Neustart für Europa

Henrik Enderlein spricht sich in einem Gastbeitrag für die GroKo aus

„Scheitert die GroKo, dann scheitert zwar nicht Europa, aber der dringend nötige Neustart der Europäischen Union“, meint Henrik Enderlein, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Das Progressive Zentrum. Das Zeitfenster für einen Aufbruch Europas sei winzig.

Am Sonntag steht bei der SPD nicht nur die GroKo-Frage zur Abstimmung, sondern auch das Selbstverständnis der Sozialdemokraten als Europapartei. Findet die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union eine Mehrheit beim Parteitag, dann kann die SPD pointiert wie selten zuvor für sich beanspruchen, die eigentliche Europapartei Deutschlands zu sein. Haben die anderen Parteien, die ihr diesen Nimbus gern streitig machen, nicht noch vor ein paar Wochen ein Europakapitel ausgehandelt, das im Rest Europas für Ernüchterung sorgte? Zwar wurde das Jamaika-Papier nie formal abgeschlossen, doch die Bundeskanzlerin wäre wohl bereit gewesen, den dürftigen Defensivtext zu Europa in Kapitel 13 des Jamaika-Papiers zu unterzeichnen. Ebenso wie die Grünen, die FDP und die CSU. Dann kam die SPD – und heute ist Europa in Kapitel 1 der Aufmacher des GroKo-Sondierungspapiers. Die Inhalte sind stark. Sogar von einigen Grünen kam Beifall für den Verhandlungserfolg. Aus dem Rest Europas sowieso.

Nun droht der SPD-Parteitag in Bonn, diesen Erfolg in die Tonne zu treten. Scheitert die GroKo, dann scheitert zwar nicht Europa, aber der dringend nötige Neustart der Europäischen Union. Deutschland wäre europapolitisch mundtot. Emmanuel Macron hat seine Vorschläge vorgelegt, Jean-Claude Juncker auch. Nur auf Deutschland warten sie alle seit Beginn des Wahlkampfs im vergangenen Sommer. Viel Zeit bleibt nicht: Im Herbst 2018 muss der Brexit fertig verhandelt sein. Dann beginnt auch die politische Auseinandersetzung zur Europawahl 2019 mit der Kür der Spitzenkandidaten. Und am 14. Oktober wählt Bayern, was für europapolitische Projekte eher Gegen- als Rückenwind bedeuten dürfte. Das Zeitfenster für einen „Aufbruch Europas“ (Martin Schulz) ist winzig.

Ein Neustart für Europa

Europa braucht einen Neustart – mit mehr Demokratisierung, einer starken sozialen Komponente, einer Stärkung des Euros, einem Haushalt der diesen Namen verdient, einem Kampf gegen Steuerdumping, einer intelligenten Steuerung der digitalen Revolution, einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik, um nur einige wichtige Projekte zu nennen, die alle im GroKo-Sondierungspapier enthalten sind.

Kollateralschaden, würden die Jusos und andere GroKo-Gegner wohl sagen, wenn mit Absage an Koalitionsverhandlungen auch diese wichtigen europäischen Reformideen flöten gingen. Doch das wäre äußerst zynisch. Überall in Europa sind die euroskeptischen Kräfte auf dem Vormarsch. Was wir in Ungarn sehen, in Polen, in Österreich, in Großbritannien und immer mehr auch in Italien, könnte schon bald zur dominierenden Doktrin auf dem ganzen Kontinent werden. Putin würde sich freuen. Trump per Twitter applaudieren. Und die deutsche Sozialdemokratie müsste rechtfertigen, warum sie im Frühjahr 2018 die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat.

Von einer Minderheitsregierung einen schnellen europapolitischen Impuls zu erwarten, ist absurd. Die Kanzlerin und der Bundespräsident wären erst einmal damit beschäftigt, Deutschland aus einer historischen Verfassungsunsicherheit zu führen. Und selbst wenn sich Angela Merkel auf die Minderheitsregierung einließe – wäre sie wirklich bereit, bereits zu Beginn dieses Experiments ausgerechnet das europapolitische Risiko einzugehen, das sie bei den Jamaika-Verhandlungen gescheut hat und das in ihrem eignen Lager viele mächtige Gegner kennt?

Und stellen wir uns eine neue Eurokrise vor, bei der die Union per Minderheitsregierung über den Verbleib Griechenlands oder Italiens im Euro entscheiden müsste. Merkel wäre vielleicht nicht mehr Kanzlerin. Würde eine dann möglicherweise nach rechts gerückte Union auf eine pro-europäische Einweg-GroKo mit der SPD setzen? Oder doch einmalig die Mehrheit mit FDP und AfD wagen, um Griechenland oder Italien aus dem Euro zu werfen? Allein die Möglichkeit solcher Szenarien kann nicht im Interesse der SPD sein.

Im vergangenen Mai blickte Europa, gerade auch die SPD, auf Frankreich und war erleichtert, am Ende einen Präsidenten zu sehen, der zur Ode an die Freude symbolisch auf Europa zuging. Heute blickt Europa (übrigens auch Macron) auf Bonn. Das Projekt Europa darf beim Parteitag deshalb kein Randthema sein: Die 600 Delegierten stimmen auch über die Zukunft Europas ab. Und wenn die SPD ihre eigene Geschichte ernst nimmt, dann kann es nur eine Antwort auf die am Sonntag gestellte Frage geben: Verantwortung für Europa.


Dieser Gastbeitrag erschien am 20.01.2018 auf Spiegel Online.

Autor

Henrik Enderlein war Direktor des Jacques Delors Instituts Berlin, Professor für Politische Ökonomie an der Hertie School of Governance in Berlin und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Progressiven Zentrums. Er studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Sciences Po in Paris und an der Columbia University in New York. Enderlein starb im Mai 2021.

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