Wieviel Konvergenz brauchen wir in Europa vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Binnenmarkts? Und welche Instrumente stehen der EU und ihren Institutionen zur Verfügung, um die soziale Spaltung zu verringern? Gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung luden wir ExpertInnen aus Politik, Wissenschaft und Verwaltung zum dritten European Policy Lab “Mindeststandards und Konvergenz” ein, um Antworten auf diese Fragen zu finden.
Nach großen wirtschaftlichen Einbrüchen während der Finanzkrise war in der Europäischen Union zuletzt ein Aufwärtstrend zu beobachten: das Pro-Kopf-Einkommen stieg in vielen EU-Mitgliedstaaten stetig an, alle Länder verzeichneten Wirtschaftswachstum und die Arbeitslosigkeit ist auf einen neuen Tiefstand gesunken. Blickt man jedoch über die aggregierten Kennzahlen hinaus, wird deutlich, dass die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen innerhalb der EU heterogen sind. Während einige Regionen prosperieren, leiden andere unter niedrigen Lohnniveaus, prekären Arbeitsverhältnissen, schwacher sozialer Sicherung und infolgedessen unter zunehmender Abwanderung.
Angesichts dieser Herausforderungen für den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt in Europa stellen sich folgende Fragen: Wieviel Disparität verkraftet die EU und ihr gemeinsamer Binnenmarkt? Wie harmonisiert sollten Wirtschafts- und Sozialsysteme sein und wo sind lokale und regionale Lösungen sinnvoll? Und welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang soziale und nachhaltige Innovationssysteme und europaweite soziale Mindeststandards wie z.B. ein europäischer Mindestlohn?
Diese Fragen diskutierten:
- Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales,
- Prof. Miriam Hartlapp, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der FU Berlin,
- Peter Aumer MdB, Mitglied Bundestagsfraktion CDU/CSU und des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Dr. Katharina Gnath, Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung, moderierte die Veranstaltung. Prof. Wolfgang Schroeder, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats von Das Progressive Zentrum, und Prof. Christian Kastrop, Director Programm Europas Zukunft eröffneten die Debatte. Das European Policy Lab fand unter der Chatham House Rule statt.
Europäische Konvergenz, ja! Aber wie?
Nachdem die EU lange als “Konvergenzmaschine” galt, leiden seit der Eurokrise gerade südeuropäische Mitgliedsländer unter sinkenden Lohnniveaus und abnehmender Beschäftigung. Auch einige Regionen in Mittelosteuropa sind zunehmend abgehängt. Die Teilnehmenden diskutierten in diesem Zusammenhang den exemplarischen Fall Rumäniens. Während die Hauptstadt prosperiere und einen Großteil der Wertschöpfung ausmache, sei die Arbeitslosigkeit in ländlichen Regionen wie der Walachei besonders hoch. Die Folge: immer mehr Menschen aus strukturschwachen Gebieten wandern ab, die sozioökonomische Heterogenität innerhalb der EU steigt.
Diese Entwicklung schwäche die Union ökonomisch und politisch. Um ein weiteres Auseinanderdriften der Lebensstandards zu verhindern, so einige Teilnehmende, sei eine Harmonisierung der nationalen Sozialpolitik notwendig. Diese dürfe allerdings nicht die Einführung einheitlicher europäischer Mindeststandards, sondern die Vereinheitlichung nationaler Mindeststandards bedeuten.
Union starker Sozialstaaten statt starke Sozialunion
Der Unterschied lässt sich am Beispiel des europäischen Mindestlohns verdeutlichen. Während die Einführung eines in allen EU-Staaten gleichen Mindestlohns aufgrund der unterschiedlichen Lohnniveaus innerhalb der EU laut der Teilnehmenden nicht zielführend sei, könne ein an die jeweiligen Lebenshaltungskosten angepasster Mindestlohn (bspw. mindestens 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns) ein effektives Instrument zur Herstellung europäischer Konvergenz darstellen.
Vor dem Hintergrund, dass Krisen innerhalb der EU zu unterschiedlich starken Konjunkturschwankungen führen, diskutierten die Teilnehmenden darüber hinaus das Instrument der Arbeitslosen-Rückversicherung. Dies sei geeignet, um negative Auswirkungen eines wirtschaftlichen Abschwungs abzufedern, indem sie im Krisenfall dem Arbeitslosensystem des betroffenen Mitgliedstaats zur Seite springt. Ähnlich wie beim Mindestlohn solle die europäische Sozialpolitik die bestehenden nationalen Instrumente jedoch nicht ersetzen, sondern harmonisieren bzw. unterstützen.
