Keynote von Astrid Séville: Politik der Zumutung

Manuskript der Rede anlässlich des Progressiven Sommerfests

Keynote anlässlich des 15. Geburtstag des Progressiven Zentrums beim “Progressiven Sommerfest“ am 23. Juni 2022 im Heimathafen, Neukölln.

Zum Video der Keynote geht es hier.


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

danke. Ich freue mich außerordentlich über diese Einladung. Nun ist es mit solchen Keynotes am Abend und erst recht auf einem Sommerfest so eine Sache, sie müssen kurzweilig, nicht zu akademisch, politisch versiert, aber nicht parteipolitisch engagiert, zeitdiagnostisch scharf, aber nicht aktualistisch flatterhaft sein. Heute Abend werden uns zudem die großen Begriffe vorgelegt. Es soll auf diesem Sommerfest gehen um „Fortschrittsversprechen“, „Zukunftsangst“ und die „gerechte Transformation“. Das Progressive Zentrum fragt zurecht nach ihren Gelingensbedingungen. Ich möchte Ihnen heute dazu ein paar Gedanken und Thesen unter dem Titel „Politik der Zumutung“ vorstellen.

Dabei will ich eine Vorsichtsmaßnahme ergreifen. Wenn Sie eine Politikwissenschaftlerin wie mich um Gelingensbedingungen der „gerechten Transformation“ bitten, dann ist das, als ob Sie bei einem Fußballspiel jemanden am Spielfeldrand um eine Einschätzung bitten. Sie suchen sich eine Person aus, die besonders engagiert in der Synchronkommentierung erscheint, aber zumindest nach außen unentschiedener wirkt bei der Frage, wer denn gewinnen soll. Die Person kennt die Spielregeln, sie weiß, wie und wann man Tore schießen müsste. Und doch erklärt sie Ihnen sogleich, warum das reale Spiel auf dem Platz immer wieder ganz anders läuft. Lakonisch verweist sie auf Unkontrollierbarkeiten des Spiels, auf Komplexität und Kontingenz. Manchmal steht einfach ein Spieler falsch, duckt sich im falschen Moment weg, manchmal schießt jemand ein Eigentor. Wenn Sie dann am Ende wissen wollen, woran der Spielausgang gelegen haben könnte, dann könnten, dann sollten Sie noch zwei, drei Spieler befragen. Sie werden Ihnen erzählen, dass es alles gar nicht so einfach ist, dass sie zwar das Tor klar vor Augen hatten, aber irgendwie nicht in den gegnerischen Strafraum kam. Ständig kam irgendwas oder stand irgendwer dazwischen, ständig musste man ausweichen, umbauen, nachjustieren. Und dann foult der Gegner auch noch.

Man sagt, Fußballanalogien gehören auf jedes gute Sommerfest. Wenn wir jetzt lapidar die „gerechte Transformation“ als das Tor verstehen, von dem wir alle ausgehen, dass es gelingen, ja geschossen werden muss, dann erfahren wir vielleicht durch den Abgleich von Beobachterperspektive und Teilnehmerperspektive, woran es liegt, wie es gehen kann. Und so ist es auch heute Abend. Ich möchte heute, gewissermaßen vom politischen Spielfeldrand, über Herausforderungen jener Transformation und gegenwärtiger politischer Kommunikation sprechen und ein paar Thesen zur Diskussion stellen. Die „Spieler“ werden danach zu Wort kommen.

Was mich im Folgenden interessiert, ist weniger eine Analyse der zu verabschiedenden Policies. Viel könnte man sagen über entsprechende Vorschläge: ÖPNV stärken, Subventionen umschichten, regenerative Energien ausbauen, eine agrarpolitische Wende vollziehen.

Statt ein Programm zum Umbau zu einer klimaneutralen Form des Wirtschaftens, Lebens, Konsumierens zu skizzieren, will ich überlegen, wie das Gelingen von Politik, nennen wir sie progressiv, transformativ und gerecht, auch von ihrer Vermittlung abhängt. Denn Transformationen bleiben, auch wenn Lasten angemessen verteilt werden, Zumutungen.

