Ein Auftakt für weitere Debatten

Buchrezension – Jan Korte: „Die Verantwortung der Linken“

Jan Korte hat ein mutiges Buch geschrieben. Der 1. Parlamentarische Geschäftsführer der Linkspartei geht mit seiner Partei hart ins Gericht. Er ist überzeugt: Nur wenn die Linkspartei alte Gewissheiten und traditionelle Positionen aufgibt, kann das Mitte-links-Lager Mehrheiten gewinnen. Korte hat den Zeitpunkt für sein Werk gut gewählt: Die aktuelle Schwäche der Union weckt Hoffnungen, dass bei der Bundestagswahl 2021 eine Mehrheit aus SPD, Grünen und Linkspartei möglich ist. Eine solche Koalition wäre grundsätzlich erstrebenswert. Alle drei Parteien stehen mit unterschiedlichen Akzenten für sozial-ökologische Fortschrittspolitik, gemeinsam könnten sie Deutschland fit machen für die zwanziger Jahre. Ganz nebenbei würde auch unsere Demokratie davon profitieren, wenn die Zeiten der GroKos vorbei sind und die Bürger sich wieder zwischen klar erkennbaren politischen Lagern entscheiden könnten. 

Sind solche Überlegungen realistisch? Gesunde Skepsis ist angebracht. Das linke Lager ist seit Jahren dysfunktional – auch heute noch. Große Teile der Linkspartei sehen sich als rein oppositionelle Kraft, lehnen eine Regierungsbeteiligung aus Prinzip ab und haben sich jahrelang aggressiv gegen die SPD profiliert. Hinzu kommen die internen Flügelkämpfe der Partei, das Sektierertum einiger Mitglieder sowie die extreme Programmatik vor allem in außenpolitischen Fragen, die sich mithin außerhalb des deutschen Staatskonsenses bewegt. Wer aus der NATO austreten will, kann nicht in eine deutsche Regierungskoalition eintreten. Wenn es also eine Chance für eine linke Dreiparteienkoalition geben soll, reicht es nicht, über eine rechnerische Mitte-links-Mehrheit zu verfügen. SPD, Linkspartei und Grüne müssen zu einem faireren Umgang miteinander finden und sich programmatisch aufeinander zu bewegen. 

Das würde wohl auch Korte unterschreiben. Der Autor plädiert er für eine regierungswillige Linkspartei, die die „eigene Blase“ verlässt und mehr Empathie für die „einfachen Leute“ entwickelt. Mit dieser Strategie will er an gute Wahlergebnisse seiner Partei anknüpfen, zum Beispiel an die Bundestagswahl 2009, als sie Spitzenwerte auch bei Arbeitern und Arbeitslosen erzielte. Korte zufolge muss die Linkspartei verstärkt um Nichtwähler und AfD-Wähler kämpfen. Er sieht dabei aber ein zentrales Hindernis: Das linksliberale, großstädtische Milieu verachte die unteren Schichten, es kümmere sich nur noch um die Interessen einzelner benachteiligter Gruppen und habe ökonomische Großfragen von materieller Ungleichheit, Sozialstaatsarchitektur und kultureller Polarisierung aus dem Blick verloren. Sie seien damit zu weit weg von denjenigen, die sie zu vertreten vorgeben. „Linke müssen immer auf der Seite der Loser sein, selbst wenn ihre eigene ökonomische und soziale Situation gut ist.“ 

Das ist natürlich richtig. Doch ist seine Beschreibung arg klischeehaft. Die wirkliche Welt enthält mehr Graustufen, und ohne den Zuspruch der liberalen Mittelschichten wäre das linke politische Lager niemals mehrheitsfähig. Wir müssen sie einbinden und für die gemeinsame Sache begeistern, nicht ausgrenzen. Wo Korte aber Recht hat: Die Themen des Berliner Politikbetriebes sind auf den Marktplätzen und in den Schrebergärten ländlicher Wahlkreise häufig nicht der „Mega-Bringer“ (Jan Korte). Allzu oft gehen die schön geschriebenen Papiere der Parteiapparate an den Stimmungen und Einstellungen vor Ort vorbei. 

