In Italien, Frankreich und Holland stehen Abstimmungen an, deren Ausgang für die Zukunft der EU entscheidend sein kann. Die grassierende Hoffnung auf »mehr nationale Souveränität« ist trügerisch.
Nach dem Brexit-Referendum und dem Wahlsieg Donald Trumps ist der Westen bereits mehrfach abgeschrieben worden. Tatsächlich zeigen sich viele Politiker in Europa bestürzt; Ratlosigkeit macht sich breit. Fürs Wundenlecken bleibt jedoch keine Zeit, denn für Europa steht 2017 ein Jahr der Entscheidungen an.
Bereits am 4. Dezember 2016 wird sich zeigen, unter welchen Vorzeichen die Europäer ins neue Jahr starten: An diesem Tag wird sich entscheiden, ob der Grüne Alexander Van der Bellen oder der Rechtspopulist Norbert Hofer der nächste österreichische Bundespräsident wird. Überdies wird in Italien ein Referendum über das von Matteo Renzi lange vorbereitete Prestigeprojekt einer Verfassungsänderung abgehalten. In beiden Fällen haben die Abstimmungsergebnisse europaweite Konsequenzen. Wird Hofer gewählt, wird dies den Rechtspopulisten in Westeuropa zweifellos weiteren Aufwind verschaffen.
Dies lässt durchaus mit Sorge auf das bevorstehende Wahljahr blicken. Nicht nur in Deutschland wird im September ein neues Parlament gewählt, auch in den Niederlanden und Frankreich stehen Wahlen an. In beiden Ländern sind antieuropäische und antiliberale Kräfte bereits seit Jahren etabliert. Darüber hinaus waren sowohl Frankreich als auch die Niederlande 2004 traurige Protagonisten gescheiterter Referenden: Mit dem „Nein“ der Franzosen und Niederländer zum EU-Verfassungsvertrag begann im Grunde der Kampf der Rechten in Europa gegen das „Establishment“. Marine Le Pen besitzt reale Chancen, mit ihrem rechtsradikalen Front National bei der Präsidentschaftswahl gut bis sehr gut abzuschneiden. Dabei profitiert sie gleich doppelt: Ausbleibendes Wirtschaftswachstum und zunehmende soziale Unzufriedenheit begünstigen in Frankreich eine politische Kraft, die bereits seit drei Jahrzehnten etabliert ist und sich paradoxerweise auf nationaler Ebene dennoch als Antipol zum Establishment darzustellen versteht.
Ähnliches gilt in den Niederlanden für Geert Wilders und seine so genannte Freiheitspartei. In Umfragen liegen die Rechtspopulisten vorn, aber selbst wenn das Ergebnis nicht für eine erneute Regierungsbeteiligung genügen sollte, könnten die Themen des Wahlkampfs kaum radikaler sein: Kopftuch- und Koranverbot, die Schließung von Moscheen, mehr Geld für Militär und Polizei statt für Entwicklungshilfe – die Liste der plakativen Vorschläge ist lang. Gefährlich an dieser Art von Symbolpolitik ist, dass man aufgrund ihrer Wirkungslosigkeit kontinuierlich die Dosis erhöhen muss, um Erfolge zu suggerieren. Diese Radikalisierungsspirale bedroht die liberale Demokratie in ihrem Kern.
