Progressives Regieren: Immer in Bewegung bleiben

Die Ampelkoalition versteht sich als Fortschrittsbündnis. Sie will eine progressive Regierung sein. Doch was bedeutet das überhaupt? Eine Analyse der Spannungsfelder und Leitplanken progressiven Regierens.

„Alle malen schwarz, ich seh‘ die Zukunft pink. 

Wenn du mich fragst, wird alles gut, mein Kind.”

Mit diesen Zeilen der Zuversicht beginnt der Comeback-Song des Hip-Hop-Künstlers Peter Fox, der im Winter 2022 wochenlang auf Platz 1 der deutschen Charts stand. Etwa ein Jahr zuvor feierten drei progressive Parteien mit einem ganz ähnlichen Sound des Aufbruchs ihr politisches Comeback. Bei allen Unterschieden teilen SPD, Grüne und FDP den Grundsatz, dass Veränderungen eher Chance als Bedrohung sind. Dass Wandel notwendig ist, um Verantwortung für die Zukunft des Landes zu übernehmen. Im Zentrum des Koalitionsvertrags der Bundesregierung steht deshalb ein Fortschrittsversprechen. 

Mit einer ambitionierten Reformagenda wollte die Ampelkoalition den Staat modernisieren, die Klimaschutzziele von Paris erreichen, für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen und einen starken Gemeinsinn in einer vielfältigen Gesellschaft fördern. Mindestens genauso wichtig wie diese programmatischen Vorstellungen scheint allerdings, dass die drei Koalitionäre sich zum Ziel gesetzt haben, einen neuen Regierungs- und Politikstil zu prägen. Miteinander wie auch in der Kommunikation mit den Bürger:innen wollen sie „eine Kultur des Respekts befördern”, heißt es im Koalitionsvertrag. Als kooperatives und lernendes Bündnis wollen sie das Signal in die Gesellschaft senden, „dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können.” Und sie wollen nicht reaktiv, sondern aus der eigenen Gestaltungskraft heraus handeln. Kurzum: Die Ampelkoalition will progressiv regieren

Dieser Anspruch wurde mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und seinen weitreichenden Folgen bereits zehn Wochen nach Amtsantritt auf eine harte Probe gestellt. Nicht die eigene Gestaltungskraft bestimmt seitdem das Handeln der Ampelkoalition, sondern das immer dichtere Auftreten von exogenen Schocks und Krisen. Langfristige Transformationspolitik weicht akutem Krisenmanagement. Die Vorstellung einer besseren Zukunft wird überlagert von den Zwängen der Gegenwart. Den Menschen ist nicht nach Aufbruch, sondern nach Sicherheit. Nicht nach Peter Fox (“Ich seh die Zukunft pink”), sondern nach Felix Kummer (“Doch meine Texte taugten nie für Parolen an den Wänden. Kein’n Trost spenden in trostlosen Momenten”).

Was bedeutet progressives Regieren in den 2020ern Jahren vor diesem Hintergrund? In welchen Spannungsfeldern des progressiven Regierens bewegt sich die Ampelkoalition und wie lässt sich konstruktiv mit ihnen umgehen? 

Von Alternativlosigkeit zu Veränderbarkeit

Regierungen in liberalen Demokratien haben den Anspruch, den Mindeststandards guter Regierungsführung zu entsprechen. Die Weltbank hat dafür Anfang der 1990er Jahre unter der Bezeichnung good governance eine Reihe von Effizienzkriterien und ethischen Grundsätzen definiert. Dazu zählen beispielsweise Rechtsstaatlichkeit, Transparenz in der Entscheidungsfindung und die Abwesenheit von Korruption. All das sind notwendige Bedingungen für ein im handwerklichen Sinne gutes Regieren. Es sagt jedoch wenig darüber aus, ob eine Regierung in der Lage ist, Lösungen zu finden und Entscheidungen zu treffen, die den Herausforderungen ihrer Zeit gerecht und von der Bevölkerung getragen werden. Denn demokratische Regierungen sind keine technokratischen Maschinen, sondern komplexe Gebilde, die über das Fundament der good governance hinaus ihren ganz eigenen stilistischen, strategischen und normativen Ansatz der Regierungsführung entwickeln. 

