Ein Jahr energiepolitische Zeitenwende: Der Winter ist überstanden. Und Jetzt?

Die Ampel hat in der Energiepolitik im vergangenen Jahr viel erreicht. Für eine tatsächliche energiepolitische Zeitenwende müssen die Koalitionäre nun jedoch über ihren eigenen Schatten springen

Gemessen an den Ambitionen, die vergangene Bundesregierungen mit Blick auf die  Dekarbonisierung der deutschen Volkswirtschaft an den Tag legten, markierte bereits der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition eine Art energiepolitische Zeitenwende. Kohleausstieg bis 2030, ein Anteil von 80 % erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch,  Abbau von Planungs- und Genehmigungshürden bei Windenergie und Netzen, schneller Wasserstoffhochlauf und eine Plattform zur Reform des Strommarktdesigns – diese Vorhaben stellen für sich genommen schon anspruchsvolle Ziele für eine Legislaturperiode dar. 

Russlands Angriffskrieg ist nicht der einzige Grund für die Energiekrise 

Im ersten Regierungsjahr wurde die energiepolitische Agenda dann aber weniger durch die langfristige Umsetzung der Energiewende als durch das Management multipler kurzfristiger Energiekrisen dominiert. Hier ist nicht nur der russische Angriffskrieg in der Ukraine mit der Folge von Gasknappheit und explodierenden Preisen an Gas- und Strommärkten zu nennen. Unabhängig davon haben historisch niedrige Verfügbarkeiten der französischen Atomkraftwerke, trockenheitsbedingt geringe Speicherfüllstände und durch Niedrigwasser eingeschränkter Kohletransport im Rhein konkreter als je zuvor Sorgen vor einer Strommangellage im Winter entstehen lassen. 

Kurz vor dem Ende des Winters kann man angesichts weiterhin hoher Füllstände in Gasspeichern, gesunkener Preise an den Energiemärkten und einer Entspannung bei verfügbaren Kraftwerkskapazitäten feststellen: Das Krisenmanagement war teilweise holprig (man denke an das Machtwort des Bundeskanzlers zur begrenzten Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke oder die Diskussionen um die Gaseinkäufe des Trading Hub Europe (THE) zur Befüllung der Speicher), aber letztendlich – sicherlich auch unterstützt durch den milden Winter – erfolgreich.

Die Ampel setzt beim Ausbau der Erneuerbaren die richtigen Prioritäten

Auch wenn die Energiekrise nicht vorbei ist und die Wiederbefüllung der Gasspeicher vor dem Winter 2023/24 noch einmal eine erhebliche Herausforderung darstellen wird: Langfristig wird sich die Ampelkoalition in der Energiepolitik genau wie in anderen Politikfeldern daran messen lassen müssen, ob die angekündigte Zeitenwende auch in die Tat umgesetzt wird. Entscheidend ist dabei weniger die Erreichung kleinteiliger nationaler Ziele als die Demonstration, dass eine offene, stark industrialisierte Volkswirtschaft unter Wahrung ihres Wohlstands dekarbonisiert werden kann. Diese längerfristige energiepolitische Herausforderung lässt sich nicht mit dem Austausch der Lieferanten für fossile Energieträger lösen und dürfte sich als deutlich herausfordernder als das Management einer akuten Energiekrise erweisen. 

Ein positiver Effekt der Energiekrise könnte sein, dass sie verschiedene Problemfelder offengelegt und ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt hat. In der Gesellschaft dominiert mittlerweile die Auffassung, dass Deutschland zu lange auf günstige fossile Brennstoffe gesetzt hat und der Ausbau der erneuerbaren Energien über Jahre hinweg nicht im gebotenen Maß erfolgt ist. Die Stresstests der Übertragungsnetzbetreiber haben darüber hinaus noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass der fehlende Netzausbau nicht nur ein Hemmnis für die Nutzung erneuerbarer Energien, sondern auch ein Risiko für die Versorgungssicherheit bedeutet. 

