Wie gleich muss eine Gesellschaft sein, um die Freiheit aller zu garantieren? Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Gleichheit und Freiheit sprechen? Und wie werden wir den Freiheitsansprüchen von zukünftigen Generationen gerecht? Ein Roundtable-Gespräch mit Elif Özmen, Johannes Vogel, Franziska Heinisch und Wiebke Esdar.
Gesellschaftliche Debatten sind im Kern fast immer Debatten um Freiheit: Tempolimit, Rente, Klimakrise, Corona. Stets geht es um die Frage, ob und wie weit die Freiheit der einen beschränkt werden muss, um die Freiheit der anderen zu sichern. Um diese politischen Alltags- und Grundsatzfragen zu beantworten, lohnt ein Blick auf die Denkschule, die unserem modernen Staatswesen zugrunde liegt: den Liberalismus.
Die Grundformel des Liberalismus folgt zunächst einem simplen Zweischritt. Erstens: jeder Mensch ist frei und darf tun was er oder sie will. Zweitens: Wer die Freiheit einer anderen Person einschränkt, begeht prinzipiell Unrecht. Das heißt nicht, dass Freiheitseinschränkungen per se ausgeschlossen sind, lediglich, dass sie immer einer Rechtfertigung bedürfen.
Für Elif Özmen, Professorin für praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, ist deshalb klar, dass Gleichheit auch im Liberalismus eine zentrale Rolle spielt, nämlich als Gleichheit der Freiheit: “Freiheit meint im Liberalismus immer gleiche Freiheit. Die Gleichheit ist deshalb ein Charakteristikum von Freiheit.” Mit Blick auf negative Freiheit, das heißt die Freiheit von Zwang, liegt die Gleichheit der Freiheit auf der Hand: Alle BürgerInnen verfügen über die gleichen Grund- und Abwehrrechte.
Kann der Liberalismus seine eigenen Voraussetzungen schaffen?
Um jedoch wirklich frei zu sein, reicht die Abwesenheit von Zwängen nicht aus. Vielmehr bedarf es gewisser materieller Voraussetzungen, um von abstrakten Freiheiten auch konkret Gebrauch machen zu können. Die Freiheit, sich politisch engagieren oder den Beruf der Wahl ausüben zu dürfen, ist wertlos, wenn schlicht die Mittel fehlen, diese Rechte wahrzunehmen.
Laut Elif Özmen liegt eine zentrale Schwäche des Liberalismus in seiner Unfähigkeit, die materiellen Voraussetzungen für die Realisierung von Freiheitsrechten selber zu schaffen. Der Liberalismus tue sich schwer, Einschränkungen Einzelner zum Zwecke der sozialen Gleichheit zu rechtfertigen, so Özmen.
Johannes Vogel, Bundestagsabgeordneter der FDP, ist dagegen überzeugt, dass der Liberalismus durchaus in der Lage sei, die sozialen Voraussetzungen von Freiheit zu gewährleisten. Um sich dem Ideal der gleichen Freiheit anzunähern, müssten vor allem drei Ziele erreicht werden: die Herstellung gerechter Bildungschancen, die Sicherung des Existenzminimums und eine gerechtere Vermögensverteilung.
Für diese Zielsetzungen wären sicherlich auch SozialdemokratInnen zu gewinnen. In der politischen Umsetzung scheiden sich jedoch die Geister. Wiebke Esdar, Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion, betont, dass der Staat seine Gestaltungsmacht in der Bildungspolitik, in der Förderung von Teilhabe und auch in der Sozialpolitik noch viel stärker wahrnehmen müsse. Nur wenn Politik die Lasten fair (um)verteile, sei die gleiche Freiheit aller zu gewährleisten.
Ist gleiche Freiheit ein Bürger- oder ein Menschenrecht?
Deutlich komplexer wird die Lage, wenn wir die Frage stellen, was denn mit der gleichen Freiheit aller gemeint ist. Die Freiheit der aktuell lebenden deutschen StaatsbürgerInnen oder auch die der zukünftigen Generationen und derer, die nicht auf deutschem Staatsgebiet leben? Oder anders gefragt: Ist gleiche Freiheit ein Bürger- oder ein Menschenrecht?
Franziska Heinisch, Co-Autorin des Buches “Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen!”, spricht sich entschieden gegen die nationalliberale und für eine universalistische Position aus. Sie plädiert dafür, die Kosten unseres expansiven Lebensstils nicht in den globalen Süden und auf zukünftige Generationen zu verlagern. Vielmehr müssten wir hier und jetzt Freiheiten einschränken, um die materiellen Voraussetzungen für Freiheit anderswo und in der Zukunft nicht weiter zu gefährden. Hierbei stellt sich jedoch die zentrale Frage: Wer entscheidet im globalen Maßstab wie darüber, welche Freiheiten in welchem Maß eingeschränkt werden sollen?
Diese Frage könne nur die Gesellschaft in einem breit angelegten demokratischen Diskurs beantworten, so Wiebke Esdar. Doch was, wenn am Endes dieses Diskurses ein unbefriedigendes Ergebnis steht? Was, wenn wir uns gesellschaftlich dazu entscheiden würden, unsere freiheitlichen Grundwerte zur Sicherung zukünftiger Generationen soweit einzuschränken, dass wir unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung konterkarieren? Oder wenn wir zu dem Schluss kommen würden, dass es keiner Veränderung des Status quo bedarf und wir weiterhin die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen untergraben?
Elif Özmen spricht sich als bekennende Liberale vor diesem Hintergrund dafür aus, jene fundamentalen Bereiche, die unsere Freiheit im Kern berühren, dem demokratischen Verfahren zu entziehen. Das schützt die Gesellschaft zwar vor totalitären Tendenzen, ob dadurch auch die Freiheitsansprüche zukünftiger Generationen in ausreichendem Maße Berücksichtigung finden, bleibt allerdings offen.
Freiheit ist immer eine Frage der Perspektive
Der Liberalismus muss sich in aktuellen Debatten meist dafür rechtfertigen, dass er sich nicht bereit zeigt, bestimmte Freiheiten einzuschränken (beispielsweise beim Tempolimit). In Zeiten von Klimakrise und verstärkter Migrationsbewegung, so scheint es, sollten der Liberalismus und seine KritikerInnen jedoch einen Perspektivwechsel einnehmen. Denn die interessantere Fragestellung lautet: Wie kann der Liberalismus es rechtfertigen, die (Bewegungs-)Freiheiten von Migrierenden und die Freiheiten von zukünftigen Generationen einzuschränken? Ein zeitgemäßer Liberalismus muss überzeugende Antworten auf diese Fragen finden.
Die Diskussion war Teil der Reihe #Challengingdemocracy. Im letzten Jahr sprachen wir an der Stelle zu Ökologie und Freiheit.
Beide Veranstaltungen fanden in Kooperation mit dem Zentrum Liberale Moderne statt.