Enkeltest und Fuck-up Nights? 21 Ideen zur Stärkung unserer Demokratie

Ein Interview mit Elisabeth Niejahr über „Demokratieverstärker“

Demokratie braucht Offenheit, Konfrontation und klare Spielregeln. Wie können wir diese Werte in die Tat umsetzen und unsere Demokratie in der Praxis weiterentwickeln? Maja Göpel, Anke Hassel, Peter Siller, Johannes Vogel und viele mehr haben 21 Ideen aufgeschrieben, die noch in diesem Jahr Realität werden können. Ein Gespräch mit der Herausgeberin des Buches “Demokratieverstärker” Elisabeth Niejahr.


Frau Niejahr, in Ihrem neuen Buch “Demokratieverstärker” tragen 25 ganz unterschiedliche Persönlichkeiten Ideen zusammen, die unsere Demokratie noch dieses Jahr verbessern können. Gewähren Sie uns einen kleinen Einblick: Was ist der Enkeltest? Wozu brauchen wir mehr Fuck-up Nights? Und warum sollte Demokratie mehr Wissenschaft wagen?

Elisabeth Niejahr: Mit dem Enkeltest sollen Gesetze auf die Wirkungen für künftige Generationen hin überprüft werden – ein Vorschlag von der Transformationsforscherin Maja Göpel und der ZEIT- Journalistin Petra Pinzler. Um Fuck-Up Nights geht es bei dem Social Media Experten Martin Fuchs, der erklärt welche Gepflogenheiten der digitalen Kommunikation uns auch in der analogen Welt gut tun könnten, welche Lernprozesse aus der Corona-Zeit speziell in der politischen Kommunikation die Pandemie überdauern sollten. Er nennt drei Punkte: Das Teilen von Wissen, das Loben und Liken und eine gewisse Fehlerkultur, für die er als Beispiel Fuck-Up Nights nennt.

„Alle Texte haben eine Mischung aus Tiefe einerseits und Umsetzungsorientierung andererseits

Ihr dritter Punkt stammt vom Karl Lauterbach, der seine früheren Berufskollegen auffordert, politische Mandate zu übernehmen. Ich glaube, der Beitrag zeigt, was meinem Co-Herausgeber und Stiftungskollegen Grzegorz Nocko und mir bei dem Buch wichtig war: Die Forderung selbst hat Lauterbach schon vorher geäußert, aber es ist dann schon etwas anderes, einen Gedanken auf zehn Buchseiten durchzudeklinieren. Wir Herausgeber finden: Alle Texte haben eine Mischung aus Tiefe einerseits und Umsetzungsorientierung andererseits. Ich hoffe mal, die Leser sehen das auch so.

Unter den Autor:innen sind Dorothee Bär, Maja Göpel und Johannes Vogel. Spannenderweise begegnen sich die unterschiedlichen Köpfe, die Ihr Buch zusammen bringt, im politischen Raum mitunter eher im Gegeneinander statt im Miteinander. Glauben Sie, dass die Autor:innen des Buches bereit sind, auch über den Schreibprozess hinaus gemeinsam und lagerübergreifend an der Umsetzung der Ideen aus dem Buch zu arbeiten?

Elisabeth Niejahr: Ganz sicher. Einige Autoren haben sich erst durch das Buchprojekt kennengelernt und mehrere sind an uns herangetreten mit der Bitte, digitale Treffen für die neu entstandene Community zu organisieren. Das hatten wir aus Respekt vor den Terminkalendern unserer Autoren eigentlich gar nicht geplant! Viele Texte sind anschlussfähig für Menschen aus anderen politischen Richtungen.

Mit Doro Bär und Franziska Brantner haben übrigens sogar zwei Politikerinnen von CSU und Grünen gemeinsam ein Thema durchbuchstabiert, wenn auch in einem Gespräch und nicht in einem gemeinsamen Beitrag. Bei ihnen geht es darum, wie der Bundestag elternfreundlicher werden könnte. Beide Politikerinnen sind Mütter und Abgeordnete und wissen aus eigener Erfahrung, wo die Probleme liegen.

