Entweder ich oder das Chaos – das Motiv der Alternativlosigkeit war für Macron in Präsidentschafts- und Parlamentswahlkampf leitend. Nun zeigt sich: Diese Taktik könnte zu grundlegenden Veränderungen des politischen Systems Frankreichs führen.
Als 1984 der sozialistische Präsident François Mitterrand ankündigte, dass die Wahlen zur Nationalversammlung von 1986 nach einem Proporzwahlsystem stattfinden würden, wurde seine Entscheidung in weiten Teilen der französischen Öffentlichkeit als machiavellistischer Schachzug bewertet. Viele Beobachter:innen sahen darin einen Versuch, das mitte-rechts Wahlbündnis durch eine gezielte Förderung der rechtsextremen Front National zu schwächen. Denn nur dank der Wahlsystemänderung gelang es der Partei von Jean-Marie Le Pen, 35 Abgeordnete in Frankreichs Unterhaus zu entsenden. Die Vorstellung, Mitterrand habe den Aufstieg der Rechtsextreme begünstigt, um seine Macht zu festigen, ist in der französischen Öffentlichkeit weiterhin sehr verbreitet. Obwohl die meisten Wissenschaftler:innen dieser These heute skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, so zeigt diese Vorstellung dennoch, wie präsent die Idee ist, dass Frankreichs erfolgreichste rechtsextreme Partei ein effektives machtpolitisches Instrument zur Schwächung politischer Gegner darstellt.
Ob statt wie – ein oberflächlicher Präsidentschaftswahlkampf
Nun spricht bei der Präsidentschaftswahl von 2022 viel dafür, dass Marine Le Pen und ihr Rassemblement National für Emmanuel Macron tatsächlich von großem politischem Nutzen waren. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass die Erfolge von Le Pens Partei und die Frage der adäquaten Strategie ihr gegenüber Macrons Konkurrenten im konservativen Lager stark in Mitleidenschaft gezogen haben. Es war vor allem die Perspektive eines Duells mit Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl, die für Macrons Wahlkampfteam von strategisch zentraler Bedeutung war. Dank dieser Konstellation konnte ein Wahlkampf geführt werden unter dem Schlagwort der Alternativlosigkeit: entweder Macron oder das Chaos. Mit Le Pen als Gegnerin war ein Wahlsieg fast sicher, denn das häufig thematisierte dystopische Szenario einer Wahl der rechtsextremen Kandidatin zur Staatspräsidentin sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Marine Le Pen nach wie vor eine der unbeliebtesten Politikerinnen Frankreichs ist. Zwar ist die polarisierende Logik der Präsidentschaftswahl sicherlich kein Garant dafür, dass aus der Dystopie eine Realität wird, dennoch konnte Macron gegenüber einer solch unbeliebten Kontrahentin die Wahl relativ gelassen angehen.
Die Konfiguration Macron/Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl hatte indessen massive Kollateralschäden auf die inhaltliche Qualität des Wahlkampfes. Anstatt einer Debatte über die politische Agenda für die nächsten fünf Jahre drehte sich der Wahlkampf um binäre Oppositionen zu fundamentalen strukturellen Optionen. So, zum Beispiel, ein Verbleib Frankreichs in der Europäischen Union versus einen de facto EU-Austritt; eine Stärkung vorhandener Militärbündnisse versus ein Verlassen der NATO-Kommandostruktur; eine Rentenreform samt Erhöhung des Renteneintrittsalters versus den unhaltbaren Status quo. In fast allen Politikbereichen gelang es Macron aufgrund von Le Pens Radikalität und Dilettantismus, seinen Wahlkampf mit grundsätzlichen, aber letztendlich vagen Politikversprechen zu führen. Von Fragen der Einwanderung und Integration bis hin zur Bündnispolitik wurde viel über das ob und wenig über das wie debattiert. Aus wahltaktischer Sicht war diese Option für Macron wahrscheinlich die richtige. Warum sollte man mit kontroversen Reformvorhaben Wahlkampf führen, wenn weitestgehend unstrittige Positionen genügen? Die Hauptkonsequenz dieser Entscheidung lässt sich unschwer erkennen: Die Wahlbeteiligung war die niedrigste in einer Präsidentschaftsstichwahl seit über 50 Jahren.