Es ist der Ampelkoalition zugute zu halten, dass sie diese beiden besonders relevanten Problemfelder im ersten Regierungsjahr adressiert hat. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz 2023 und dem Windenergie-auf-See-Gesetz 2023 hat die Bundesregierung die Ausbauziele für erneuerbare Energien auf ein Niveau angehoben, das mit den langfristigen Klimazielen kompatibel ist. Gleichzeitig wurden mit dem Windenergieflächenbedarfsgesetz und den Änderungen im Baugesetzbuch wichtige Schritte ergriffen, um dem Mangel an Flächen und Genehmigungen bei der Windenergie an Land entgegenzuwirken. Zudem ist zu hoffen, dass die maßgeblich auf Drängen der Bundesregierung Ende 2022 beschlossene EU-Notfallverordnung und die Ende Januar 2023 im Kabinett beschlossene Umsetzung in nationales Recht eine erhebliche Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien und Netze ermöglichen. Auch bei der Optimierung des Netzbetriebs gab es erhebliche Fortschritte. So hat die dritte Novelle des Energiesicherungsgesetzes die gesetzliche Grundlage für eine schnelle Ausweitung des witterungsabhängigen Freileitungsbetriebs gelegt, aktuell noch begrenzt bis März 2024. Damit wird eine Höherauslastung der Bestandsnetze ermöglicht, die die Versorgungssicherheit nicht gefährdet.

Es ist noch nicht absehbar, ob die sehr ambitionierten Ausbauziele für 2030 mit diesen Maßnahmen erreicht werden können, oder ob etwa die Flächenausweitung im Bereich der Windenergie an Land zu spät kommt. Dennoch ist zumindest im Bereich erneuerbare Energien und Netzausbau eine wichtige neue Dynamik zu erkennen.

Hohe Energiepreise erfordern einen Staat, der zielgenau handelt und die Anreizsysteme nicht verwässert

Über den stockenden Ausbau von erneuerbaren Energien und Stromnetzen hinaus erfordert eine tatsächliche energiepolitische Zeitenwende jedoch die Beschäftigung mit vielen weiteren Problemfeldern, die im Grundsatz lange bekannt sind, aber durch die Energiekrise noch einmal deutlich stärker in den Fokus gerückt sind. 

Der Umgang mit steigenden Energiepreisen ist hier beispielhaft zu nennen. Aus einer energiewirtschaftlichen Perspektive ist klar, dass Energiepreise, speziell für fossile Energieträger, steigen müssen, wenn Energieeffizienz und Dekarbonisierungsziele erreicht werden sollen. Werden intelligente, anreizerhaltende und möglichst progressiv wirkende Kompensationsmechanismen eingeführt, sind Preisanstiege nicht gleichbedeutend mit einer systematischen Mehrbelastung der Verbraucher:innen. Dennoch zeigt die Diskussion um die Energiepreisbremsen und deren Kommunikation auf, wie schwierig es Politik fällt, solche Mechanismen zu erklären und umzusetzen, Stichwort Klimageld. Stattdessen ist die Neigung groß, Preisdeckel zu versprechen, die der Umsetzung der Energiewende und dem Management der Energiekrise schaden. Beispielhaft sei hier die Aussetzung der laut  Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) zum Januar 2023 vorgesehenen CO2-Preiserhöhung genannt, die vor allem in ihrer Signalwirkung fatal ist. Stärker noch als in Deutschland wird die Diskussion auf EU-Ebene geführt, wo viele Mitgliedstaaten Subventionen oder Preisdeckel für fossile Energieträger oder den Zubau begrenzende Zwangsmechanismen zur Deckelung der Erlöse aus erneuerbaren Energien als opportune Instrumente im Kampf gegen hohe Energiepreise erachten. 