Die Teilnehmenden sprachen sich in der Mehrheit gegen eine starke europäische Sozialunion und für eine Union starker nationaler Sozialstaaten aus, in der nationale best-practices übertragen und gleichzeitig die historisch gewachsenen Modelle der Mitgliedstaaten respektiert werden.
Rechtliche Grundlage: Sozialpolitik als Kernaufgabe der Mitgliedstaaten
Wie vertragen sich eine solche Union starker Sozialstaaten und die dafür geforderten sozialpolitischen Instrumente auf europäischer Ebene jedoch mit der aktuellen Rechtsgrundlage? In den Verträgen ist festgehalten, dass die Kompetenz zur sozialpolitischen Rechtsetzung in erster Linie bei den Mitgliedstaaten liegt.
Vor diesem Hintergrund diskutierten die Teilnehmenden die Möglichkeit der Etablierung eines verbindlichen EU-Rechtsrahmens für Mindeststandards. Eine mögliche Rechtsgrundlage bestehe laut einiger Teilnehmender im Artikel 153 AEUV. Es bestand jedoch Uneinigkeit darüber, ob in dieser Norm tatsächlich eine Kompetenzgrundlage bestehe. Dies sei vor allem von der rechtlichen Auslegung des Arbeitnehmerbegriffes abhängig.
European soft law: unverbindlich aber effektiv?
Zur Förderung sozialpolitischer Maßnahmen ist die EU allerdings nicht ausschließlich auf „hartes Recht” angewiesen. Neben Richtlinien und Verordnungen verfügt die EU über weiche Instrumente wie beispielsweise die offene Methode der Koordinierung, also Empfehlungen, Benchmarks oder Leitlinien der Kommission ohne rechtliche Verbindlichkeit – sogenanntes soft law.
Seit 2000 haben europäische sozialpolitische Rechtsakte, also hartes Recht, abgenommen. Das, so eine Teilnehmende, liege vor allem darin begründet, dass mit der EU-Osterweiterung zum einen die sozioökonomische Heterogenität zugenommen habe. Zum anderen würden viele osteuropäische Staaten in höheren sozialpolitischen Standards ihre Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Binnenmarktes gefährdet sehen. Gleichzeitig bestehe bei diesen Staaten ein großes Interesse an sozialpolitischen Standards zur Unterstützung von Mobilität und Freizügigkeit. Weiches Recht, nämlich die Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme, könne hier ein effektives Mittel sein, um das Spannungsverhältnis zwischen Freizügigkeit und Solidarität abzumildern.
Der Blick nach vorn
Die hohe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen im Mai 2019 sei Zeichen des öffentlichen Bekenntnisses zur EU. Die neue Kommission lege im Bereich der sozialen Dimension ambitionierte Ziele vor. Mit Blick auf die nahe Zukunft und insbesondere auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 forderten die Teilnehmenden eine europäische Sozialpolitik, die der Leitlinie „sozial erforderlich und ökonomisch machbar” folge.
Dazu sei eine klare Priorisierung bestimmter sozialpolitischer Instrumente vonnöten, deren europäische Mindestharmonisierung umsetzbar sei. Hierfür käme unter Umständen das Kurzarbeitergeld in Frage, da es im Gegensatz zu vielen nationalen sozialpolitischen Instrumenten weniger stark historisch gewachsen und dadurch leichter zu vereinheitlichen sei. Neben der Machbarkeit sei es zudem entscheidend, dass eine Kohärenz zwischen europäischer Sozial- und Wirtschaftspolitik bestehe. Die „Europe 2020“-Strategie, welche sozialpolitische Ziele in das Europäische Semester einbindet und damit explizit mit der EU Wirtschafts- und Währungspolitik verknüpft, sei hier ein erster Versuch gewesen.
Das dritte European Policy Lab als Teil einer umfassenden Debatte zu inklusivem Wachstum in Europa
Das dritte European Policy Lab war Teil des Projekts „Inklusives Wachstum für Europa“. Am 6. Mai 2019 fand das erste European Policy Lab zum Thema Stabilisierung der Eurozone statt. Das zweite European Policy Lab am 24. Juni 2019 rückte Fragen zu Produktivität und Wachstum in den Mittelpunkt.
Die dreiteilige Workshop-Reihe schließt damit an das Vorgängerprojekt von Das Progressive Zentrum “Neue Wege zu inklusivem Wachstum – Impulse für die Soziale Marktwirtschaft von morgen“ sowie die fünfteilige Essay-Reihe „Soziale Marktwirtschaft: All inclusive?“ mit der Bertelsmann Stiftung an.
Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden und der Bertelsmann Stiftung für einen inspirierenden und erkenntnisreichen Austausch.
Fotos von Jacob & Alex, 2019