Sie bedeuten Veränderung, manchmal aus Einsicht, dass sich etwas ändern muss, manchmal erzwungen durch Krisen oder externe Shocks. Auch die Demokratie ist Versprechen und Zumutung. Addieren sich nun Zumutungen, wenn eine Transformation demokratisch und gerecht ablaufen soll? Wie lässt sich dazu motivieren? Reicht die Losung: Besser statt mehr? Wie lässt sich nach der Entzauberung von Fortschrittserzählungen, auch nach der Kritik der Geschichtsphilosophie, noch Fortschritt versprechen, ohne dabei allzu viel Planbarkeit, Machbarkeit, Sicherheit zu suggerieren? Wie lassen sich nicht nur altmodische, lineare Fortschrittserzählungen vermeiden, sondern auch neue Untergangsbeschwörungen, chiliastische Fantasien, Angst vor Krisen und Katastrophen? 

Wir sollten vermeiden, dass apokalyptische Phantasmen zu einer neuen Geschichtsphilosophie werden. Die vom Zentrum gewählten Begriffe Zukunftsangst und Fortschrittsversprechen scheinen indes zwei Pole, zwischen denen Politik hindurch navigieren muss.

Dabei ist am Spielfeldrand klar: Politikerinnen und Politiker müssen Kompromisse machen, von ihren Zielen bisweilen abrücken, Koalitionen bilden, Mehrheiten herstellen. Politische Akteure müssen Entscheidungen unter Bedingungen von Unsicherheit und unter Zeitdruck treffen. Sie stehen immer wieder vor Krisen. Überhaupt scheint unsere Gegenwart nicht nur von einer Abfolge, sondern auch von einer Gleichzeitigkeit multipler Krisen geprägt: Wir stehen womöglich vor einer Rezession, wir stecken in Konjunkturen populistischer Kräfte, der Corona-Pandemie, dem Ukraine-Krieg — und der Klimakrise usw. Diese Krisen beeinflussen sich bekanntlich wechselseitig — denken wir nur an derzeitige Energiepolitik nach der „Zeitenwende“.

Dies bringt mich zu einer ersten These: Die Krisenhaftigkeit der politischen Gegenwart katapultiert politische Akteure in Situationen, in denen ihr Handeln vielmals aus einem reaktiven, nachholenden Krisenmanagement zu bestehen scheint. Da wacht die Außenministerin Annalena Baerbock mit Beginn des Ukraine-Kriegs plötzlich in einer neuen Welt auf. Bundespolitiker und Bundespräsidenten geben öffentlich eigene Irrtümer und Naivität zu. Die Pandemie konnte keiner vorhersehen, der Herbst scheint abermals unplanbar. In Zeiten globaler und europäischer Verflechtung und Krisen als Normalzustand der Politik beobachten wir Bürger uns selbst, aber eben auch Amts- und Entscheidungsträger beim reaktiven Durchwurschteln. Indem wir Bürger das Anpassen, das Durchwurschteln politischer Akteure beobachten können, begreifen wir vielleicht als Wähler, dass auch sie sich in einem Korsett von Kontingenzen, Umständen sowie Verpflichtungen und Zwängen bewegen. Wir sehen ein reaktives politisches Subjekt im Dauerkrisenbearbeitungsmodus. Es erscheint als eines, das einen alten politischen Heroismus hinter sich gelassen hat. 

Damit erübrigt sich ein bestimmter Tonfall, ein Modus autoritären, heroischen, entschiedenen, wenn nicht dezisionistischen Sprechens¹. Wir müssen also zum einen über uns vertraute, eingeübte Muster politischer Kommunikation und unsere politischen Denkmuster nachdenken, zum anderen nach der heutigen Vermittlung von Fortschritt fragen. Ich will vier Motive skizzieren, die mir für das Vorankommen einer Politik der Transformation relevant erscheinen. Es handelt sich nur um Versatzstücke, um Mosaiksteinchen. Sie scheinen mir Bausteine einer Vermittlung der Transformation, und sie brechen mit etwas, das man mit Jürgen Habermas als „politische Unterforderung der Bürger“ bezeichnen könnte.