Die 16 Jahre unter Bundeskanzlerin Angela Merkel waren beispielsweise von einem verwaltenden, reaktiven, ausgleichenden – in einem Wort – konservativen Regierungsstil geprägt, der Deutschland ohne große Turbulenzen durch eine Vielzahl von Krisen gebracht hat. Gleichzeitig hat dieser Ansatz dazu geführt, dass große Herausforderungen wie die ökologische und digitale Transformation weitestgehend aufgeschoben wurden. Die Konsequenz: Der Status quo, der über Jahre mit Mühe verteidigt und gesichert wurde, stellt das Land nun vor erhebliche Probleme. Die massiven Anstrengungen, die nötig waren und sind, um sich aus der Abhängigkeit russischer Energieversorgung zu lösen, geben einen Vorgeschmack darauf, welche tiefgreifenden Veränderungen erforderlich sein werden, um die europäische Verteidigungsfähigkeit auch ohne die USA zu gewährleisten und das deutsche Wirtschaftsmodell so umzubauen, dass es gleichzeitig klimaneutral und unabhängiger von China wird. 

Insofern scheint es trotz oder gerade wegen der Sicherheitsbedürfnisse, die in der Bevölkerung vorherrschen, erforderlich, dass auf das konservative Regieren der vergangenen Jahre in den 2020ern nun ein progressives Regieren folgen muss, das die Veränderung des Status quo und nicht dessen Bewahrung in den Mittelpunkt stellt. 

Das Argument für die Notwendigkeit progressiven Regierens greift jedoch tiefer als der bloße Verweis auf Veränderungsdruck oder Reformstau. Denn progressives Regieren zielt nicht einfach darauf, den alten Status quo durch einen neuen zu ersetzen. Veränderung ist kein Selbstzweck. Es geht vielmehr um die Bewahrung von Veränderbarkeit, darum, sich nicht in Abhängigkeiten, Sackgassen oder Alternativlosigkeiten zu begeben. Denn diese verunmöglichen selbstbestimmte Veränderung. Das grundlegende Merkmal progressiven Regierens besteht daher darin, durch das Handeln stets die eigene Handlungsfähigkeit zu stärken. Progressives Regieren trägt so dafür Sorge, dass Politik, Gesellschaft und Wirtschaft immer über möglichst viele Optionen verfügen, die möglichst selbstbestimmt realisiert werden können. 

Politische Handlungsfähigkeit als Metawert progressiven Regierens

Um zu verstehen, weshalb ein Regierungsansatz, der Veränderbarkeit und maximale Handlungsfähigkeit verfolgt, in einem spezifischen Sinne progressiv und nicht einfach nur klug oder ratsam ist, hilft der Verweis auf einen komplizierten Begriff, hinter dem eine einfache Idee steht: Kontingenzbewusstsein. Moderne Gesellschaften zeichnen sich laut dem Soziologen Andreas Reckwitz durch die Erkenntnis aus, dass die Dinge nicht naturgemäß oder durch Gottes Fügung so sein müssen, wie sie sind. Die Einsicht also, dass  „Lebensformen und Institutionen nicht mehr von ihrer eigenen Selbstverständlichkeit, Natürlichkeit, Ewigkeit oder Alternativlosigkeit ausgehen, sondern davon, dass alles das, was in der Gesellschaft existiert, auch anders sein könnte.”  

Die Grundidee des Fortschritts besteht nun darin, dass in dieser Kontingenz ein normativer Wert liegt: Dass die Dinge nicht nur anders sein können, sondern auch anders sein können sollten. So verstanden bedeutet Fortschritt im grundlegenden Sinne nicht Veränderung hin zum Besseren, sondern die Bewahrung von Veränderbarkeit. Reckwitz folgend ist die Aufgabe fortschrittlicher Politik demnach, „einen als mangelhaft und kritikwürdig wahrgenommenen Zustand des Zwangs aufzubrechen zugunsten eines Zustands, der Möglichkeitsspielräume dauerhaft öffnet.” Insofern ist die Sicherstellung politischer Handlungsfähigkeit so etwas wie ein Metawert progressiven Regierens, das heißt, die Bedingung dafür, dass überhaupt Veränderungen entlang progressiver Werte realisiert werden können. Vor dem Hintergrund der schwindenden Handlungsspielräume im Zuge der Klimakrise und des Beginns einer neuen Globalisierung, bei der vor allem der Abbau von Abhängigkeiten durch Diversifizierung im Mittelpunkt steht, wird die politische Relevanz dieses Metawertes deutlich.