Never change a winning strategy?
Macrons Strategie in der Präsidentschaftswahl war ein geradezu lehrbuchhaftes Beispiel für das, was der amerikanische Politologe William H. Riker in seinem Buch The Art of Political Manipulation (1986) als die Kunst beschrieb, die Dimensionen des politischen Wettbewerbs zu seinem Gunsten zu manipulieren. Was in einem Duell bei der Präsidentschaftswahl recht gut funktionierte, war jedoch im Rahmen der Wahlen zur Nationalversammlung schwieriger, wenn nicht unmöglich umzusetzen. In Frankreich hat sich die Tradition etabliert, dass wenn die Wahl des Unterhauses unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl stattfindet, der frisch neu- oder wiedergewählte Präsident eine komfortable politische Mehrheit zur Umsetzung seines Wahlprogramms erhält. Womöglich war es der Glaube, dass man sich auf diese Tradition verlassen könne, der erklärt, warum das Wahlbündnis um den Präsidenten so spät und so zaghaft in den Wahlkampf zog und warum Macron selbst sich daran kaum beteiligte und die Premierministerin sogar erst 22 Tage nach seiner Wahl ernannte.
Nun hatten viele Wählerinnen und Wähler bei der Präsidentschaftswahl nicht unbedingt für Macron gestimmt, sondern in erster Linie gegen Le Pen. Hinzu kamen zwei Faktoren, die für Macron und sein Wahlbündnis bei den Wahlen zur Nationalversammlung ungelegen kamen. Der erste war der ungewöhnlich lange Zeitabstand zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen und damit auch der längere und daher unvorhersehbarere Wahlkampf. Der zweite war, dass es linke Parteien unter Federführung der linkssozialistischen La France Insoumise (Das unbeugsame Frankreich) wider Erwarten gelang, ein Wahlbündnis zu schmieden: die Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale (NUPES). Gegen diesen politischen Gegner entschied sich Macrons Wahlkampfteam für eine Wiederauflage der Strategie, die gegen Marine Le Pen so gut funktioniert hatte. Die NUPES wurde mit dem Anführer der Unbeugsamen, Jean-Luc Mélenchon, gleichgesetzt. Dieser verkörpere, so Macrons Wahlbündnis, eine radikal euroskeptische, NATO-feindliche und Putin-freundliche Politik. Neben diesem manichäischen Deutungsmuster beschränkte sich der Wahlkampf von Macrons Wahlbündnis im Wesentlichen auf Versprechen für mehr Bürgerbeteiligung im Gesetzgebungsprozess (und damit paradoxerweise für eine Schwächung des Verfassungsorgans, deren Abgeordneten es zu wählen galt) sowie auf die Notwendigkeit einer Rentenreform, deren Kontouren jedoch recht verschwommen blieben.
Das Ende der “republikanischen Front”
Tatsächlich bot der streitlustige Mélenchon nicht zuletzt aufgrund seines vielfach zum Ausdruck gebrachten Wohlwollens gegenüber autoritären Regimen eine beachtliche Angriffsfläche. Das Argument, die NUPES befinde sich, genauso wie Marine Le Pens Partei, außerhalb des republikanischen Spektrums, zog jedoch nicht. Macrons Wahlbündnis ging so weit, in bestimmten Wahlkreisen, in der sich Kandidatinnen und Kandidaten der NUPES für die Stichwahl qualifiziert hatten, für die Bildung einer „republikanischen Front“ gegen sie zu plädieren – ein Begriff der eigentlich der gemeinsamen Blockadestrategie von Parteien unterschiedlicher Ausrichtung gegenüber Rechtsextreme vorenthalten war. Die bedenkliche Umdeutung dieser republikanischen Tradition wurde freilich auch von Mélenchons Unbeugsamen vorangetrieben. So weigerten sie sich in einigen Fällen, die Wahl eines Macron-nahestehenden Kandidaten bzw. Kandidatin gegen Le Pens Partei zu unterstützen.