Wir sprechen viel darüber, dass die Corona-Krise unsere Gesellschaft grundsätzlich verändern wird. Dass wir anders arbeiten, anders reisen und uns als Gesellschaft besser auf Krisen vorbereiten werden. Können wir aus der Pandemie auch Lehren für eine stärkere Demokratie ziehen?

Elisabeth Niejahr: Unbedingt, darum geht es an vielen Stellen in dem Buch. Die Think Tank Chefin Laura Krause, Peter Siller, Leiter des Grundsatzreferats im Bundespräsidialamt und der Ethnologe Wolfgang Kaschuba zum Beispiel beschäftigen sich alle mit der Gestaltung des öffentlichen Raums und formulieren dafür Ideen. Wir merken ja durch die Pandemie gerade, wie wichtig Orte für Begegnungen sind, auch für Zufallsbegegnungen.

Ein anderes Beispiel ist die Krisenfähigkeit von Verwaltungen. Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Hertie-Stiftung, schlägt einen Stresstest für Behörden vor, bei dem zum Beispiel systematisch untersucht wird, welche Personen im Fall der Fälle die bereits Beschäftigten unterstützen können.

In der Einleitung des Buches beschreiben Sie die Stärkung der Demokratie als Projekt und die 21 Ideen des Buches als To-do-Liste. Projekte werden gemanaged, sie haben ein Anfang und ein Ende, To-do-Listen können abgearbeitet werden. Warum haben Sie gerade diese Management-Begriffe gewählt, um die Mission des Buches zu beschreiben?

Elisabeth Niejahr: Viele Demokratie-Debatten erscheinen uns Herausgebern etwas sehr wolkig, und viele gutgemeinte Partizipationsprozesse enden im Irgendwo, weil vorab nicht vereinbart wird, was von den Empfehlungen umgesetzt werden kann und soll. Nichts gegen Debatten auf Meta-Ebene. Aber wir hatten den Eindruck, dass ein etwas hemdsärmeligerer Ansatz dem Thema guttut. Und der Ansatz passt zur Tradition in der Hertie-Stiftung, in der „Gutes Regieren“ immer auch sehr konkret durchbuchstabiert worden ist, zum Beispiel in der Arbeit der Hertie School.

12 Monate, 21 Ideen. Das ist eine ambitionierte Agenda. Wie kann es gelingen, dass die Ideen des Buches in den nächsten 12 Monaten Realität werden?

Elisabeth Niejahr: Das Buch erscheint nicht ohne Grund im Wahljahr. Es wäre schön, wenn der eine oder andere Autor von Wahlprogrammen sich von unseren „Demokratieverstärkern“ inspirieren ließe. Dann möglichst auch diejenigen, die Ende des Jahres Koalitionsverhandlungen führen. Bis dahin können aber viele Ideen auch ganz einfach und schnell so umgesetzt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Paul Jürgensen.


Elisabeth Niejahr ist seit Januar 2020 Geschäftsführerin des Bereichs „Demokratie stärken“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, davor war sie als Journalistin u.a. bei Die Zeit, Spiegel und der Wirtschaftswoche tätig. Sie ist Mitglied des Sounding Boards von New Urban Progress, ein Projekt, das für eine nachhaltige und gerechte Entwicklung von Städten und Ballungsräumen städtische Regierungsmitglieder sowie Expert*innen für Urbane Entwicklung über den Atlantik hinweg verbindet.

Autor:innen

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.
Annika Hoffmann war ab Januar 2021 Assistentin im Kommunikationsteam. Nach ihrem Dualen Studium an der TH Köln führte sie ihre Leidenschaft für Journalismus und Hörfunk nach Brüssel - zum Master in Communication Sciences an der Vrije Universiteit Brussel mit Fokus auf 'Journalism and Media in Europe'. Hier begeisterte sie sich für Kommunikationswissenschaft und Diskursforschung. Auch in Zukunft möchte sie ihre Interessen in Politik, ideologischer Kommunikation und die Zukunft der liberalen Demokratie, weiter verfolgen und den Schwerpunkt Diskurs und Ideologie rechter und populistischer Akteure, vertiefen. Privat engagiert sie sich ehrenamtlich beim grassroots Think Tank Club Alpbach Belgium Brussels (Teil des Forum Alpbach Network) als Scholarship Coordinator und Vorstandsmitglied.

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