Die Debatte um Energiepreisbelastungen betrifft in besonderem Maße auch die Industrie. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat das Jahr 2023 zum Jahr der Industriepolitik erklärt. Und tatsächlich nimmt diese Debatte, getrieben auch durch den stark protektionistisch ausgestalteten amerikanischen Inflation Reduction Act, erheblich an Fahrt auf. So hat die EU-Kommission Anfang Februar 2023 ihren Green Deal Industrial Plan vorgestellt, mit dem temporär die Voraussetzungen für Staatshilfen an die Industrie deutlich abgesenkt werden sollen. Es gibt sicherlich gut vertretbare Gründe (Absicherung regulatorischer Risiken, Technologieführerschaft, Spillover-Effekte), die Transformation der Industrie hin zu einer dekarbonisierten Produktion staatlich zu begleiten. Hier die Balance zu wahren, dürfte aber eine erhebliche Herausforderung darstellen. Gerade Deutschland mit seiner traditionell sehr offenen, auf internationalen Handel setzenden Volkswirtschaft hat bei einem globalen Rückfall in protektionistische Tendenzen viel zu verlieren. Außerdem kann eine breit angelegte staatliche Unterstützung der Industrie Transformations- und Innovationsanreize abschwächen und zu einem unproduktiven Rent-Seeking-Wettbewerb führen. Die Energiekrise hat gezeigt, dass Industrieunternehmen auf veränderte Anforderungen sehr flexibel reagieren können und dadurch Wohlstandsverluste begrenzen, wenn sie Preissignalen ausgesetzt sind.

Beim Wasserstoff sind Geschwindigkeit und europäische Zusammenarbeit gefragt

Auch bei der gerade für die Industrie wichtigen und nun sehr viel dringender erscheinenden Ablösung von Erdgas durch klimaneutrale Gase, insbesondere Wasserstoff, gibt es aktuell mehr Fragen als Antworten. Unabhängig von vielen ungelösten technischen Detailfragen, zum Beispiel bei der Umrüstung bestehender Erdgasinfrastruktur, besteht hier ein enormes Koordinationsproblem. In der Vergangenheit wurden neue Versorgungsinfrastrukturen über mehrere Jahrzehnte hinweg in vertikal integrierten Strukturen und basierend auf langfristigen Verträgen aufgebaut. Der Hochlauf des Wasserstoffsystems muss nicht nur in einem deutlich kürzeren Zeitraum von lediglich 15 bis 20 Jahren stattfinden. Auch der institutionelle Rahmen mit einer zumindest anfangs von staatlichen Fördersystemen abhängigen Nachfrage, einer unsicheren Angebotssituation (blauer/grüner Wasserstoff, Rolle von Ammoniak und anderen Derivaten, Importmöglichkeiten) und einer ungeklärten Verantwortlichkeit für den Netzausbau und dessen Finanzierung dürfte sich als deutlich herausfordernder erweisen. Hier sind schnelle Klärungen vonnöten.

Die hart geführten Auseinandersetzungen auf europäischer Ebene um einen Gaspreisdeckel Ende vergangenen Jahres, die laufende Diskussion um die Reform des Strommarktdesigns, aber auch lange schwelende energiepolitische Konflikte wie zum Beispiel um die Auftrennung der einheitlichen deutschen Gebotszone am Strommarkt zeigen auf, wie stark die energiepolitischen Vorstellungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten divergieren. Gerade für Deutschland mit seinen begrenzten Potenzialen bei Wind- und Sonnenenergie wird eine verbesserte europäische Zusammenarbeit bei der Nutzung von erneuerbaren Energien wie grünem Wasserstoff sowie bei der Gewährleistung von Versorgungssicherheit aber entscheidend sein. Ein deutlicher Ausbau der grenzüberschreitenden Stromnetze On- und Offshore und der zügige Aufbau eines europäischen Wasserstoffbackbones sind für Deutschland langfristige no-regret-Maßnahmen. Aktuell ist hier jedoch noch keine klare Strategie zu erkennen, die europäischen Partner zum Beispiel durch die Anerkenntnis einer gemeinsamen Finanzierungsverantwortung ins Boot zu holen.

