Vertrauen, Vorsprung, Aufbruch

Ein Impuls für progressive Politik in Ostdeutschland

Nur mit einem bewusst interventionistischen Impuls wird es gelingen, in Ostdeutschland einen dringend benötigten neuen Schub auszulösen, schreibt Thomas Kralinski. Nur so könne das Vertrauen in Politik, Institutionen und die gesamte Demokratie wieder wachsen.


Die Landtagswahlen in Ostdeutschland haben ein neues Parteiensystem hervorgebracht: Es gibt zwei mittelgroße Parteien (von denen eine nicht regierungs- und koalitionsfähig ist) und drei kleinere Parteien. Dies führt zu größeren Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung, da die Verunsicherung bei den potenziellen Regierungspartnern groß ist – und das Ausmaß der Herausforderungen ebenfalls.

Wie lässt sich das Wahlergebnis erklären?

Eklatant ist der große Verlust von Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Demokratie insgesamt. Dieser Vertrauensverlust bezieht sich auch auf die Handlungs- und Steuerungsfähigkeit von Staat und Regierungen. Seine Wurzeln liegen in zahlreichen Erfahrungen aus den vergangenen drei Jahrzehnten wie dem wirtschaftlichen und sozialen Umbruch der neunziger Jahre, der Finanzkrise in den Jahren 2008-10 sowie dem Flüchtlingszuzug in den Jahren 2015/16.

Das Vertrauen in Institutionen – ob in die Politik, die Wirtschaft, die Medien oder die Demokratie insgesamt – ist im Osten spürbar geringer als im Westen.

Hinzu kommt das, in weiten Teilen der ostdeutschen Gesellschaft verbreitete, Gefühl, „abgehängt“ zu sein. Tatsächlich ist Ostdeutschland nach wie vor eine „semiperiphere Wirtschaft“ – oder anders gesagt: in vielen Fällen eine verlängerte Werkbank. Auch in Politik und Medien arbeiten Ostdeutsche selten dort, wo die Entscheidungen getroffen werden. Das Vertrauen in Institutionen – ob in die Politik, die Wirtschaft, die Medien oder die Demokratie insgesamt – ist im Osten spürbar geringer als im Westen. Hinzu kommt eine flächendeckende Abwanderung, oftmals der am besten Ausgebildeten, und in vielen Regionen ein enormer Bevölkerungsrückgang. Dieses Gefühl des Abgehängtseins vom ökonomischen, kulturellen und sozialen Fortschritt hinterlässt in der Summe psychische und politische Spuren. 

Was also ist zu tun?

Zunächst einmal geht es um die Wiederherstellung von Vertrauen. Das ist die zentrale Kategorie einer Politik für Ostdeutschland. Der mühsam errungene Kohlekompromiss wird erst dann, auch in den betroffenen Regionen, auf Akzeptanz stoßen, wenn er wirklich Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt und nicht permanent in Frage gestellt wird. Und: Wir brauchen eine wirkliche umfassende Entbürokratisierung und Beschleunigung von Verwaltungshandeln. Wenn es acht Jahre dauert, auf einer Strecke von 30 Kilometern ein zweites Eisenbahngleis zu verlegen, dann trägt das nicht zum Eindruck von staatlicher Handlungsfähigkeit bei. 


Dies ist ein Beitrag für den Blog „Progressives Regieren 2020plus“. In diesem setzen AutorInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und politischer Praxis Impulse für eine progressive Regierungsagenda ab 2020 und darüber hinaus. 


Zweitens ist mehr Kommunikation nötig. Teile der Wählerschaft nicht nur im Osten funken auf Kanälen, die progressive Parteien nicht (mehr) empfangen – und umgekehrt. Stärkere Nutzung von sozialen Medien, kontinuierliche Bürgerdialoge, neue Beteiligungsmodelle wie Ideenwerkstätten können Instrumente sein, um Bürgerinnen und Bürger umfassend und frühzeitiger in die Politikentwicklung einzubinden. 

