Die Neue (Ab-)Normalität

Warum wir alle betroffen und doch mit dem Virus allein sind

In seinem neuen Buch Die Neue (Ab-)Normalität analysiert Robert Misik die diffuse Gefühlslage, die viele durch diese Pandemie begleitet. In unserem Blog „Corona&Society“ beschreibt er das real gelebte soziale Empfinden jenseits der Daten, Nachrichten und Sachfragen und warnt zugleich davor, von einer einzigen kollektiven Erfahrung zu sprechen.

Leben in der „pandemischen Gesellschaft“

„Ich vermisse den Austausch jenseits der eigenen Blase“, sagt Florian, „diese banalen Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen im Sozialraum etwa.“ Leute, mit denen man nicht so viel zu tun hat, mit denen man aber „noch fünf Minuten über das Leben quatscht“. 

Ein Lehrer berichtet, „viele informieren sich gar nicht“. Wer Masken trage, werde „im Lehrerzimmer gemobbt oder ausgelacht“. 

Ein junger Mann, dessen Lebenspläne sich in diesem Jahr in Luft aufgelöst haben, schildert, dass er emotional so mit sich selbst beschäftigt sei, dass er die Emotionen und Sorgen Anderer zwar verstehen, aber nur bedingt wahrnehmen könne. 

Eine junge Frau, der es ähnlich ging und die wieder bei ihren Eltern eingezogen ist, gibt zu Protokoll: „Ich sah zu, wie die Welt um mich auseinanderfiel, aber ich konnte nichts dagegen tun.“ 

Eine Supermarktkassiererin aus Ischgl in Tirol beschreibt, wie ihre Kleinstadt plötzlich in die Schlagzeilen geriet, man sie aber über nichts informierte; wie man plötzlich im Job Todesangst hatte und rundherum die Bekannten und Verwandten erkrankten und viele auch verstarben. Es sind diese Geschichten und Erfahrungen, jenseits und unterhalb der Metaebene der Schlagzeilen, die dieses Jahr prägten, die den Alltag der Menschen beschreiben – die „Neue (Ab-)Normalität“, das Leben in der „pandemischen Gesellschaft“. 

Sorge, zunächst der Schock, das disziplinierte Mitmachen bei den Eindämmungsmaßnahmen, danach die Mühen der Ebene, die Dauer und die Routine. Ausnahmezustand ist etwas anderes, wenn er eine knappe Zeitspanne umfasst, und wieder etwas anderes, wenn er auf Dauer besteht. Ermüdung macht sich breit. Gereiztheit. Die Menschen sind pandemiemüde. Nur bloß: das Virus ist es leider nicht.

Das Präventionsparadox

Epidemie heißt: Der Andere ist mit einem Verdacht umgeben, mit Misstrauen. Das Schönste im Leben, der soziale Kontakt, die Berührung, sie werden zu einer Gefahr. Nichts beschreibt vielleicht diese Verrücktheit so gut, wie der Begriff der „Risikobegegnung“. Die Begegnung selbst ist mit Gefahr verbunden. 

Freiheit, verstanden als individuelle Autonomie, ist in komplexen Gesellschaften sowieso immer eine Chimäre, aber noch mehr, wenn es Ansteckungsketten sind, die uns miteinander verbinden. Jetzt merken wir noch mehr als sonst, dass wir ein Organismus sind.

Epidemie heißt auch: Präventionsparadox. Wenn richtige Maßnahmen wirken, erwecken sie den Eindruck, unnötig gewesen zu sein. Dagegen hilft komischerweise auch nicht, es auf die harte Tour zu lernen. Wenn die Infektionszahlen hoch gehen, sehen alle die Gefahr und helfen so mit, die Katastrophe zu vermeiden, sinken sie wieder, scheinen die Maßnahmen für viele wieder überzogen, es sei doch ohnehin alles nur übertrieben – „… wie überhaupt die Menschen immer glauben, was sie wünschen, sie berauschen sich im Champagner ihrer Hoffnungen“. Das schrieb Heinrich Heine schon über die Cholera-Epidemie im Paris des Jahres 1832. 

Über den Seuchenausbruch in Wien im selben Jahr schrieben zeitgenössische Quellen, „es ist unbegreiflich, wie bei solcher gefahrvollen Lage unser Publikum so sorglos und unbekümmert sein kann“. 

„Wir“ in der Krise?

Wir wissen, wir sollen solidarisch sein. Aber das Solidarische, was man tun kann, ist alleine daheim herumzusitzen. Seuchen sind historisch Motoren des Sozialstaates, auch eines staatlichen Gesundheitswesens, das für alle funktioniert, sie waren Beschleuniger der Modernisierung und eines hygienischen Städtebaus, Slums abreißen, Gründerzeitbauten errichten – aber Motoren der Solidarität sind sie nur bedingt. 

