Europäische Werte verteidigen sich nicht von selbst

Warum die Europäische Union einen Fonds für Europäische Werte braucht

Die Europäische Union braucht einen Fonds für Europäische Werte, der Nichtregierungsorganisationen unterstützt, die sich für Werte gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags einsetzen.

In der Wirtschaftswelt ist es üblich, dass Hacker eingestellt werden, um gefährliche Schwachstellen einer Organisation aufzuspüren. Nach dieser Logik sollte die Europäische Union der polnischen Regierung einen großzügigen Preis verleihen.

Die jüngsten Entwicklungen in Polen haben nämlich eine entscheidende Schwachstelle der Union offengelegt. Diese besteht weniger in der richtigen Balance zwischen mehr oder weniger Integration. Die Zukunft der Union wird stattdessen von der öffentlichen Zustimmung für europäische Werte abhängen. Um diese These zu verstehen, stellen Sie sich vor, welche Konsequenzen es hätte, wenn sich die polnische Regierungspraxis europaweit durchsetzt:

Zunächst würde die Union ihre außenpolitische Glaubwürdigkeit verlieren. Wenn Mitgliedsländer Rechtsstaatlichkeit aushebeln, Medienfreiheit einschränken und Nichtregierungsorganisationen bekämpfen, ist die Union wenig glaubwürdig, wenn sie gleichzeitig in ihrer Nachbarschaft für demokratische Standards wirbt. Zweitens, wenn Mitgliedsländer Urteile des Europäischen Gerichtshofs ignorieren, wird gemeinsame Politik wertlos. Sie funktioniert nämlich nur dann, wenn eine unabhängige Instanz gemeinschaftliches Recht durchsetzen kann. Drittens: stellen Sie sich vor, welche Entscheidungen der Europäische Rat treffen würde, wenn Kaczyńskieske Regierungen die Mehrheit hätten. Strenger Nationalismus nach dem Motto “Deutschland first”, “Frankreich first” und anderen “firsts”, Verachtung des Rechtsstaats sowie Infragestellung getroffener Beschlüsse würden das europäische Projekt zerstören.

Kurzum: Wenn Mitgliedsländer europäische Werte verachten – pluralistische Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte – bricht die Union als wertebasiertes System friedlicher Konfliktlösung unter Demokratien zusammen. Wir können nur spekulieren, wie eine neue Union aussehen würde. Aus der Geschichte wissen wir allerdings, dass die Alternative zur Stärke des Rechts nur das Recht des Stärkeren sein kann.

Deshalb sollte die polnische Regierung einen Preis verliehen bekommen.

Warum die polnische Regierung einen Preis bekommen sollte

Einerseits ist ihr Verhalten ein Warnschuss, der uns an die Zerbrechlichkeit liberal-demokratischer Institutionen erinnert. Diese Institutionen existieren nicht! Sie sind nicht mehr als ein paar Blätter Papier, die durch öffentliche Zustimmung zur politischen Realität werden. Nimmt man diese Zustimmung weg, hält man in den Händen bloß Papier.

Andererseits: wenn man den Schwachpunkt kennt, kann man über Lösungen nachdenken. In diesem Sinne schlage wir einen präventiven Ansatz zur Stärkung europäischer Werte vor.

Denn der korrektive Arm existiert bereits: Artikel 7 des EU-Vertrags sieht im Falle einer schwerwiegenden Verletzung europäischer Werte die Suspendierung des Stimmrechts vor. Bevor es soweit ist, wird ein dialogbasiertes Rechtsstaatsverfahren eingeleitet. Das Manko dieser Instrumente besteht darin, dass sie annehmen, man könne Mitgliedsländer durch Dialog zum Einlenken bewegen. Wenn ein Mitgliedsland aber statt Dialog auf Konfrontation setzt, sind sie zahnlos. Darüber hinaus ist Artikel 7 eine “nukleare Option”: sobald er zu Ende angewandt wird, sind die Einflussmöglichkeiten ausgeschöpft.