Das erste Motiv ist das einer neuen kommunikativen Verschränkung von Tatendrang und Reflexion. Denken wir an politische Kommunikation, dann geht ein Gespenst in Deutschland, in deutschen Feuilletons um — das Habeck-Gespenst. Kaum ein Tag vergeht ohne Analyse des Erfolgsrezepts des Wirtschaftsministers. Ich will kurz etwas zum Phänomen Habeck sagen. Doch dazu will ich erwähnen, dass mein Kollege Julian Müller und ich schon im Sommer 2021 unseren Aufsatz zum „Habeck-Paradox“² verfasst haben. Darin haben wir seinen Politikstil analysiert und gefragt, ob Dauerreflexion kommunizierbar sei. 

Was verrät uns also Habecks Sprechweise über die Zumutungen politischer Kommunikation von Transformation? Denken wir nur an sein Selfie-Video aus Doha, in dem er von Gesprächen mit dem Emir von Katar über mögliche Flüssiggas-Lieferungen berichtete. Dass die Bilder eines Bundesministers im weißen Hemd, mit hochgekrempelten Ärmeln und schwarzer Krawatte bei Sonnenschein und blauem Himmel in Zeiten des Krieges „merkwürdig“ wirken, thematisierte Habeck im Video selbst. Er unterschlug nicht seine inneren Konflikte, sondern baute seine Bedenken in das eigene politische Sprechen ein. Habeck liefert uns ein Beispiel für eine gleichzeitige Metakommentierung des eigenen Sprechens und eine offene Zurschaustellung von Selbstzweifeln.

Habeck betont seinen Willen zur pragmatischen Selbstkorrektur und benennt sein Politikverständnis als ein, Zitat, „selbstkritisches Kämpfen“³. Politisches Handeln und Kommunikation setzen also nicht — wie früher, wie klassisch — entweder auf Kampf, Dezision, Tat oder auf Diskurs, Reflexion — das alles verbindet sich hier. Nehmen wir diese Redeweise als ein Symptom, dann zeigt hier sich eine anschlussfähige, ja attraktive Rhetorik der Transformation: Sie ist ein reflexives „Zwischen“, ein „Ringen“.

Dieses zumutende Sprechen bringt mich zum zweiten Baustein: zu Parteinahme und Konfliktfähigkeit. Ein interessanter Aspekt an der gerade beleuchteten Sprechweise ist, dass sie die eigene Position als eine unter möglichen markiert. Es gibt andere, berechtigte, womöglich gute Argumente, es gibt andere Ansichten. Es gilt nicht nur zu debattieren, Positionen abzuwägen, sondern auch Partei zu ergreifen. 

Vor wenigen Tagen verabschiedete das Bundesverfassungsgericht ein denkwürdiges Urteil: Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte auf einer Reise gefordert, dass die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten im Februar 2020 rückgängig gemacht werden sollte, weil sie mit den Stimmen der AfD erfolgt war. Sie hatte bekanntlich von einem „unverzeihlichen“ Vorgang und einem „schlechten Tag für die Demokratie“ gesprochen. Sie hatte damit, so das Gericht, die AfD in ihrer Chancengleichheit verletzt. Merkel hatte sich, so die Lesart, als Regierungsmitglied geäußert, in dieser Rolle sei sie zu Neutralität verpflichtet.

Richtig und wichtig ist, dass Regierungsmitglieder staatliche Ressourcen nicht zweckwidrig, etwa zu zum Vorteil ihrer Partei, einsetzen dürfen. Vom Spielfeldrand erlaube ich aber mir einen Einwurf, weil er die Vermittlung und unser Verständnis von Politik betrifft:

Wir sollten Neutralität und Überparteilichkeit nicht fetischisieren. Angesichts rechtspopulistischer und fundamentaloppositioneller Anfechtungen der Demokratie, angesichts der momentanen, auch bevorstehenden Konflikte gilt es, Parteinahme und damit Konfliktfähigkeit einzuüben.

Weil das, wofür sich das progressive Zentrum unter „gerechter Transformation“ stark macht, auf Widerstand stößt, gerade weil Klimapolitik ein großes Thema für rechtspopulistische Gegenmobilisierung ist, ist transformative Politik auf konfliktfähige Institutionen und Akteure angewiesen. 

Bürgern sind Konflikte in der Parteiendemokratie und das Ringen um Mehrheiten zuzumuten. Das heißt aber auch zu verstehen, dass die eigene, einem doch nur zwingende, sachlich, womöglich historisch gebotene Position unterlegen sein, überstimmt werden kann. Das heißt zu akzeptieren, dass eigene Forderungen nicht aufgegriffen, nicht umgesetzt werden. Politik ist auch keine Verwaltung, sie bedarf eines anfechtbaren Einstehens für die eigenen politischen Ziele und Interessen. Auch transformative Politik muss von und über Interessen sprechen. Dieser Begriff erlaubt es, Konflikte auszutragen. Eine offen kommunizierte Parteilichkeit, die Markierung der eigenen, kontingenten, relativen Position, die Offenlegung des eigenen Standorts kann Verbindlichkeit und Anschlussfähigkeit herstellen. Nicht alles ist im Interesse aller. Auch wenn es um die Frage der Transformation geht, ist nicht alles eine Frage der Haltung, der richtigen Moral, der Werte. Und wenn ich mir diese Spitze erlauben darf: Es ist auch nicht alles eine Frage der juristischen Einklagbarkeit. 

Dies bringt mich zum dritten Baustein transformativer Politik, zu der schwierigen Frage nach Hebeln, Ebenen und Räumen — Sie wissen ja, manches Tor entsteht aus der Tiefe des Raums. Wir stehen vor dem Phänomen, dass Bürgerinnen den Klimawandel als drängendes Problem anerkennen und bekunden, bereit zu sein, auch unliebsame Maßnahmen mitzutragen. Manche Beobachter schließen daraus, dass die Bevölkerung weiter sei als die sie repräsentierenden Politiker. 

Zugleich zeigen Studien, dass Fragen sozialer Gerechtigkeit und Wohlstandssicherung eine größere Rolle in der jeweils eigenen, konkreten Problemwahrnehmung von Bürgerinnen und Bürgern spielen. Wir erkennen in vielen Feldern große Beharrungskräfte, zum Teil auch mangels Alternativangebote, sodass nicht zu wenige in ihrem eigenen Alltag auf einem, sagen wir mal salopp, ökologisch und sozial heiklen Lebensstil beharren. Paulina Fröhlich erzählte mir im Vorfeld, dass Gesprächspartner oft sagten, „ich würde ja, wenn…“ Wir haben hier eine bemerkenswerte Gleichzeitigkeit, eine kognitive Dissonanz, über die wir seit einiger Zeit viel diskutieren und uns fragen, wie man darauf politisch reagieren kann.

Selbstredend müssen ökologische Politik und Sozialpolitik zusammengedacht werden. Ich will angesichts des Publikums und eben als, wenn Sie so wollen, altmodische Politikwissenschaftlerin, an dieser Stelle etwas anderes betonen. Beides scheint adäquat und nötig, beides lässt sich zusammendenken: Eine individuelle Änderung der Lebens- und Konsumweise, aber auch entsprechende politische, rechtliche Rahmenbedingungen. Political consumerism ist gut und wichtig. Doch die Politisierung von Alltagspraxis und Lebensstilfragen komplementiert, aber ersetzt keine transformative Politik. Dies bringt mich wieder zu den Kollektivhebeln von Veränderung, von Fortschritt. Parteien kämpfen um Gestaltung und also auch um Transformation. Kurz: Für eine Transformation genügt es nicht, demonstrieren zu gehen, politisch zu konsumieren, wütend zu twittern. Man muss sowieso wählen zu gehen. Aber: Treten Sie in Parteien ein, räumen Sie den Laden von Innen auf. Die alte Parteiendemokratie birgt ein Zukunftsversprechen.

