Die Lage der SPD nach der NRW-Wahl

Ein Kommentar von Fedor Ruhose über die Bedeutung der Landtagswahlen in NRW für die Sozialdemokraten.

Der Mythos Martin Schulz, der noch vor wenigen Monaten die SPD aus ihrer stagnierenden Misere zu retten schien, scheint nun angesichts der vergangenen Landtagswahlen schon fast wieder verflogen. Doch wie einflussreich sind die Ergebnisse solcher Wahlen tatsächlich für die Partei auf Bundesebene? Sind die Wähler Merkel doch noch nicht müde geworden, oder ist es einfach der „Schulz-Effekt“, der nun langsam verblasst?

Mit der Nominierung von Martin Schulz als SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat schien im Frühjahr 2017 ein politischer Mythos deutlich entkräftet worden zu sein. Die SPD habe keine populäre Geschichte mehr zu erzählen, hieß es bis zu seiner Nominierung allenthalben. Es bedürfe einer glaubwürdigen radikalen Neuorientierung der SPD und einer neuen Erzählweise für gesellschaftliche Solidarisierung. Nach den drei Landtagswahlen in den Bundesländern Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen scheint es für viele Kommentatoren nun so, dass der so bezeichnete „Schulz-Effekt“ schon wieder erschöpft ist.

In der Tat ist insbesondere die Niederlage im für die Sozialdemokratie auch emotional sehr wichtigen größten Bundesland Nordrhein-Westfalen ein herber Dämpfer, es ist das schlechteste Ergebnis seit Bestehen des Bundeslands. Im Bundestagswahljahr 2017 wurde diese Landtagswahl oft als „kleine Bundestagswahl“ bezeichnet. Die „Merkel-Müdigkeit“ scheint vorerst verflogen. Die CDU wurde mit einem blassen, aber treu an der Seite der Kanzlerin stehenden Kandidaten 33 Prozent stärkste Partei und hat damit den Auftrag zur Regierungsbildung.

Oftmals wird Nordrhein-Westfalen – historisch nicht ganz korrekt, aber emotional umso bedeutender – als „Herzkammer“ der deutschen Sozialdemokratie bezeichnetUmso mehr schmerzt, dass die CDU mit einer „Schlusslicht“-Kampagne bei den Menschen erfolgreich suggerieren konnte, dass die Landesregierung in NRW keine Erfolge vorweisen konnte. Schließlich ist die Wirtschaft im vergangenen Jahr nach einer Nullrunde 2015 wieder gewachsen. Ein Plus von 2,1 Prozent im ersten Halbjahr 2016, damit liegt NRW auf Platz acht der Bundesländer und nur 0,2 Prozentpunkte unterhalb des bundesdeutschen Durchschnitts. Schlusslicht sieht anders aus. Aber dennoch wurde der Regierung Kraft ein zunehmend schlechtes Zeugnis – vom politischen Gegner, aber auch von den Medien – ausgestellt.

Lehren aus NRW für die Bundestagswahl 2017

Für die SPD im Bund gilt es nun, die Wahlen klar zu analysieren und mit ihrer bisherigen Planung des Bundestagswahlkampfs abzugleichen. Dabei ist zunächst erstmal festzuhalten, dass sich immer mehr Wählerinnen und Wähler immer später entscheiden. So hat sich bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen jeder dritte SPD-Wähler erst in den letzten Tagen vor der Wahl bzw. am Wahltag selbst festgelegt. Insgesamt hat jeder zweite Wähler seine Entscheidung erst kurz vor der Wahl getroffen.

Zudem hat bei allen Landtagswahlen 2017 die CDU von der steigenden Wahlbeteiligung profitiert. Das Wählerwanderungsmodell von infratest dimap zeigt, dass die CDU in Nordrhein-Westfalen mit Abstand am stärksten von der Mobilisierung vormaliger Nichtwähler profitiert. Ein Paradox, denn normalerweise profitieren progressive Kräfte, wenn mehr Menschen ihre demokratischen Rechte nutzen. In Nordrhein-Westfalen ist es noch erklärbar damit, dass viele enttäuschte CDU-Wählerinnen und Wähler, die 2012 aufgrund des schlechten Umfelds und der unglücklichen Wahlkampfführung der Urne fern blieben, den Weg zurückfanden.

Dennoch muss die SPD ihre Mobilisierungskonzepte anpassen, um von einer hohen Wahlbeteiligung zu profitieren. Insbesondere in den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, in denen die SPD mit den Amtsinhabern in den Wahlkampf gezogen ist, konnten zudem ihre Ministerpräsidenten nicht die Zugkraft entfalten, die in heutigen Wahlkämpfen notwendig ist, um die entscheidenden Prozentpunkte zu mobilisieren. In Nordrhein-Westfalen war zudem die Zustimmung zur Landesregierung sehr niedrig. Daher ist hinter die Zuschreibung „kleine Bundestagswahl“ zumindest ein großes Fragezeichen zu machen. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern in allen bisherigen Landtagswahlen des Jahres hat die politische Lage in den entsprechenden Bundesländern den Ausschlag für die Wahlentscheidungen gegeben. Bundespolitische Themen wurden, je näher es auf den Wahltag zuging, durch landesspezifische Fragestellungen verdrängt.