„Die Zielmarke „Westniveau“ bedeutet ja immer nur, dass der Osten Entwicklungen hinterherläuft, die anderswo bereits stattfinden. Was die ostdeutschen Länder brauchen, ist ein Vorsprung“

Und drittens ist ein neues Verständnis von Regionalpolitik für und in Ostdeutschland vonnöten. Der Begriff „Aufbau Ost“ stand für das Ziel, möglichst schnell „Westniveau“ zu erreichen. Das ist auf vielen Gebieten gelungen, bei der technischen Infrastruktur oder auf dem Gebiet des Sozialstaates. Doch in der heutigen digitalen und internationalisierten Welt reicht das nicht mehr. Denn die Zielmarke „Westniveau“ bedeutet ja immer nur, dass der Osten Entwicklungen hinterherläuft, die anderswo bereits stattfinden. Peilen wir das Niveau von Oberbayern an, dann heißt das nichts anderes, als ewiger Zweiter zu sein. Das Ziel setzen andere. Was die ostdeutschen Länder brauchen, ist ein Vorsprung, ein komparativer Vorteil von ein paar Jahren, der den Osten positiv von anderen Regionen abhebt, der die Region spannend macht, der Menschen und Unternehmen anzieht. 

„Gerade bei der neuen 5G-Mobilfunktechnik muss der Ausbau zuerst in Ostdeutschland erfolgen – mit staatlicher Unterstützung.“

Natürlich bleibt es richtig, die klassische Infrastruktur bei Autobahnen und Schienen zu vervollständigen. Wirklich entscheidend aber wäre ein echter Entwicklungssprung auf dem Feld der digitalen Infrastruktur. Gegen Geografie kann man bekanntlich nichts machen. Es ist nun einmal so, dass die meisten Regionen im deutschen Osten sehr dünn besiedelt sind. Deshalb sind hier besondere Anstrengungen nötig, um Breitbandinfrastruktur und Mobilfunknetze aufzubauen. Gerade bei der neuen 5G-Mobilfunktechnik muss der Ausbau zuerst in Ostdeutschland erfolgen – mit staatlicher Unterstützung. Das ist auch notwendig, um mit Hilfe der Digitalisierung das Leben und Arbeiten in ländlichen Regionen besser und einfacher zu machen. Denn wir dürfen in Zukunft nicht nur in Metropolen und Wachstumskernen denken, sondern räumlicher. Wir müssen Korridore zwischen den Metropolen entwickeln – und dazu Infrastruktur-, Wirtschafts-, Innovations-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik zu einer Regionalpolitik aus einem Guss verschmelzen. 

„Ganze zwei der 34 deutschen Exzellenzuniversitäten befinden sich im Osten.“

So können die ostdeutschen Länder beispielsweise Vorreiter bei Elektromobilität und autonomem Fahren werden. Die nötige Infrastruktur (wie etwa Ladesäulen) sollte genau hier vorbildhaft errichtet werden. Daneben müssen Industrie- und Forschungspolitik neue Wege gehen und den Mangel an Konzernstrukturen mit staatlicher Unterstützung auffangen. Nach dem bisherigen Muster führt die Exzellenzförderung im Hochschulsektor dazu, dass genau dort immer noch mehr entsteht, wo bereits viel existiert. Ganze zwei der 34 deutschen Exzellenzuniversitäten befinden sich im Osten.

Auch auf den Gebieten der Wasserstoffwirtschaft, Energiespeicherung, Batterieproduktion und künstlichen Intelligenz ist das strategische Engagement des Bundes und Europas nötig – mit dem zusätzlichen Ziel, in Ostdeutschland einen Entwicklungsvorsprung hinzubekommen, eine neue Industrie entstehen zu lassen. 

Nur mit diesem bewusst interventionistischen Impuls wird es gelingen, in Ostdeutschland einen neuen Schub auszulösen. Einen Schub, der mehr Optimismus und Attraktivität schafft. Einen Schub, der viele der abgewanderten Ostdeutschen zur Rückkehr veranlasst. Der zu einem zweiten Aufbruch in Ostdeutschland führt. Nur dann kann auch das Vertrauen in Politik, Institutionen und die gesamte Demokratie wieder wachsen. Und das ist dringend nötig.

Autor

Thomas Kralinski ist Mitgründer des Progressiven Zentrums und war bis 2022 Mitglied des Vorstands. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Osteuropawissenschaft in Leipzig und Manchester (UK).

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