Auf zu neuen Ufern

Fortschritt als Veränderbarkeit und der daraus abgeleitete Wert der politischen Handlungsfähigkeit verschaffen Klarheit über die Bedingungen progressiven Regierens, geben aber noch keinen Aufschluss über Ziel und Richtung. Der Fortschrittsbegriff bleibt offen, schillernd und vage. Darin liegt insofern eine Stärke, als dass Fortschritt ein anschlussfähiger, dynamischer und damit politisch attraktiver Begriff ist. Aus der Offenheit leitet sich jedoch auch eine Aufgabe ab. Denn der Fortschrittsbegriff muss mit Leben gefüllt werden, wenn er den Begründungszusammenhang von politischen Maßnahmen herstellen soll. Eine progressive Regierung sollte in der Lage sein, ein lebendiges, substanzielles Verständnis von Fortschritt zu entwickeln und als Dach ihrer Politik nach außen zu kommunizieren. Sonst droht aus dem leeren Signifikanten Fortschritt ein leeres Versprechen zu werden. 

Ein konfuses „immer mehr” oder „immer besser” wird Menschen, die die letzten Jahre durch die Pandemie geplagt, durch den Krieg in Europa in größter Sorge und durch die Klimakrise verunsichert sind, nicht überzeugen und auch der Politik selbst keine Orientierung bieten. Dafür bedarf es eines schlüssigen Leitmotivs, in dem die Grundsätze der drei Parteien trotz aller Unterschiede ineinander greifen. Die Fortschrittsinterpretationen der Ampelkoalitionäre bilden bisher jedoch eher ein Mosaik als ein zusammenhängendes Bild. Ideen von Respekt, gesellschaftlicher Liberalisierung, technologischem Fortschritt, sozialer Gerechtigkeit, qualitativem Wachstum und Nachhaltigkeit stehen recht unverbunden nebeneinander. Dabei bietet die sozialliberale Tradition durchaus Anknüpfungspunkte für ein zeitgemäßes rot-grün-gelbes Projekt. 

Es ist die Aufgabe der Regierung, ein solches Projekt zu entwickeln. Es gibt dafür kein Patentrezept. Ein möglicher Ausgangspunkt für die normative Orientierung progressiven Regierens könnte jedoch das Konzept der Lebenschancen sein, das maßgeblich durch den sozialliberalen Denker Ralf Dahrendorf geprägt wurde. Er versteht darunter nicht nur die Vermehrung von realen Handlungsoptionen für möglichst viele Menschen, sondern ebenso das Herstellen von sozialen Bindungen und Zugehörigkeiten. Handlungsoptionen werden durch soziale und politische Rechte und durch materielle Bedingungen und Zugänge bestimmt, zu denen neben Einkommen und Vermögen auch kollektive Güter wie öffentliche Infrastruktur und eine intakte Umwelt zu zählen sind. Soziale Bindungen hingegen lassen sich schwieriger greifen und sind nicht in einem direkten Sinne politisch gestaltbar. Sie bauen auf Einbettungen in soziale Bezüge wie Familie, Sportverein, Subkultur, Gemeinschaft oder Gesellschaft auf, meinen grundsätzlicher aber den Halt, den Menschen innerhalb ihres engeren Umfelds und der Gesellschaft als Ganzes verspüren. Während Optionen den Horizont des Handelns betonen, sind Bindungen durch Sinn und Verankerung gekennzeichnet. Insbesondere die Klimakrise droht, beide Komponenten zu einem Punkt zu reduzieren, an dem langfristig gar Überlebenschancen gefährdet sind. Das Konzept der Lebenschancen darf daher keinesfalls lediglich als ein Projekt der liberalen Selbstentfaltung missverstanden werden, sondern muss auch bei Fragen der Selbsterhaltung ansetzen. 

Aufgabe progressiver Politik ist es dann, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen Zugang zu realen Handlungsoptionen und sinnstiftenden sozialen Bindungen haben. „Geschichte ist ein Weg zu immer neuen Ufern – aber das mißverstehe man nicht: nicht nur das immer Neue, also die Alternativen und Optionen, ist daran wichtig, sondern auch die Ufer, also die Bezüge und Bindungen”, schreibt Dahrendorf und bietet damit ein hilfreiches Bild für die größte Aufgabe der Ampelkoalition: die gerechte Transformation in ein postkarbones Zeitalter. Denn dabei geht es nicht nur darum, klimaneutrale Wege des Produzierens und Konsumierens zu gehen – also neue Ufer zu erreichen – sondern ebenso darum, eine Vorstellung dieser neuen Ufer zu entwickeln, die Geborgenheit und Halt vermittelt. Lebenschancen können so als politisches Leitmotiv dienen, das Freiheit und Sicherheit, Veränderung und Beständigkeit konstruktiv miteinander verbindet. 

