Machtausweitung in Ungarn: “Orbán hat die Opposition in eine Falle getrieben”

Ein Gespräch zur besorgniserregenden Situation in Ungarn mit dem CEO der Transparenzinitiative „K-Monitor“ aus Budapest, Sandor Lederer.

Die ungarische Regierung nutzt die Corona-Krise aus, um ihre Macht auszubauen. Heute wird das Parlament ein Gesetz verabschieden, das es Premierminister Viktor Orbán erlaubt, den Notstand ohne Zustimmung des Parlaments zu verlängern und das Land per Dekret zu regieren. Unsere Programmleiterin “Zukunft der Demokratie”, Paulina Fröhlich, sprach dazu mit Sandor Lederer. Dieser leitet die ungarische Transparenzinitiative “K-Monitor”. Beide arbeiten gemeinsam seit einem Jahr am “European Hub for Civic Engagement”, ein Projekt des Progressiven Zentrums, das sich für eine vernetzte Zivilgesellschaft einsetzt.


Lieber Sandor, Danke, dass Du Dir Zeit nimmst, um uns die Situation in Ungarn zu schildern. Zunächst interessiert mich, wie Viktor Orbán auf die Corona-Pandemie reagiert hat.

Sandor Lederer: Wie Ungarn das Coronavirus überstehen wird, ist nicht nur für uns Bürger und Bürgerinnen lebenswichtig, sondern auch für Ministerpräsident Viktor Orbán. Zum einen sind Krisen für Orbán politisch gesehen immer ein Vorteil: Sei es die Wirtschaftskrise, die “Flüchtlingskrise” oder jetzt das Coronavirus. Den Retter der Nation zu spielen, das ist seit langem Orbáns Lieblingsrolle und wahrscheinlich auch sein Erfolgsrezept. Wie immer geht es auch in dieser Situation für Orbán in erster Linie darum, seine Macht weiter auszubauen: unbefristete Ermächtigung, minimale oder gar keine Autonomie für die Kommunen oder Fachinstitutionen (die seit langem von loyalen Vollstreckern geleitet werden). Neben dem Machtausbau nutzt er Krisen auch immer dazu, die Opposition, die EU und das Ausland als ungarnfeindlich darzustellen. Denn jeglichen Kritikpunkt oder Ratschlag von Experten oder den Medien bezeichnet seine Regierung als nervende Hinderung der Krisenbewältigung.

Die Krise scheint für Orbán also vor allem eine große Chance zu sein?

Sandor Lederer: Ja, aber sie kann für ihn auch zur Gefahr werden: Wird das chronisch unterfinanzierte Gesundheitswesen es schaffen, mit der Pandemie klar zu kommen? Sind die auf Loyalität eingestellten Institutionen in Krisensituationen in der Lage, schnell und souverän Entscheidungen zu treffen? Kann die extrem offene (exportorientierte und importabhängige) Wirtschaft Ungarns die Folgen der Krise überleben?

Orbáns Stolz war bisher das Wirtschaftswachstum, die niedrige Arbeitslosigkeit und das steigende Einkommen der Mittelschicht bei niedriger Auslandsverschuldung. All das ist jetzt in Gefahr. Und die Gesellschaft wird die extrem ausgebaute Vetternwirtschaft wahrscheinlich weit weniger tolerieren, wenn ihre eigene Existenz in Gefahr gerät.

Du hast gesagt, dass Viktor Orbán die Krise zum Machtausbau nutzt. Kannst Du das an einem Beispiel festmachen?

Sandor Lederer: Die politische Trickserei mit dem Ermächtigungsgesetz ist das beste Beispiel dafür, dass die Lösung der Krise für Orban in erster Linie eine Machtfrage ist. Es begann mit der Verkündung einer “Gefahrensituation” am 11. März. Dies ermöglichte Orbán per Dekret sofortige Notmaßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu verhängen, welche maximal 15 Tage in Kraft bleiben sollten.

Aber bei 15 Tagen soll es nicht bleiben, oder?

Sandor Lederer: Genau. Die 15 Tage dürfen eigentlich nur durch das Parlament verlängert werden. So will es die Verfassung. Bereits am 11. März, als die Gefahrensituation verkündet wurde, muss der Regierung klar gewesen sein, dass das Parlament schleunigst regeln muss, wie es nach Ablauf dieser 15 Tage mit den Notmaßnahmen weitergehen soll, ob sie verlängert werden oder nicht, wenn ja, für wie lange. Eigentlich eine formelle Angelegenheit, da die Regierungsparteien eine Zweidrittelmehrheit haben. Stattdessen aber hat sie aktiv abgewartet. Sie hat die Einreichung eines Gesetzesentwurfes so lange hinausgezögert, bis prozesstechnisch die Abstimmung über ein Gesetz zur Verlängerung der Notmaßnahmen nur durch eine Änderung der Tagesordnung des Parlaments möglich wurde. Das ganze nur um die Opposition bloßzustellen, und in eine Kommunikationsfalle zu locken.

Warum sollte die Regierung das tun? Was hat ihr die Verzögerungstaktik gebracht?

Sandor Lederer: Sie hat die Opposition damit in eine Zwickmühle getrieben, in eine Falle, aus der nur die Regierung als Siegerin treten kann. Denn um die Tagesordnung im Parlament zu ändern, sind die Stimmen der Opposition nötig. Der vorgelegte Gesetzesentwurf war für die Opposition aber inakzeptabel, weil er nicht nur die Notmaßnahmen verlängern würde, sondern der Regierung auch besondere, zeitlich unbegrenzte Befugnisse erteilen würde.