Solidaritätsgefühle sind abstrakt ohne Gemeinschaftserlebnisse, und die sind in Seuchen ja das Gefährlichste überhaupt. Wenn der Nächste potentiell tödlich ist, ist sich jeder der Allernächste, und so sind Seuchen auch Treiber des Egoismus.

Das „Wir“ gibt es sowieso nie, es ist ein diskursiv erzeugtes Narrativ (das seine positiven Auswirkungen hat, nur damit das hier niemand falsch versteht), aber dieses diskursiv erzeugte „Wir“ muss die heterogenen und diversen Lebenslagen tendenziell ignorieren. In diesem Jahr gab es noch weniger „Wir“. Jeden traf es anders.

Wer alleine lebt ist einsam, wer drei kleine Kinder hat und in Dreizimmer-Wohnungen lebt, geht die Wände hoch. Sind die Kinder sechs Jahre alt, ist es anders, als wenn sie siebzehn sind. 

Rentner im Grünen und im Eigenheim erleben die Sache anders als Einpersonenunternehmer in der Stadt, denen das Einkommen wegbricht. 

Die Lehrlinge in der Fabrik verbringen den Tag mit Maske nebeneinander an der Werkbank oder an der Fertigungsstrecke und sehen naheliegenderweise nicht ein, warum sie hinterher mit ihren Kumpels nicht noch ein Bier vor dem Werkstor trinken dürfen. 

Fünfzehnjährige Oberschüler traf es anders als Studienanfänger, und die wiederum anders als Studierende, die gerade ihre Abschlussarbeit schreiben. 

Hunderte, tausende unterschiedliche Lebenslagen sind hunderte, tausende unterschiedliche Weisen, die Lage zu erleben. Eine Diskrepanz, die zu der Vorsicht anhält, mit dem Begriff des „Wir“ sparsam umzugehen. 

Ungleiche Umstände

Demokratisch und gerecht sind Seuchen auch nie. Gewiss, gerade dann, wenn der Übertragungsweg Tröpfcheninfektion und Aerosole sind, dann „kann es jeden treffen“. Die Reichen sind exponiert, wegen ihrer globalen Mobilität, sie haben viele Kontakte und tragen die Infektion über den Globus, aber wenn das einmal geschehen ist, dann wütet die Seuche besonders unter den weniger Privilegierten und den Armen. 

Die können sich nicht so leicht schützen, sie müssen raus, sie sind es, die den Laden am Laufen halten und sich nicht ins Home-Office zurückziehen können. Sie haben auch genug andere Sorgen und die mögliche Infektion ist nur eine Sorge dazu. Sie leben auf engem Raum, wenn ein Familienmitglied betroffen ist, dann sind schnell alle angesteckt. Sie schleppen sich auch krank in den Job oder vermeiden Testungen, denn wenn sie zwei Wochen in Quarantäne sind, können sie Rechnung und Miete nicht mehr bezahlen. Und wer ein Leben lang harte Arbeit verrichtet, kommandiert wird und Sorgen hat, dessen Immunsystem ist auch schlechter. 

Wenn die Hilfsarbeiterin und der Universitätsprofessor einem Infizierten begegnen und ansonsten alle Umstände gleich sind, wird sich die Hilfsarbeiterin eher anstecken. Während ein Viertel der Pariser in der ersten Welle in ihre Landhäuser flüchteten, betrug in den Sozialbauten in der Peripherie die Übersterblichkeit 63 Prozent. In den USA starben von 100.000 Schwarzen 114, bei den Weißen war dieser Wert 61. In Wien zeigten Untersuchungen unter Schülern ein 3,5-faches Infektionsgeschehen in unterprivilegierten Vierteln als in den Schulbezirken des gutsituierten Bürgertums. 

„Unsere traurige, zähe, normalisierte Katastrophe widerspricht dem vertrauten Bild vom Apokalyptischen“, schreibt der Schriftsteller Thomas Stangl. Wir sitzen unsere Zeit ab. Alle machen sich heute um alle Sorgen. Das ist normal, so wie wir jetzt leben. Innen leben ist schlecht fürs Innenleben.


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Mehr traurige Poesie gibt es im Robert Misiks neuem Buch: Die Neue (Ab)Normalität. Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft. Picus Verlag, Wien, 2021. 160 Seiten. 16 Euro.

Autor

Robert Misik

Ciricle of Friends
Robert Misik ist Journalist und Autor sowie Mitglied im Circle of Friends des Progressiven Zentrums.

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