Spannungsfelder progressiven Regierens

Zum Regieren gehört freilich mehr als Handlungsfähigkeit und normative Ausrichtung. Für die praktische Regierungsarbeit stehen Fragen der Input-, Throughput- und Output-Dimension im Vordergrund: Wie ist es um die Einbindung der (Zivil-)Gesellschaft, die Responsivität, die Zusammenarbeit der Koalitionspartner, die Problemlösungskompetenz und die Kommunikationsfähigkeit der Regierung bestellt? All das sind wichtige Aspekte. Progressive Regierungsführung entlang solch fester Kriterien zu definieren, würde allerdings von einem mechanischen Politikverständnis zeugen und der Komplexität des Regierens nicht gerecht werden. Vielmehr konstituiert sich progressives Regieren in Spannungsverhältnissen, in denen abhängig von aktueller politischer und gesellschaftlicher Entwicklung immer wieder die richtige Balance gesucht werden muss. Wie für jede Regierung gilt auch für die Ampelkoalition, dass sie sich in einer Vielzahl von Spannungsfeldern bewegt. Es kann an dieser Stelle nur eine Auswahl derer angedeutet werden, die für ein erfolgreiches progressives Regieren der Koalition als besonders wichtig erscheinen. 

1. Transformationspolitik und Krisenmanagement

Die Ampelkoalition ist mit dem Anspruch gestartet, das Land zu modernisieren. Mit der Digitalisierung des Staates und der Energiewende standen langfristige Transformationsprojekte im Vordergrund. Die Regierung wurde jedoch schnell von der krisenhaften Realität eingeholt und ist längst in den Modus des Krisenmanagements übergegangen. Die Logik der missionsorientierten Politik wurde durch die Logik der reagierenden Politik abgelöst. Progressives Regieren zeichnet sich in diesem Spannungsfeld dadurch aus, das Dringliche mit dem Wichtigen zu verbinden. Für die Ampelkoalition wird es insbesondere darauf ankommen, in Krisen jene Maßnahmen zu priorisieren, die auf langfristige Transformationsziele einzahlen. Bei Tankrabatt und Gasumlage ist dies nicht gelungen. Beim Sondervermögen bleibt abzuwarten, ob damit tatsächlich eine langfristige Repositionierung hin zu einer ausreichend finanzierten Verteidigung eingeläutet wurde. Und auch mit Blick auf die beeindruckend schnelle Diversifizierung der Gasquellen besteht die Gefahr, dass die Bundesregierung bei der Brückentechnologie Erdgas überkompensiert und so die Loslösung von fossilen Energieträgern verzögert. 

2. Teilhabe und Tempo 

In Krisenzeiten verschiebt sich der Fokus von der Input- auf die Output-Dimension der Politik. Die Bürger:innen erwarten dann, dass Probleme möglichst schnell gelöst werden. Das ist verständlich und hat angesichts des massiven Handlungsdrucks, der beispielsweise in der Klimakrise herrscht, auch seine Berechtigung. Allerdings gehört es zum Ideal progressiven Regierens dazu, immer möglichst viele Perspektiven in den Entscheidungsprozess einzubeziehen – nicht als Selbstzweck, sondern um die Legitimation und die Qualität der jeweiligen Entscheidung zu stärken. Das wiederum erfordert Zeit, die in Anbetracht dringlicher Herausforderungen knapp ist. Im Spannungsfeld aus Teilhabe und Tempo gilt es für die Ampelkoalition, Beteiligung zu kanalisieren, indem beispielsweise an den richtigen Stellen über das „Ob” und das „Wie” deliberiert wird. Debatten darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, ob die Mobilitätswende vollzogen werden muss und ob in jedem Bundesland die notwendige Menge an Windrädern gebaut werden muss, sind nicht produktiv, weil diese Ziele gesetzt sind (wenn man sie nicht teilt, kann man diese Regierung wieder abwählen). Darüber, wie diese Dinge realisiert werden, sollte es hingegen eine konstruktive Debatte geben, an deren Ende ein klares Ergebnis und eine zügige Umsetzung stehen. 

3. Zumutung und Entlastung

Die Transformation in eine postkarbone Zukunft wird der Politik, der Wirtschaft und allen voran den Bürger:innen viel abverlangen. Eine Politik des „Wir schaffen das” wird nicht ausreichen, solange mit dem „Wir” nur die Bundesregierung gemeint ist. Die Ampelkoalition ist gefordert, die richtige Balance zu finden zwischen Zumutungen gegenüber denen, die einen größeren Beitrag zur Ökologisierung der Gesellschaft und Wirtschaft leisten können und Entlastungen derer, die am stärksten unter den negativen Folgen des Strukturwandels leiden werden. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Politik hängt auch davon ab, dass bestehende unproduktive Zumutungen durch eine mangelhafte öffentliche Infrastruktur oder eine nicht ausreichend digitalisierte Verwaltung abgebaut werden. Dass den Bürger:innen nicht einmal ein Tempolimit zugemutet wird, zeigt beispielhaft, wie weit der Weg noch ist, den die Ampel hier zu gehen hat. Dabei bringen die liberalen, sozialdemokratischen und republikanischen Strömungen der Koalition alle ideellen Bedingungen für eine Politik der produktiven Zumutung mit, die den Irrwegen des Paternalismus auf der einen und der verantwortungslosen Freiheit auf der anderen Seite entkommt. Denn zur Wahrheit gehört: Die größten Zumutungen und Belastungen würden entstehen, wenn wir als Gesellschaft dem Fortschreiten der Klimakrise jetzt nicht entschieden entgegenwirken. In diesem Sinne könnten Transformationsmaßnahmen auch als Entlastung und nicht als Belastung verstanden werden. 

4. Parteiprofilierung und konstruktive Zusammenarbeit

Schließlich ist für den Erfolg progressiven Regierens maßgeblich entscheidend, dass die Koalitionspartner konstruktiv zusammenarbeiten und Einigkeit demonstrieren. Wenig Dinge werden von der Öffentlichkeit so abgestraft, wie eine gespaltene Regierung. Der Streit um die längere Laufzeit von drei Atomkraftwerken im vergangenen Herbst ist dafür das beste Beispiel. Häufig liegt die Ursache für den Koalitionsstreit innerhalb der Ampel in dem Bedürfnis der einzelnen Parteien, ihr jeweils eigenes Profil zu schärfen. Das ist erst einmal legitim, wird aber dann zum Problem, wenn die Fliehkräfte innerhalb der Regierung so groß werden, dass ihre Handlungsfähigkeit bedroht ist. Die drei Koalitionspartner sind gut beraten, nicht schon zu Beginn ihrer Amtszeit in einen Wahlkampfmodus zu verfallen, sondern gemeinsame Projekte zu identifizieren, die auf die Parteiprofilierung einzahlen. Langfristig wird die Ampelkoalition jedoch nur Erfolg haben, wenn sie ein Gleichgewicht der Kompromisse bildet, in dem sich keiner der drei Partner benachteiligt fühlt. 

Immer in Bewegung bleiben

Die genannten Spannungsverhältnisse zeigen nur Ausschnitte aus dem großen und komplexen Bild des progressiven Regierens. Was sich aber durch das gesamte Bild zieht, ist die Haltung, mit Widersprüchen konstruktiv umzugehen und immer wieder Gründe anzugeben, warum man sich als Regierung wie verhält. Ein progressiver Politikstil zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, zu lernen: auf sich verändernde Umstände zu reagieren, auf andere zu hören, Prinzipien nicht dogmatisch zu verfolgen, immer in Bewegung zu bleiben. Das bedeutet aber auch, dass das Handeln einer progressiven Regierung einem höheren Rechtfertigungsdruck unterliegt. Wer sich bewegt, muss begründen, warum. Handeln und Reden sind daher nicht getrennte Praktiken, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Aufgabe der Ampelkoalition wird es sein, nicht nur den Koalitionsvertrag abzuarbeiten und Krisen zu managen, sondern lernfähig zu bleiben und eine Erzählung von sich selbst zu finden, die ihr Handeln leitet und rechtfertigt. Dadurch wird die Zukunft vielleicht nicht pink, wie im Song von Peter Fox, aber sie bleibt offen. Und darauf kommt es an.

Dieser Text zu den Grundlagen und Bedingungen progressiver Regierungsführung bildet den Rahmen und den Ausgangspunkt für das Online-Magazin „Progressives Regieren”, in dem monatlich Vordenker:innen und Kritiker:innen der Ampelkoalition die strategischen Voraussetzungen für erfolgreiches progressives Regieren debattieren.



Autor

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.

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