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Wenn du das erzählst, läuft es einem kalt den Rücken runter. Das klingt nach einem klaren Missbrauch von Notverordnungen.

Absolut. Dein und mein Vertrauen in Orbáns Demokratieverständnis ist nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre gering. Und das vorgelegte Gesetz erlaubt es ihm per Dekret regieren zu können, noch dazu in einer Weise, die es ermöglicht, Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger einzuschränken. Ein richtiges Enddatum gibt es nicht, es dauert bis der Notstand anhält. Aber Notstand könnte theoretisch auch die anfolgende Wirtschaftskrise bedeuten, also ewig.

Die Opposition konnte also entweder der Verlängerung der objektiv notwendigen Notstandsmaßnahmen zustimmen und damit gleichzeitig Orbáns Machtergreifung ermöglichen oder …

… oder sie hätte gegen die Änderung der Tagesordnung stimmen können und damit die Regierung behindert, die Krise zu bewältigen. So zumindest die Narrative, die von der Regierung kommuniziert werden. Vergessen wir nicht, es sind Zeiten, wo die meisten Menschen sich nicht politische Konflikte wünschen, sondern effiziente Zusammenarbeit zwischen allen Lagern.

Wow. Das ist perfide.

Sehr durchtrieben, ja. Dabei hat sich die Opposition zuvor äußerst kompromissbereit gezeigt, denn sie hätte der Änderung der Tagesordnung zugestimmt, wenn die besonderen Befugnisse im Ermächtigungsgesetz auf neunzig Tage begrenzt worden wären. Orbán zeigte jedoch überhaupt kein Entgegenkommen und sagte, dass ‘wir die Krise auch ohne sie (die Opposition) lösen werden’.

Wie hat sich die Opposition entschieden?

Die Opposition hat sich am Ende nicht erpressen lassen. Als Folge wird erst heute über den Gesetzesentwurf abgestimmt. Orbáns Propagandamaschinerie hat keine Sekunde gewartet und mit den üblichen Anschuldigungen  auf die Opposition eingedroschen. Trotzdem war ihre Entscheidung richtig. Denn als letzte Woche Orbáns erste Notstandsverordnung automatisch ausgelaufen ist, hat sich dann bewiesen, worauf einige Kritiker schon vor zwei Wochen hingewiesen hatten: Fast alle wichtigen Maßnahmen, die die Verordnung beinhaltete, hätten auch ohne Notfalldekret und ohne Orbáns Unterschrift verhängt werden können.

Die Notstandsverordnung war also nur nötig, um eine Show zu inszenieren?

Genau. Ohne sie wäre es schwieriger gewesen, Orbán zum einzig wahren Krisenmanager im Lande zu machen.

Heute soll das neue Notstandsgesetz verabschiedet werden. Du hast am Ende unseres Gesprächs keine guten Neuigkeiten für mich, oder?

Leider nein. Das Ermächtigungsgesetz wird heute Nachmittag die notwendige Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien erhalten und morgen in Kraft treten. Es ist schwer einzuschätzen, ob und wie weit Orbán die extrem weitgehenden Befugnisse missbrauchen wird. Die größte Gefahr besteht darin, dass die Regierung die Möglichkeit erhält, Grundrechte (bis auf einige Menschenrechte) der Bürger zu begrenzen und gegen kritische Stimmen mit größerer Härte vorzugehen, möglicherweise auch die Arbeit der (von der Opposition geleiteten) Kommunen zu erschweren.

Wie es auch kommen mag, es ist Orbán wieder gelungen, seinen politischen Kreuzzug gegen die pluralistische Demokratie fortzusetzen und seinen Spielraum im In- und Ausland wieder wesentlich zu vergrößern.

Lieber Sandor, vielen Dank, dass Du uns hilfst, diese besorgniserregende Situation in Ungarn besser nachzuvollziehen. Bitte lass uns wissen, sobald es Neuigkeiten gibt oder wenn du konkrete Ideen hast, wie wir als europäische Zivilgesellschaft euch zur Seite stehen können.


Das Projekt “European Hub for Civic Engagement”, bei dem Sandor und Paulina sich kennenlernten, versucht ebenjene Herausforderungen der europäischen Zivilgesellschaft unter Druck anzugehen:


Weil sich in Europa zivilgesellschaftliche Räume verengen, will der European Hub neue Möglichkeiten der digitalen Kollaboration schaffen. Gemeinsam mit Partnern aus ganz Europa haben wir die ersten Ideen aus Civic Tech zum Aufbau eines Hubs vorgestellt, wie Technologie Zivilgesellschaft stärken kann.

Autor:innen

Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin | Resiliente Demokratie
Paulina Fröhlich ist stellvertretende Geschäftsführerin und verantwortet den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“ des Berliner Think Tanks Das Progressive Zentrum. Dort entwirft sie Dialog- und Diskursräume, leitet die europäische Demokratiekonferenz „Innocracy“ und ist Co-Autorin von Studien und Discussion Papers.
K-Monitor. K-Monitor beschäftigt sich mit der Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Rechtsstaatlichkeit von politischen Entscheidung in Ungarn.
Bosse Spohn war von April bis September 2020 Kommunikationsassistent bei Das Progressive Zentrum. Von Januar bis April 2020 war er Praktikant im Kommunikationsteam des Progressiven Zentrums.

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