Auch die AfD ist trotz ihres schwachen Abschneidens regional stark präsent. In den Städten des Ruhrgebiets, also den Regionen, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind und die die Hochburgen der SPD ausmachen, erzielt die AfD zweistellige Ergebnisse. All dies muss man berücksichtigen, wenn man jetzt in der SPD Schlussfolgerungen für die Bundestagswahl im September ziehen will.

Und wo genau steht nun die „neue“ SPD unter Martin Schulz?

Eine große Wirkung hat Martin Schulz schon erzielt: Die SPD hat ihre Glaubwürdigkeit in ihrem Markenkern zurückbekommen. Die Zuschreibungen für die SPD sind wieder positiv, seitdem er das Ruder übernommen hat. Ein großer Erfolg, denn das Aufstiegsversprechen unserer Gesellschaft ist tief erschüttert, da sowohl die gesellschaftliche Entwicklung als auch die individuellen Erfahrungen in den klassischen Milieus der Arbeiterbewegung eine andere Sprache sprechen. Nicht umsonst untersucht die derzeit erfolgreiche soziologische Gegenwartsdiagnose von Oliver Nachtwey die Herausbildung einer „Abstiegsgesellschaft“.

Die SPD hat seit der Nominierung von Martin Schulz in vielen Umfragen einen Sprung von zehn Prozentpunkten gemacht und viele Menschen sind in die Partei eingetreten. Die Sozialdemokratie hat in Deutschland in dieser Zeit gelernt, dass sie von den Menschen im Land wieder als problemlösende Volkspartei gesehen wird. Das steht auf der Habenseite – auch nach der NRW-Wahl. Es ist aber vor allem ein Hoffnungspotential, das nur abgerufen werden kann, wenn auch die Rahmenbedingungen stimmen. In einer aktuellen Umfrage sagen 56 Prozent der Bürger, dass durch Martin Schulz wieder sichtbare inhaltliche Unterschiede zwischen SPD und CDU wahrgenommen werden können.

Die Leute glauben seit der Nominierung von Martin Schulz also wieder, dass die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zur sozialdemokratischen DNA gehört. Doch hat er die Zeit seit seiner Nominierung nicht genutzt, sein Politikangebot zu formulieren. Zwei Dritteln der Bürger ist in der besagten Umfrage nicht klar, welche Politik er umsetzen will. Und 45 Prozent sagen, dass sie sich von Martin Schulz mehr erwartet hätten.

Was nun zu tun ist

Es kommt für die SPD jetzt darauf an, dass sie ihr soziales Aufstiegs- und Gerechtigkeitsversprechen glaubhaft erneuert und schnell inhaltliche Punkte dafür festlegt. Globalisierung und Digitalisierung brauchen eine soziale Einhegung, damit alle profitieren. Dabei ist die Strategie gegen die Ungleichheit in unserer Gesellschaft zentral, ein emanzipatorisches Projekt. Diese gesellschaftliche Erzählung setzt bei allen Entstehungsfaktoren von Ungleichheit an. Der kürzlich verstorbene Nestor der Ungleichheitsforschung, Anthony Atkinson, zeigt auf, dass Ungleichheitsbekämpfung ein Programm für mehr soziale und innere Sicherheit sein kann. Soziale Missstände wie Kriminalität und Krankheit schreibt er dem hohen Maß an Ungleichheit in der heutigen Gesellschaft zu. Die erfolgreiche Integration von Zuwanderern und Geflüchteten in Arbeitsmarkt und Gesellschaft senkt die Ungleichheit. Ebenso können durch den Abbau von Ungleichverteilungen auch wieder der Zusammenhalt und die Demokratie gestärkt werden. Die Ungleichheit wirtschaftlicher Ergebnisse zu verringern stärkt wirtschaftliche Entwicklung und erhöht Chancengleichheiten. Wichtiger Nebeneffekt: Hier kann „soziale Gerechtigkeit“ als Kernkompetenz der SPD bei den Wählerinnen und Wähler auch andere Kompetenzwerte für die SPD nach oben treiben.

Die Glaubwürdigkeit von Martin Schulz ist noch hoch, die Menschen sehen, dass er Unterschiede zwischen SPD und CDU glaubhaft vertreten kann. In seiner Reaktion am Abend nach der NRW-Wahl hat er es als seine Aufgabe bezeichnet, mit dem Programm sein inhaltliches Profil weiter zu schärfen. Er hat mit seiner Rhetorik die Partei wieder an ihre eigenen Wohlfahrtsstaatstraditionen heranführen können. Diesen Weg erfolgreich weiter zu beschreiten wird nur gehen, wenn man auch den Gegendruck bestimmter Medien und von Teilen der Wirtschaft aushält. Die Bevölkerung – das zeigen Umfragen sehr deutlich – hat ein feines Bewusstsein für den Anstieg der Ungleichheit und eine Politik für Zusammenhalt und Gemeinschaft erfährt eine große Zustimmung. Dafür muss die SPD Konfliktbereitschaft in Konfliktzeiten zeigen.


Dieser Artikel ist zudem auf Englisch auf der Website der Fabian Society (London) veröffentlicht worden und kann hier gefunden werden.

Autor

Fedor Ruhose

Policy Fellow
Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz.

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