Kortes Ansatz lautet, dass sich die Linkspartei stärker um die „einfachen Leute“ in den Kleinstädten und Dörfern kümmern soll. Diese Strategie mag im Osten funktionieren. Weite Teile der West-Linken sind mit den Stammtischen der Republik weder programmatisch noch kulturell kompatibel. Für mich lesen sich Kortes Ausführungen deshalb eher wie ein Appell an die fest verankerte Kommunalpartei SPD, deren Wertvorstellungen in breiten Arbeitnehmermilieus anschlussfähig sind – anschlussfähiger als viele exotische Diskussionen der Linkspartei, etwa wenn es um ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle geht. 

Womit wir beim Thema Arbeitsteilung wären. Korte plädiert zu recht für eine „soziologisch fundierte“ Vorbereitung eines Mitte-links-Bündnisses: „Wer vertritt welche Milieus und Klassen? Wer versucht die Nichtwähler zu gewinnen?“ Eine solche Arbeitsteilung sei besser, als „die SPD als Arbeiterverräter und die Grünen als Hipsterliberale zu beschimpfen“. Allein: Genau dieser Frontstellung gibt Korte in seinem Buch selbst Futter. Die Grünen sind für ihn eine „bürgerlich-liberale Partei der Besserverdienenden“, die „in ihrer Summe“ nicht dem linken Spektrum zuzuordnen sei. Die SPD kommt nicht besser weg. Korte schreibt, die SPD habe „in jeder Hinsicht Verrat an der Arbeiterklasse begangen“ und den Sozialstaat „brutal abgerissen“. Die rot-grüne Bundesregierung 1998 bis 2005 stehe für „gnadenlose Privatisierung, den beschleunigten Rückbau des Sozialstaates, und für das endgültige Ende von der Planbarkeit des Lebens der kleinen Leute und von der Absicherung ihres Alters“. Die Agenda 2010 habe zu „Hartz IV-Terror mit moderner Sklaverei“ geführt. Anscheinend gehört es bei der Linken dazu, dass man immer noch die SPD in Teilen verdammen muss, um einen Text zu schreiben. Sei es drum.

Korte fordert eine „Retraditionalisierung“ und die „Wiederherstellung des Sozialstaats“ – allerdings ohne sich inhaltlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Stattdessen argumentiert er in weiten Strecken evidenzfrei und anekdotisch. Beispielsweise beschreibt er den Sozialstaat der achtziger Jahre als vorbildlich und führt als Beleg das Arbeitsleben seiner Mutter, einer Krankenschwester, an. Eine Debatte ist auf einer solchen Grundlage kaum möglich. Ähnliches gilt für seine Ausführungen zum NATO-Ausstieg. Die Linkspartei, so Korte, sei bei dem Thema zu ideologisch. Doch er fordert kein Umdenken, sondern argumentiert rein taktisch: Weil viele Bürger kein Problem mit der NATO hätten, müsse sich die Linkspartei über eine „neue Reihenfolge der Kämpfe“ verständigen und die „Raus-Aus-Position“ einstweilen zurückstellen.  

Solche Argumentationslinien mögen klug sein, wo es eine hochgradig zerstrittene Partei zu überzeugen gilt. Offen bleibt leider, welche konkreten Ideen der Autor für ein sozial-ökologisches Fortschrittsbündnis hat und wo er Kompromisslinien sieht. Das „Zukunftsversprechen“, das Korte für Mitte-links einfordert, muss noch mit Leben gefüllt werden. Das Buch sollte ein Auftakt für weitere Debatten sein. 

Autor

Michael Miebach

Mitglied des Vorstands
Michael Miebach ist Vorstandsmitglied und Mitgründer des Progressiven Zentrums. Er studierte Politikwissenschaft an der Universität Göttingen und an der FU Berlin sowie "European Social Policy" an der London School of Economics. Er war bis 2017 Leitender Redakteur der Zeitschrift „Berliner Republik“ und arbeitet heute im Stab des Ostbeauftragten der Bundesregierung.

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