Der Ampel wird die energiepolitische Zeitenwende nur gelingen, wenn die Koalitionspartner über ihren eigenen Schatten springen

Die Bundesregierung hat in ihrem ersten Amtsjahr auf dem Feld der Energiepolitik trotz unterschiedlicher Sichtweisen der Koalitionäre viel bewegt und der Energiewende eine neue Dynamik gegeben. Insbesondere in den letzten Monaten scheinen jedoch bei Fragen wie der Nutzung der Atomenergie oder dem Wasserstoffhochlauf weniger die Zusammenarbeit als ritualisiertes Verhalten entlang altbekannter Konfliktlinien im Vordergrund zu stehen. Um die großen Herausforderungen im Feld der Energiepolitik zu adressieren, ist hingegen eine lösungsorientierte und unvoreingenommene Kooperation notwendig. Wenn sie Deutschland in eine dekarbonisierte Zukunft führen möchten, werden die Ampelparteien dabei an vielen Stellen über ihren eigenen Schatten springen müssen. Technologische Offenheit, Innovationen und Preisanreize werden ebenso unverzichtbar für die Transformation des Energiesystems sein wie ein  Staat, der  Infrastrukturen und  Förderungen plant und finanziert. Für eine tatsächliche energiepolitische Zeitenwende wäre es deshalb zu wünschen, dass die selbst erklärte „Fortschrittskoalition“ bereit ist, sich aus festgefahrenen Positionen der Vergangenheit zu lösen und gemeinsam eine innovative, soziale und ökologische Energiepolitik voranzutreiben.

Autor

Christoph Maurer

Geschäftsführer bei Consentec GmbH
Christoph Maurer ist seit 2007 Gesellschafter und Geschäftsführer der Consentec GmbH. Er verantwortet bei Consentec Fragestellungen zu energiepolitischen und energiewirtschaftlichen Grundsatzfragen sowie zu den Themenbereichen Übertragungsnetz und Stromerzeugung.

Weitere Beiträge aus dem Online-Magazin

Status quo – im Namen der Zukunft! Generationengerechtigkeit zwischen Klimaschutz und Schuldenbremse

Veröffentlicht am
Gerechtigkeit hat viele Facetten. Deshalb wird sie nur dort erreicht, wo die Politik Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern berücksichtigt. Exemplarisch zeigt sich dies in der gegenwärtigen Debatte um die Finanzierung unserer Klimapolitik: Wer die nächsten Generationen vor hohen Schulden retten will, läuft schnell Gefahr, ihnen dabei schwere Klimahypotheken aufzubürden.

“Es kann niemand wollen, dass erste Wahlerfahrungen zu Frust und Ärger führen”

Veröffentlicht am
Junge Menschen sind von großen Problemen wie der Klimakrise und dem demografischen Wandel besonders betroffen. Ihre Interessen scheinen in der politischen Debatte aber häufig weniger Gewicht zu haben als die der Älteren. Würde ein einheitliches Wahlrecht ab 16 daran etwas ändern? Und wie blicken junge Menschen heute auf das Land und ihre Zukunft? Ein Interview mit Catrina Schläger und Thorsten Faas.

Warum wir keine Zeit haben, nicht zu beteiligen

Veröffentlicht am
Beteiligung ist kein Hindernis, sondern der Schlüssel zur Beschleunigung der Klimawende. Gerade umfassende Transformationsvorhaben erfordern eine Einbeziehung des Parlaments. Verbindet man parlamentarische Gesetzgebung mit zufallsbasierter Beteiligung von Bürger:innen, führt das zumeist zu progressiverem Klimaschutz. Mehr Partizipation erhöht also das Tempo der Transformation.
teilen: