Drei Kandidaten und ein Begräbnis – Zu den Wahlen in der Türkei

Die Hoffnungen auf einen Machtwechsel waren groß. Doch das Ergebnis der Wahl am 14. Mai war ernüchternd. Trotz einer massiven Mobilisierung in der Opposition und trotz vieler Fehler der AKP liegt die Partei von Regierungschef Erdogan vorn. Am Wochenende geht das Land nun in die alles entscheidende Stichwahl.

Die Wahlen in der Türkei haben nicht den erhofften Wandel gebracht – trotz ausgesprochen optimistischer Einschätzungen der großen Umfrageinstitute konnte die Opposition ihre vielleicht letzte Chance zur Rettung der Demokratie nicht nutzen. Im Parlament hat das Sechs-Parteien-Bündnis (ebenfalls entgegen den Prognosen der Meinungsforscher) eine dramatische Niederlage einstecken müssen. Die vorhergesagte Wahlbeteiligung wurde mit 88 Prozent deutlich übertroffen – die Türkei erlebte eine beispiellose politische Mobilisierung, auch weil der Gang zur Wahlurne eine der letzten Möglichkeiten der demokratischen Wortmeldung bot. Doch es veränderte sich wenig. 

Drei Kandidaten kämpften um die Stimmen: Kemal Kılıçdaroğlu verfehlte die 45 Prozent-Marke knapp, Recep Tayyip Erdoğan erreichte 49,5 Prozent, die Verluste der AKP gingen vor allem an den Ultranationalisten Sinan Oğan mit etwas über 5 Prozent. Die Hoffnung auf eine demokratische Türkei wurde am 14. Mai dieses Jahres mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Grabe getragen.

Die Wahlen waren weder frei noch fair. Auch wenn es gegen den Ablauf der Stimmabgabe formell bislang nur überschaubare Einwände gibt, erwies sich die in den Händen der AKP konzentrierte Macht der Medien, des Staatsapparates und der Justiz als unüberwindbar. Selbst die 550.000 freiwilligen Wahlbeobachter, die angeblich allein CHP und HDP mobilisierten, kamen gewissermaßen zu spät. 

Die Oppositionsparteien hatten mit ihrem Bündnis die denkbar breiteste politische Koalition etabliert – vielleicht zu breit. Zu den wenigen positiven Entwicklungen gehörte, dass die für türkische Verhältnisse einmalige Allianz Wählerinnen und Wähler zu pragmatischem Handeln zwang: Die nationalkonservative IYI Partei, deren Vorsitzende Meral Akşener sich bei Wahlkampfveranstaltungen mit ihren Koalitionspartnern sichtbar unwohl fühlte, musste sich in ein Bündnis mit Kurden und Linken begeben. Und die sozialdemokratisch-kemalistische CHP nominierte nicht nur einen Kandidaten aus der alevitischen Minderheit, sondern hatte auch Kemal Kılıçdaroğlus hochsymbolische Rede zu verdauen, in der er seine alevitische Herkunft offen eingestand und damit die Vorstellung einer homogenen türkischen Nationalität infrage stellte. Solch eine Distanzierung von doktrinären Laïcité-Traditionen seiner eigenen Partei war epochal, das Video der Rede wurde weit über 100 Millionen Mal aufgerufen. Eine positive Konsequenz war der beherzte Wahlkampf, den Kurdinnen und Kurden etwa in der Metropole Diyarbakir für die ehemals als Erbfeind wahrgenommene CHP machten. 

In den Wochen vor der Wahl und angesichts der hoffnungsvollen Meinungsumfragen gab solch pragmatisches Verhalten der Hoffnung neue Nahrung, dass sich die türkische Gesellschaft bei der Richtungswahl 2023 einen neuen Ort in Europa und im globalen Gefüge erarbeiten könnte.

Es kam anders. Das Tor zur Hölle wurde nicht geschlossen, wie ein Kommentator in Istanbul lakonisch bemerkte. Die säkulare CHP führte zuletzt in den 70er Jahren unter Premier Bülent Ecevit das Land in einer Phase großer Umbrüche. Ein bemerkenswertes soziologisches Datum untermauert, wie erstaunlich der erneute Erdoğan-Sieg nach zwei Jahrzehnten der Alleinregierung ist: In den 50er Jahren lebten nur etwa 18 Prozent der Türkinnen und Türken in Städten, heute beträgt der Urbanisierungsgrad rund 85 Prozent. Trotz katastrophaler wirtschaftlicher Rahmendaten, enormer Inflation, einem verheerenden Erdbeben mit über 55.000 Todesopfern und konfuser Reaktion der Regierung waren die Wahlen für säkulare und demokratische Parteien nicht zu gewinnen.

Hinzu kamen überraschende Entscheidungen der Erstwähler: Fünf Millionen Türkinnen und Türken konnten am 14. Mai erstmals abstimmen (bei insgesamt 65 Millionen Wahlberechtigten) – eine Generation, die in den wirtschaftlichen Aufschwung der Zehnerjahre hineingeboren wurde und nun die Systemkrisen erlebt. Es gab aus dieser Gruppe dennoch kein ausreichend breites Votum für den Wandel. 

Warum bedeutende Teile der urbanen Mittelschichten trotz fehlender Rechtsstaatlichkeit, Korruption und wucherndem Klientelismus keine Veränderung wollen, ist erklärungsbedürftig. Dies gilt umso mehr, als die junge Generation einen besonders hohen Preis für die Wiederwahl der AKP und die anhaltenden ökonomischen Verwerfungen bezahlen wird. Die Vereinten Nationen haben berechnet, dass die Türkei innerhalb der kommenden fünfzehn Jahre ihren demographischen Bonus verlieren und die Gesellschaft schnell altern wird. Der Parallelismus von autoritärem Regime, militaristischer Außenpolitik, politisch motivierten Sozialprogrammen, kostenloser Krankenversicherung, Alterung und absehbarer Abwanderung junger qualifizierter Türkinnen und Türken kann unmögliche einen guten Ausgang nehmen. 

Es ist  berechtigt, vo einem türkischen Autoritarismus zu sprechen. Allerdings ist dann auch zu berücksichtigen, dass das Land nicht mit Syrien, Aserbaidschan oder Weißrussland vergleichbar ist. Die türkische Gesellschaft ist vielschichtig, komplex und gehört mit 84 Millionen Einwohnern zu den zwanzig größten Nationen der Welt. Wahlen spielen in der herrschsüchtigen Gleichung von Präsident Erdoğan eine wichtige Rolle, denn sein Machtanspruch und die Rechtfertigung für gezielt repressives Vorgehen gegen die Opposition speisen sich auch aus der Zustimmung der Bevölkerung. Abstimmungen dokumentieren öffentliche Unterstützung und sind ein wichtiges Instrument in einem hochdifferenzierten, undemokratischen System. Und sie immunisieren den Präsidenten gegen internationale Kritik. In einem CNN Interview nach der Wahl entgegnete Erdoğan auf die Bemerkung, dass Präsident Biden ihn einen Autokraten genannt hatte: „Würde ein Diktator jemals an einer Stichwahl teilnehmen?“

Es gilt auch der Umkehrschluss: Die Ablehnung und Zensur von Wahlergebnissen beeinträchtigten die Stärke des illiberalen Regimes. Die enorm wichtigen Bürgermeisterwahlen in Istanbul im Jahr 2019 verlor die AKP in der ersten Runde knapp mit 14.000 Stimmen. Der von Erdoğan dominierte Wahlrat setzte Neuwahlen an und der Präsident bekam eine gewaltige Quittung – die AKP verlor mit 800.000 Stimmen.

Hinzu kommt, dass in Zeiten hoher Inflation und wirtschaftlicher Probleme sich Erdoğan nicht mehr darauf berufen kann, die materiellen Interessen seiner politischen Klientel zu wahren. Entgegen allen Zweifeln hat er es erneut geschafft, die „rastlosen Konservativen“ (ein Begriff des Meinungsforschers Can Selcuki) auf seine Seite zu drängen. Dabei handelt es sich um kleinbürgerliche und oft religiöse Konservative, die während der Modernisierungsphase der Zehnerjahre aus der Peripherie der türkischen Gesellschaft ins ökonomische und politische Zentrum katapultiert wurden. Allein in den drei Jahren nach der Finanzkrise 2008 entstanden fünf Millionen neuer Arbeitsplätze. Aber im Wahlkampf wurde auch deutlich, dass Erdoğan darauf angewiesen war, immaterielle Bedürfnisse seiner Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Kulturkampf und Nationalismus waren und sind seine erfolgreichen Instrumente, um ein zutiefst nationalistisches und konservatives Land anzusprechen. Es ist wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass in der AKP entgegen landläufiger Meinung Nativismus stärker ausgeprägt ist als religiöser Konservatismus. Die meisten AKP-Wähler haben keine islamistischen politischen Überzeugungen. Es existiert zwar eine wichtige Minderheit „mitfühlender Islamisten“ innerhalb der AKP-Koalition, die der Präsident und Parteivorsitzende lautstark mit religiöser Erbauungsrhetorik versorgt. Als wichtiger und wirksamer erwies sich allerdings die Mobilisierung anti-westlicher und flüchtlingsfeindlicher Impulse. Auch Kemal Kılıçdaroğlu verwendet eine ähnliche Rhetorik – nicht nur Europa, auch die Türkei ist durch die Erfahrungen der Migration aus Syrien und Afghanistan politisch nach rechts gerückt. Erdoğan machte Wahlkampf mit einen „Turkey First“-Programm, das dem Kampf der Trump-Anhänger in den USA zur vermeintlichen Verteidigung von Kultur und Land nicht unähnlich ist. Die internationale Anerkennung des Präsidenten vor allem in undemokratischen Staaten und sein politischer Einfluss außerhalb der Türkei kommen den innenpolitischen Ambitionen zugute.

Erdoğan – der gesamte Wahlkampf war allein auf ihn abgestellt – gelang in den vergangenen Jahren ein soziologischer und politischer Coup: Er stellt sich in die imperial-muslimische Tradition des Osmanischen Reichs und eignet sich zugleich den säkularen Nationalismus des Staatsgründers Kemal Atatürk an. Beide Traditionen konvergieren im weit verbreiteten Ressentiment gegen die Europäische Union, die USA und „dem Westen“ im Allgemeinen. Für die kommenden Debatten über das Verhältnis zur Türkei die in Europa und den USA nach dem 28. Mai beginnen werden ist es wichtig sich einzugestehen, dass Erdoğan explizit nicht Mitglied im Club der Demokraten sein will, weil es ihm nicht nützt. 

Der Putschversuch vom Juli 2016 (die Hintergründe sind bis heute ungeklärt) ist in diesem ideologischen Gefüge ein zentraler Referenzpunkt eines neuen nationalen Mythos – eine auf sich selbst bezogene Herangehensweise an die Welt, die die Türkei als natürliche Führungsmacht des muslimischen Kosmos sieht, gebündelt in dem Slogan: „Nicht West, nicht Ost, wir sind die Türkei“. Im Wahlkampf wurden alle Register gezogen: eine militaristische Technologie-Schau mit Kampfjets und einem halbfertigen Flugzeugträger wurde vorverlegt, das erste (noch unfertige) Kernkraftwerk des Landes gemeinsam mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eingeweiht und zugleich rief man von Minaretten aus zur Teilnahme an Erdoğan-Kundgebungen auf. 

Diese ethnoreligiöse Melange erwies sich für viele Wählerinnen und Wähler als unwiderstehlich. Dies hängt unmittelbar mit dem dramatischen sozialen und kulturellen Wandel innerhalb der Lebenszeit einer Generation zusammen: Die politischen Veränderungen in der heutigen Türkei sind das Ergebnis einer erheblichen Bewegung vom Land in die Stadt. Mitte der 50er Jahre lebten etwa 50.000 Türken in Armenvierteln rund um die größten Städte des Landes, vor allem in Istanbul, Izmir und Ankara. Im Jahr 2002, dem Jahr des monumentalen Wahlerfolges der AKP unter Erdoğan waren es mehr als zwei Millionen. In den 15 Jahren nach der Machtübernahme nahm Istanbul mehr als eine Million innertürkische Migranten auf, während fast 170.000 nach Ankara zogen.

Die Erfahrungen der viel zu schnellen Urbanisierung und der Migration ländlicher Bevölkerungsgruppen in die metropolitanen Zentren hat Spuren in den Menschen hinterlassen: Kulturelle und individuelle Desorientierung erzeugen Sehnsüchte nach verlässlichen Haltepunkten. Erdoğan steht für die Erinnerung an vergangene Traditionen inmitten einer besinnungslosen Bau- und Industrialisierungsepoche: Manieren, gültige Verhaltensnormen, Respekt vor Älteren. Die dramatische und oft überwältigende Veränderung der türkischen Städte brachte er im Wahlkampf auf eine einfache Gleichung: Diversität, Migranten, Schwule, Kurden seien schuld. Nicht die moderne Ökonomie und AKP-Korruption breiten sich aus, sondern inkompatible Minderheiten verschiedener Couleur. Die Opposition setzte auf „Inklusion“ als Gegenmodell – ehrenwert, zukunftsfähig und aufgeklärt, aber offensichtlich unter den repressiven Bedingungen nicht mehrheitsfähig.