Wenn die Konsenspolitik an Grenzen stößt
Matteo Renzi hingegen ficht seinen eigenen Kampf aus. Italiens Premier wirbt unermüdlich für den institutionellen Umbau des politischen Systems. Mehr Stabilität und Effizienz – das soll unter dem Strich herauskommen. Tatsächlich aber sehen Umfragen derzeit die Gegner der Verfassungsreform vorn. Sollte Renzi diese Abstimmung tatsächlich verlieren, stehen Europa turbulente Zeiten bevor. Bereits in den vergangenen Wochen übte er sich in rhetorischen Angriffen gegen „Brüssel“. Ob Renzi nach einem erfolglosen Referendum tatsächlich zurücktritt, bleibt abzuwarten. In jedem Fall steht nach einem „Nein“ zu befürchten, dass die nächste italienische Regierung versuchen wird, die eigene Reputation mit weiterer Abgrenzung gegenüber der EU und gleichzeitigen Geldforderungen an Brüssel zu retten. Italiens Stabilität ist wichtig für Europa, entsprechend groß ist Renzis Selbstbewusstsein – und auch sein Erpressungspotenzial angesichts der schwelenden Bankenkrise im Land. In dieser Hinsicht könnte Italien das neue Griechenland werden, mit all den negativen Nebeneffekten, die angesichts der institutionellen Gemengelage (Kommission, Rat, EU-Parlament, internationale Geldgeber) damit verbunden sind.
Die EU steht nun vor der Herausforderung, kurzfristig Antworten entwickeln zu müssen, die von einer Mehrheit der europäischen Bürger als tatsächliche Problemlösungen anerkannt werden. Machen wir uns nichts vor: Mit Regierungen im Wahlkampfmodus in Deutschland und Frankreich dürfen wir uns keinen großen Wurf erhoffen. Die Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden, die Sicherung der EU-Außengrenzen und der Ausbau der gemeinsamen Verteidigungspolitik dürften gerade im Lichte der US-Wahl an Priorität gewinnen. Für das europäische Solidargefüge viel entscheidender ist jedoch, wie der Europäische Gerichtshof über die Klage der ungarischen und slowakischen Regierung gegen die von der EU beschlossene Verteilung der Flüchtlinge nach einer europaweiten Quote entscheiden wird. An diesem Beispiel wird erneut deutlich, dass der europäische Konsensweg nicht nur finanziell, sondern auch kulturell an seine Grenzen stößt.
Klar ist: Der Unmut vieler Menschen in Europa gegenüber „denen da oben“ wird sich so schnell nicht besänftigen lassen. Viel wird derzeit über Globalisierungsverlierer und -gegner gesprochen und geschrieben. Dies suggeriert, der sozioökonomische Status würde darüber entscheiden, ob ein Mensch für rechtspopulistische Thesen empfänglich ist. Nicht nur die Wählerstruktur der AfD oder die Anhängerschaft Donald Trumps zeigen aber, dass hier durchaus ein sozialökonomischer Querschnitt der Gesellschaft vorliegt. Die Konfliktlinie verläuft eher zwischen Kosmopoliten und Regionalisten.
Nur weil jemand der oberen Mittelschicht angehört, muss er kein Klassikfan und Globetrotter sein, und umgekehrt erlebt nicht jeder prekär Beschäftigte fremde Kulturen ausschließlich am Ballermann auf Malle. Die Frage ist viel eher: Finden sich beide Gruppen innerhalb ein und desselben politischen Systems wieder? Und gibt es politische Angebote für alle?
Folgt man der Argumentation von Bernd Ulrich in der Zeit, verkörpert unter den jetzigen Bedingungen nur noch Europa die als westlich gedeutete Allianz von Demokratie und Vernunft. Der Symbolpolitik der Populisten müssen Anhänger der liberalen Demokratie mit guter Sachpolitik entgegentreten. Homöopathie wirkt nur so lange, bis ein echtes und wirksames Medikament tatsächliche Linderung verspricht. Die liberalen Gesellschaftsvorstellungen sind dabei aber ebenso zentral wie das Konzept der Demokratie als politische Struktur.
Es mangelt an demokratischer Abwechslung
Hier liegt allerdings die langfristige Sollbruchstelle der Europäischen Union. Vergleicht man die Reaktionen nationaler Regierungen in den Krisensituationen der vergangenen Jahre, wird eine klare Tendenz erkennbar: Europäische Solidarität wird nur dann postuliert, wenn sie den kurzfristigen nationalen Interessen entspricht, sei es bei der intergouvernementalen Gipfel-Politik zur Refinanzierung Griechenlands oder in der Bewältigung der Fluchtkrise. Analog zur Vollendung des Binnenmarktes benötigen wir daher endlich die Vollendung der europäischen Demokratie.
Weil die EU-Kommissare von den jeweiligen nationalen Regierungen vorgeschlagen werden, ist die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission bisher nicht von Mehrheiten im EU-Parlament abhängig. Zudem muss in der EU der Ministerrat immer mitentscheiden – bei zentralen Themen (etwa Haushalt, Soziales oder Steuern) sogar einstimmig. Beides hat zur Folge, dass ein stabiles Regieren auf EU-Ebene nur durch eine permanente „informelle Große Koalition“ zwischen den größten europäischen Parteien möglich ist. Dadurch mangelt es in der EU an demokratischer Abwechslung, was die Bedeutung der Europawahl schwächt und der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit hinderlich ist. Energiewende, Eurorettung, Migrationskrise: Die AfD ist deshalb so groß geworden, weil bei diesen Themen ein Konsens der großen Parteien besteht.
Die intergouvernementale Krisenpolitik der vergangenen Jahre hat die exponierte Stellung nur mittelbar legitimierter Organe weiter verstärkt. Auch das ist ein Problem für die europäische Demokratie. Die Legitimationsketten werden länger und länger, Verhandlungen und entsprechende Mandate immer intransparenter: Es fällt zunehmend schwer, bestimmte politische Maßnahmen mit bestimmten Personen zu verknüpfen.
Nationale Interessen und Europas Gemeinwohl
Nur mit einem politischen Entscheidungsprozess, der eindeutig auf dem Mehrheitsverfahren basiert und das Parlament zum Dreh- und Angelpunkt macht, können wir aktuelle wie zukünftige Feinde der EU einhegen. Denn die aktuelle „Verärgerung ohne Repräsentation“ trifft überzeugte Pro-Europäer ins Mark: Sie führt uns zu Recht die Grenzen der bestehenden Strukturen vor Augen. Europäische Politiker, allen voran Sozialdemokraten, müssen den Mut haben, die supranationale Demokratie aus ihren Sonntagsreden heraus und in konkrete Initiativen zu überführen. Nur so entsteht politische Repräsentation und neue demokratische Legitimität im Globalisierungsgefüge.
Zu denken geben muss uns auch, dass die Rechtsstaatlichkeit – einer der Grundpfeiler unserer europäischen Einigung – in manchen Mitgliedsländern zunehmend angezweifelt oder sogar abgebaut wird. Immer mehr nationale Entscheidungsträger berufen sich auf (angeblich) europaverdrossene Mehrheiten und erteilen notwendigen Integrationsschritten mit diesem Vorwand eine Absage. Hier wird die Zukunft der Europäischen Union verspielt. Denn nach wie vor gibt es viel Zustimmung zu einem geeinten Europa. Es ist der Status quo des Regierens auf europäischer Ebene, der keinen Anklang mehr findet.
Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit sind zentrale Kategorien politischen Handelns. Hier muss die europäische Botschaft ansetzen: Überall in Europa sind wir auf eine starke, handlungsfähige und demokratische EU angewiesen, um überhaupt noch Probleme lösen zu können – unsere national je eigenen ebenso wie unsere gemeinsamen. Nichts weniger als dies muss das Kernanliegen auch jeder einzelnen nationalen Regierung sein. Dies ist vielleicht das einzige Argument, das das individuelle Eigeninteresse und das europäische Gemeinwohl gegenwärtig mit überzeugender Wirkung zu verbinden vermag. Wenn wenigstens auf diese Weise auch die liberalen Werte Europas geschützt und gewahrt werden könnten, wäre dies ein wunderbarer Nebeneffekt.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Debattenmagazin Berliner Republik 06/2016.