Dies bringt mich nun zum vierten und letzten Motiv, das ich etwas überspitzt, aber noch tastend progressiv-pragmatischen Pessimismus nennen will. In der letzten Merkur-Ausgabe veröffentlichte der Historiker Valentin Groebner einen Text mit dem Titel „Angstlust“⁴. Groebner seziert hier das seltsame Gefühl, das vielleicht manche von uns kennen. Manchmal ist Angst nicht nur ansteckend, sondern auch seltsam lustvoll. Man kann sich in ihr verlieren, sie kann sogar motivieren. Aus Angst macht man vielleicht manche Dinge nicht, oder man macht sie gerade anders, sorgfältiger, besser. Groebner attestiert sich und vielen seiner Generation im Rückblick auf die 1980er „[e]mphatisch bekundete gemeinsame Angstgefühle, gegen die nur gemeinsames politisches Handeln helfe, solidarisch und gewaltfrei natürlich, […]“⁵. Er beschreibt Angst als ein Mittel der „Selbstermächtigung“⁶. Von diesen Überlegungen ausgehend ließe sich eine weitere Zumutung formulieren: Womöglich müssen wir aufhören, Optimismus, Fortschritt, Zukunftsoffenheit zu loben. Optimismus erscheint mir fast als narzisstische Befriedung des Menschen. Es wird schon gut gehen. Womöglich müssen wir mehr Pessimismus wagen. Pessimismus macht manchmal vorausschauend, vorsichtiger, umsichtsvoller.

Wir wissen, dass eine Klimakrise droht, dass irreversible Kipppunkte drohen. Die Lebensbedingungen werden in vielen Regionen unerträglich, Hungersnöte drohen, Landstriche werden unbewohnbar. Virologen sagen zudem, dass die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Zoonosen steigt. Behörden und Mediziner sind alarmiert, weil Reserveantibiotika in der industriellen Massentierhaltung eingesetzt werden. Wir verbrennen, verheizen und essen unsere Ressourcen, wir steuern auf einen Pflegenotstand hin, der öffentliche Dienst, die Infrastruktur staatlicher Daseinsfürsorge stehen vor einem Nachwuchsproblem und so weiter. Ich will Ihnen den Abend nicht allzu früh verderben.

2029 schmetterte Greta Thunberg uns ihr angstwütendes „I want you to panic. I want you to feel the fear I feel every day.” um die Ohren⁷. Angst gehört zur Aktivistensprache, sie soll aufrütteln; da hat sie ihre Berechtigung. Doch habe ich mich eben gegen neue Formen von Untergangsstimmung und Chiliasmus gewehrt — climate anxiety und Boomer bashing bieten keine Lösung. Und eine apokalyptische Geschichtsphilosophie als Gegenentwurf zum Fortschrittsoptimismus scheint mir, wie gesagt, falsch.

Wenn aber Angst vor Krisen, Katastrophen und Gefahren nicht nur lähmen, sondern auch lustvoll anstecken und womöglich mobilisieren kann, dann könnte so etwas wie ein pragmatischer, wohldosierter Fortschrittspessimismus progressiv, ja nützlich sein. Ich meine damit keine Kulturkritik. Es gilt, nicht durchzudrehen, nicht von Angst gelähmt zu sein, sondern diese durch Bearbeitung auf einer höheren, kollektiven Ebene zu entschärfen, produktiv zu machen. Politisieren wir den Pessimismus! Machen wir was! Gehen wir es an!