Daher ist derzeit im Gespräch, Polens Kurskorrektur durch die Einschränkung von EU-Mitteln zu erreichen. Dieser Vorschlag ist ein zweischneidiges Schwert. Er könnte die Regierung zwar möglicherweise einen Teil ihrer Popularität kosten, würde aber zugleich polnische Bürger treffen, deren Europa-Enthusiasmus nicht zuletzt mit den Struktur- und Agrarfonds zusammenhängt.

Maßnahmen für europäische Werte

Weil es so schwer ist, auf Verstöße gegen europäische Werte zu reagieren, sollte die Union in vorbeugende Maßnahmen investieren. Im Folgenden schlagen wir vor, wie eine dieser Maßnahmen aussehen könnte.

In allen Mitgliedsländern ist die Zivilgesellschaft ein entscheidender Verbündeter im Werben für europäische Werte. Am polnischen Beispiel sieht man das besonders deutlich. So veranstalteten im vergangenen Sommer große und kleine Nichtregierungsorganisationen Proteste in knapp 250 Städten, die den Präsidenten dazu bewegten, gegen Teile einer kontroversen Justizreform sein Veto einzulegen.

Allerdings wird es immer schwerer, solche Organisationen zu betreiben. Die polnische Regierung strich Förderung für kritische Organisationen zusammen, gründete ein “Nationales Zentrum zur Entwicklung der Zivilgesellschaft” zur Überwachung staatlicher Zuschüsse und führte Schmutzkampagnen in regierungstreuen Medien durch. Somit fehlen der organisierten Zivilgesellschaft ausgerechnet zum Zeitpunkt, in dem sie am dringendsten gebraucht wäre, Mittel, um sich für europäische Werte einzusetzen.

Daher muss die EU einschreiten. Bereits heute hilft die Union pro-demokratischen Organisationen in der Nachbarschaft. Dem Europäischen Instrument für Demokratie und Menschenrechte, zum Beispiel, stehen für diesen Zweck 1,3 Mrd. Euro zur Verfügung. Wenn aber demokratische Institutionen innerhalb der Union gefährdet sind, brauchen wir ein Instrument für die Mitgliedsländer.

Dieses Instrument, nennen wir es Fonds für Europäische Werte, würde Nichtregierungsorganisationen unterstützen, die sich für Werte gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags einsetzen: Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und demokratische Standards. Die Förderung würde sich an Organisationen in allen Mitgliedsländern richten, um zu unterstreichen, dass die Pflege gemeinsamer Werte eine Aufgabe für die EU als Ganzes ist. Das Budget könnte sich an dem orientieren, was die Union für ähnliche Zwecke in Drittstaaten ausgibt.

Ein solcher präventiver Arm hätte drei Vorteile.

Erstens würde er die raue Sprache der Sanktionen durch ein positives Signal aus Brüssel ergänzen. Zweitens würde er Spaltungen in der Union verringern, indem er unterstreicht, dass Werteförderung eine unionsübergreifende Aufgabe ist. Drittens würde er das Immunsystem der europäischen Demokratien stärken. Schließlich kann Demokratie nur durch Bürger aufrechterhalten werden, die an sie glauben und für sie kämpfen. Friedrich Ebert sagte dazu treffend: Demokratie braucht Demokraten.

Die Alternative zu bedeutenden Investitionen in europäische Werte ist, dass Institutionen, die unsere Freiheit und Wohlstand sichern, in einigen Jahren nicht mehr sind als wehrloses Stück Papier.

Dieser Artikel erschien zuerst am 23.01.2018 auf Euractiv.de.

Autoren

Jan Jakub Forscher an der Hertie School of Governance und Fellow des Jacques Delors Instituts Berlin.
Adam Traczyk ist Gastautor bei Das Progressive Zentrum und Mitgründer und Direktor des Warschauer Think Tanks Global.Lab.

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