrt sich auch deshalb gegen pauschale Aussagen, wie sie kurz nach der Wahl in der Welt zu lesen waren. Dort hieß es, dass die Nicht-Wähler:innen mit knapp 45% die stärkste Kraft bei der Wahl gewesen seien. Das impliziere, dass es sich bei der Gruppe um einen homogenen Block mit gemeinsamer politischer Haltung handele und sei so nicht haltbar. 

Was lässt sich gegen die sinkende Wahlbeteiligung ausrichten? Schwanholz setzt auf politische Bildung: Aus ihrer Fokusgruppen-Forschung zu politischer Beteiligung junger Menschen im Raum Duisburg weiß sie, dass das politische Bildungsniveau – unabhängig von Bildungsgrad und sozio-ökonomischem Status – sehr niedrig ist. Durch mehr politische Bildung könne laut Schwanholz eine höhere Wahlbeteiligung erreicht werden:

Unser politisches System ist eine kompliziertes System. Es muss auch gelernt werden.

Julia Schwanholz

Thorsten Faas hat einen weiteren Vorschlag, der nicht so sehr an der Wurzel ansetzt wie die politische Bildung, aber dafür schnellere Ergebnisse verspricht: Mobilisierungsmaßnamen. Klassische Wahlkämpfe, wie Tür-zu-Tür-Kampagnen, seien auch im digitalen Zeitalter noch eines der wirksamsten Mittel.

Wir müssen hingehen, wo die Menschen sind und nicht davon ausgehen, dass sie aus sich selbst heraus den Weg in das Wahllokal finden.

Thorsten Faas

Die Ampelkoalition gerät nicht gleich ins Wanken

Geringe Wahlbeteiligung, die enttäuschenden Ergebnisse für Thomas Kutschatys SPD und eine FDP, die sowohl in Schleswig Holstein als auch in Nordrhein-Westfalen Niederlagen einstecken musste: Schwächen diese Entwicklungen die Ampelkoalition im Bund? Nicht unbedingt, argumentieren Schwanholz und Faas. Laut Faas weist die NRW-Wahl aber auf einige wichtige Aspekte für den zukünftigen Erfolg oder Misserfolg der Ampelregierung hin:

Für die Ampel ist das ein schmaler Grat. Wenn nun einzelne Parteien beginnen, sich konstant zu profilieren, zu streiten, dann fällt ihnen das am Ende auf die Füße.

Thorsten Faas

Gerade die FDP sei zum Erfolg im Regierungsbündnis verdammt. Auseinanderbrechen, sind sich beide einig, werde die Ampelkoalition an den Wahlergebnissen aber nicht. Schwanholz bemerkt: “Ich bin eher erschüttert, dass das medial so herbeigeredet wird”. Die Regierung im Bund stehe vor Herausforderungen, aber mit Blick auf die nächste Landtagswahl in Niedersachsen könne sich die Ampel doch eher optimistisch gestimmt zeigen, denn Ministerpräsident Weil (SPD) werde wohl kaum abgewählt werden.

Schwarz-grüne Konkurrenz?

Auch wenn die Fliehkräfte innerhalb der Bundesregierung noch kontrollierbar scheinen, deutet sich mit der NRW-Wahl ein Dilemma an, das den Ampelparteien noch Kopfzerbrechen bereiten dürfte: Auf der einen Seite steht der Drang, sich auf Bundesebene parteipolitisch zu profilieren. Auf der anderen Seite das Bewusstsein, dass die aktuellen Krisenzeiten eine geeinte Bundesregierung erfordern. Den Grünen gelingt die Verbindung von staatspolitischer Verantwortung und parteipolitischem Profil zurzeit sehr gut – aus Sicht von SPD und FDP vielleicht zu gut. Denn in NRW wird aller Voraussicht nach nun eine Koalition entstehen, die durchaus auch als Konkurrenzmodell zur Ampel verstanden werden kann.


Kurzbiographien

Julia Schwanholz ist Politikwissenschaftlerin und Akademische Rätin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Göttingen und hat Professuren in Gießen, Kassel und Duisburg-Essen vertreten. Ihre Forschungsthemen betreffen Parlaments-, Demokratie- und Public Policy-Forschung mit einem Schwerpunkt auf der Digitalen Transformation. Julia Schwanholz ist außerdem SPD-Parteimitglied.

Thorsten Faas ist Politikwissenschaftler und Professor für „Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland“ am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Schwerpunkt forscht er zu Wahlen und Wahlkämpfen und Wählervehalten. Zuvor war er Professor für Politikwissenschaft im Bereich „Empirische Politikforschung“ an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbesondere Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

Leonard Novy ist Journalist und Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik, eines Think Tanks zu Medien, Öffentlichkeit und Digitalisierung mit Sitz in Berlin und Köln. Zudem berät er ausgewählte Organisationen aus Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft zu Fragen rund um Innovation, Strategieentwicklung und Kommunikation. Leonard Novy ist außerdem Politikwissenschaftler und Mitglied im Circle of Friends des Progressiven Zentrums.

Veranstaltungsreihe “Progressives Regieren”

In der Veranstaltungsreihe “Progressives Regieren” nimmt das Progressive Zentrum politische Ereignisse zum Anlass, die strategischen Voraussetzungen für die Bildung progressiver Mehrheiten und den Erfolg progressiven Regierens zu diskutieren. Bei der digitalen Wahlnachlese ‘NRW-Wahl im Zeichen der Krisen: Wer profitiert vom Amt – Bund oder Land?’ vom 17. Mai 2022 diskutierten Julia Schwanholz und Thorsten Faas über die Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundeslandes und ihre Auswirkungen auf die Bundespolitik. Moderiert wurde die Runde von Leonard Novy, Journalist und Mitglied im Circle of Friends des Progressiven Zentrums.

Autor:innen

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.
Björn arbeitete von 2021 bis 2022 im Progressiven Zentrum und unterstützte als Assistent den Referent für Grundsatzangelegenheiten. Er studiert Politikwissenschaft und Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, wobei er sich vor allem für Identitäten, Ungleichheiten und Aushandlungsprozesse postmigrantischer Gesellschaften interessiert.
Seit April 2022 unterstützt Klara als Praktikantin das Team Events im Progressiven Zentrum. Während ihres Bachelorstudiums am University College Maastricht und der Université de Montréal beschäftigte sie sich mit Internationalen Beziehungen und Geschichte.

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