Pessimismus kann pragmatisch machen. Pragmatischer Pessimismus kann aufrütteln, kann den Ernst der Lage benennen. 

Ein letztes Beispiel: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen konzediert 2022 selbst, dass er im jüngsten Papier die Co2-Emissionen, die Deutschland nach eigenen Regeln noch ausstoßen dürfte, um die +1,5-Grad-Grenze bei der Erderhitzung einzuhalten, allesamt großzügig und mit „maximalen Grenzen“ berechnet habe. Hier wird optimistisch gerechnet. Trotz des Wissens um die Notwendigkeiten, um die Dringlichkeit und trotz des eigenen Klimaschutzgesetzes attestieren Experten wie die Klimatologin Brigitte Knopf der deutschen Regierungen „Ambitionslücken“ und „Umsetzungslücken“⁸. Vom Wissen um Probleme muss zum entschiedeneren Handeln-wollen und Handeln übergegangen werden. Die Transformation braucht nicht nur Modelle der best case Szenarien, sondern auch der worst cases. Es braucht heute, das ist die zwiespältige Erkenntnis, eine Mobilisierung von Affekten.

Ich komme damit zum Schluss. Ich habe heute versucht, ein paar Motive der Vermittlung und Bearbeitung jener Zumutung der Transformation zu skizzieren. Dazu habe ich eine Vermessung des Verhältnisses von Tatendrang und Reflexion, von Angst und Mobilisierung und ein Plädoyer für Parteinahme, Konfliktfähigkeit und politischem Engagement ins Blickfeld rücken wollen. Es ging mir nicht zuletzt um eine Gegenprogramm zur politischen Unterforderung des Bürgers. Das alles ist kein Rezept zum Gelingen der Transformation, ich muss Sie enttäuschen. 

Dem Abend wurde der Titel gegeben: Zwischen Zukunftsangst & Fortschrittsversprechen: Wie kann die gerechte Transformation gelingen? Ich entlasse Sie nun mit einem Einwurf vom Spielfeldrand: Transformative Politik braucht ein reflexiv-handelndes Zwischen, braucht Konfliktfähigkeit, Parteinahme und Parteien als altes Zukunftsversprechen. Und sie mobilisiert womöglich mit pragmatischem Pessimismus zum Fortschritt, damit die Spieler mal ein bisschen energischer zum Tor rennen.

Vielen Dank. 

Prof. Dr. Astrid Séville

Wissenschaftlicher Beirat
Astrid Séville ist seit Juli 2022 Vertretungsprofessorin für Politische Theorie an der Hochschule für Politik der Technischen Universität München.

Fußnoten

1 Dieses Argument habe ich gemeinsam mit Julian Müller verfolgt, u.a. in: Ist Dauerreflexion kommunizierbar? Das Habeck-Paradox. In: Merkur 873 (2022), S. 82-87. In Vorbereitung ist zudem ein gemeinsames Buch: Politische Rede-Weisen, das 2023 bei Mohr Siebeck erscheinen soll und Ideen aus unserem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojekt „Re/Präsentation. Neue Formen politischer Ansprache und Fürsprache“ aufgreift.

 2 Siehe Fußnote 1.

3  Robert Habeck: Von hier an anders, München 2021, S. 64.

4 Valentin Groebner: Angstlust. Eine Ansteckung aus der Vergangenheit. In: Merkur 877 (2022), S. 32-41.

5  Ebd., S. 33.

6  Ebd.

7  Siehe für die Berichterstattung beispielhaft: https://www.theguardian.com/environment/2019/jan/25/our-house-is-on-fire-greta-thunberg16-urges-leaders-to-act-on-climate

8  Vgl. https://taz.de/CO2-Emissionen-in-Deutschland/!5861856/; die Berechnungen von Brigitte Knopf und Oliver Geden finden sich hier: https://www.mcc-berlin.net/fileadmin/data/C18_MCC_Publications/2022_MCC_Ist_Deutschland_auf_dem_1_5_Grad_Pfad.pdf

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