Dass nicht eine politische Agenda, sondern konstruierte Alternativlosigkeiten und Fundamentaloppositionen den Wahlkampf dominierten, fordert nun einen hohen Preis: Mit 89 Abgeordneten stellt Marine Le Pens Rassemblement National nun mit hoher Wahrscheinlichkeit die größte Oppositionsfraktion in der Nationalversammlung. Damit scheint die gläserne Decke, mit der sich die Partei bei den Parlamentswahlen aufgrund des geltenden Wahlsystems konfrontiert sah, endgültig durchbrochen. Appelle nach einer republikanischen Front sind zu einer leeren Wahlkampfparole geworden, mit der politische Akteure sich gegenseitig die republikanische Legitimität absprechen.
Die neue Nationalversammlung: von Abnickmaschine zum Epizentrum des Protests?
Die vielleicht größte Konsequenz dieses Wahlzyklus liegt jedoch woanders. Studierende des französischen Verfassungsrechts lernen bereits in den ersten Semestern, dass die französische Verfassung in zwei sehr verschiedenen Richtungen interpretiert werden kann: einerseits als System, in dem ein mächtiger Staatspräsident de facto auch die Aufgaben eines Regierungschefs übernimmt und dabei über eine klare Mehrheit in einer Nationalversammlung verfügt; eine Nationalversammlung die, salopp ausgedrückt, zu einer Abnickmaschine der Exekutive verkommt. Andererseits kann die französische Verfassung im Sinne eines klassischen parlamentarischen Systems gelesen werden, in dem die Exekutive größtenteils in den Händen der Regierung und ihres Chefs oder Chefin liegt, die dabei eine andere politisch-ideologische Färbung als der Staatspräsident aufweisen. Den beiden Lesarten gemein ist, dass sie die Rolle der Nationalversammlung stark einschränken (in diesem Zusammenhang ist häufig von einem rationalisierten Parlamentarismus die Rede). Eben weil das französische politische System, im Gegensatz etwa zum deutschen, so wenige Gegengewalten aufweist, findet Oppositionsarbeit oft außerhalb der Verfassungsorgane statt. Als Korrektiv zu den fehlenden verfassungsrechtlich anerkannten Veto-Spielern ist die Straße als Ort von Demonstrationen, Arbeitsniederlegungen und anderen Formen des Protests zu einer festen Arena des französischen politischen Systems geworden. Die Nationalversammlung, die aus den letzten Wahlen hervorgegangen ist, legt den Schluss nahe, dass nun ein Teil des bisher auf den Straßen artikulierten Protests in das politische System integriert wurde. Tatsächlich finden sich unter den neuen Abgeordneten viele Gesichter der Proteste, die die letzten Jahre geprägt haben: linke und rechte Gelbwesten, Tierschützer, eine Ökofeministin, Impfskeptiker und junge Gewerkschaftsaktivistinnen und -aktivisten.
Es wäre sicherlich vermessen, im Wahlverhalten von fast fünfzig Millionen Wahlberechtigten verteilt über 577 verschiedene Wahlkreise einen Wählerwillen erkennen zu wollen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass nach fünf Jahren eines technokratischen Regierungsstils und einer Präsidentschaftswahl, die von der Drohung geprägt war, es handle sich um eine Entscheidung zwischen republikanischen Grundwerten und einer fremdenfeindlichen und ultranationalistischen Abschottungspolitik, die französischen Wählerinnen und Wähler bei den Parlamentswahlen ihre Sehnsucht nach einer Rückkehr des Politischen zum Ausdruck gebracht hat.