Die Aussichten für die Türkei sind düster. Dass die AKP mit dem Thema der „religiösen Unterdrückung“ noch immer punkten konnte und dies offensichtlich auch bei städtischen Millennials verfing die sich einbildeten die Unterdrückungserfahrungen am eigenen Leib zu verspüren, zeigt die enorme Reichweite populistischer Indoktrination. Ein weiteres, oft vernachlässigtes Moment ist die hohe Wahlbeteiligung von Frauen und deren relativ geringe Integration in den Arbeitsmarkt. Nur ein Drittel der Türkinnen sind berufstätig (der Durchschnitt weltweit liegt bei über 50 Prozent), der Rest verbringt den Tag zuhause – und ist dort der medialen Dauerbeschallung durch die AKP ausgesetzt. Wahlforscher haben ausgerechnet, dass Erdoğan in den Tagen vor der Wahl täglich rund 32 Stunden in den verschiedenen staatlichen Fernsehsendern zu sehen war, sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu nur 32 Minuten.

Die Folgen eines Wahlsieges des amtierenden Präsidenten am 28. Mai sind absehbar. Er muss die fehlenden Stimmen am extremen nationalistischen Rand des Spektrums von Sinan Oğan gewinnen. Unter seiner Regentschaft ist die Türkei weiter nach rechts gerückt, sodass die AKP nun gezwungen ist, sich an diese Entwicklung anzupassen. Auch auf der religiösen Seite gilt dieses Prinzip: Hüda-Par, der legale Flügel der Hisbollah in der Türkei ist offizieller Bündnispartner der AKP und im neuen Parlament vertreten. 

Der Gesellschaft stehen schwere Jahre bevor, aber die Opposition hat auch gezeigt, dass viele Türkinnen und Türken bereit sind, ein modernes Land zu denken und zu unterstützen. Diese Menschen verdienen die Solidarität des Westens.

Dieser Text ist auf Grundlage einer Reise in Zusammenarbeit mit dem Istanbul-Büro der Stiftung Mercator entstanden.

Autor

Dr. Michael Werz

Wissenschaftlicher Beirat
Michael Werz ist Senior Fellow am Center for American Progress. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der transatlantischen Sicherheitspolitik, der Verknüpfung von Klimawandel, Migration und Sicherheit sowie aufstrebender Demokratien.

Weitere Beiträge aus dem Online-Magazin

Status quo – im Namen der Zukunft! Generationengerechtigkeit zwischen Klimaschutz und Schuldenbremse

Veröffentlicht am
Gerechtigkeit hat viele Facetten. Deshalb wird sie nur dort erreicht, wo die Politik Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern berücksichtigt. Exemplarisch zeigt sich dies in der gegenwärtigen Debatte um die Finanzierung unserer Klimapolitik: Wer die nächsten Generationen vor hohen Schulden retten will, läuft schnell Gefahr, ihnen dabei schwere Klimahypotheken aufzubürden.

“Es kann niemand wollen, dass erste Wahlerfahrungen zu Frust und Ärger führen”

Veröffentlicht am
Junge Menschen sind von großen Problemen wie der Klimakrise und dem demografischen Wandel besonders betroffen. Ihre Interessen scheinen in der politischen Debatte aber häufig weniger Gewicht zu haben als die der Älteren. Würde ein einheitliches Wahlrecht ab 16 daran etwas ändern? Und wie blicken junge Menschen heute auf das Land und ihre Zukunft? Ein Interview mit Catrina Schläger und Thorsten Faas.

Warum wir keine Zeit haben, nicht zu beteiligen

Veröffentlicht am
Beteiligung ist kein Hindernis, sondern der Schlüssel zur Beschleunigung der Klimawende. Gerade umfassende Transformationsvorhaben erfordern eine Einbeziehung des Parlaments. Verbindet man parlamentarische Gesetzgebung mit zufallsbasierter Beteiligung von Bürger:innen, führt das zumeist zu progressiverem Klimaschutz. Mehr Partizipation erhöht also das Tempo der Transformation.
teilen: