400 Progressive aus 21 Ländern kamen beim Progressive Governance Symposium 2019 zusammen. Das Ziel: dem Nationalismus die Stirn bieten, den Gesellschaftsvertrag neu denken, Gemeinschaften des Wandels bilden.

Am 25. April 2019 brachte das Progressive Governance Symposium (#PGS19) progressive DenkerInnen und MacherInnen aus über 21 Länder in Berlin zusammen. Das Alleinstellungsmerkmal der #PGS-Veranstaltungsreihe ist die Schaffung eines Diskussionsraums für führende politische Inputgeber und Vorreiter, um progressive Netzwerke auszubauen. Sie vereint junge, dynamische und aufstrebende PolitikerInnen und Intellektuelle aus einem breiten politischen Spektrum aus der ganzen Welt.
Das diesjährige Symposium diskutierte die Notwendigkeit, progressive Strategien und Politik angesichts des steigenden Rechts-Nationalismus und Populismus wiederzubeleben. Somit markierte es einen wichtigen Meilenstein der europäischen und transatlantischen progressiven Bewegung.
Herausforderungen für progressive Kräfte
- Die anhaltende Zunahme von Populismus
- Veraltete Themen und Ideen, alternde Führungskräfte und vererbte Interessengemeinschaften
- Die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels
Von Nordamerika bis Europa sind national-populistische Bewegungen und Parteien auf dem Vormarsch. In den Vereinigten Staaten dominiert ein national-populistischer Demagoge eine der führenden Parteien – und das Weiße Haus. In Europa werden nationalistische Bewegungen voraussichtlich weitere Gewinne bei den Europawahlen im Mai erzielen und so ehemals dominante Parteien verdrängen und die liberale Ordnung beenden. Die offensichtliche Unfähigkeit, den Zeitgeist zu kanalisieren, führt dazu, dass progressive Parteien auf beiden Seiten des Atlantiks mit einem Machtverlust und oftmals auch mit einer innerparteilichen Unordnung konfrontiert sind.
Die Herausforderungen, vor denen progressive Parteien in Europa und Nordamerika stehen, umfassen veraltete Themen und Ideen; alternde Führungskräfte und vererbte Interessengemeinschaften, die keine Anknüpfungspunkte an jüngere Generationen haben; sowie ein irregeleiteter Fokus darauf, den Status Quo aufrechtzuerhalten anstatt einen Paradigmenwandel einzuleiten. Für viele sind sie nicht länger glaubwürdige VertreterInnen politischer Innovation und des sozialen Fortschritts in Bereichen von hoher Bedeutung für WählerInnen. Dies gilt auch insbesondere in Hinblick auf weitreichende strukturelle Veränderungen der Wirtschaft.
Genau wie die aktuellen progressiven Herausforderungen immens sind, sind es auch die Möglichkeiten für einen Wandel. Progressive müssen für einen Paradigmenwechsel eintreten, welcher eine nachhaltigere und inklusivere Wirtschaft fördert. Die Gestaltung dieses Wandels wird sicherlich nicht einfach sein. Dennoch haben die Erfahrungen aus der Finanzkrise gezeigt, dass ein systematischer Wandel einen größeren Einbezug von BürgerInnen in politische Entscheidungsfindungen und in den Aufbau eines ökonomischen Systems erfordert. Dieses System muss auf Ermächtigung und Fairness bauen und nicht auf Ausgrenzung.
Gespräche und Einblicke der #PGS19
Angesichts des wiedererwachten Rechtspopulismus diskutierten die #PGS19- TeilnehmerInnen die Notwendigkeit für Progressive, ihre Strategien und Politik weltweit neu zu beleben. Die Plenardebatten fokussierten sich dabei auf Herausforderungen und Möglichkeiten in drei Schlüsselbereichen: Zerstörerische Veränderungen in globalen, nationalen und lokalen Wirtschaftsräumen; das Weltklima; und technologische Innovation.
Die große Idee: Das Neudenken des Gesellschaftsvertrags
Zur Eröffnung des Symposiums setzte Matthew Taylor (Royal Society of Arts, UK) einen intellektuellen Rahmen für die Diskussionen des Tages: “Gesellschaften sind am stärksten, wenn hierarchische, solidarische und individualistische Impulse formuliert und miteinander verbunden werden.” Bezüglich Hierarchie, beziehungsweise Regieren, führte er fort, dass Progressive den Glauben hätten, dass es die Rolle der Regierung sei “solidarische und individualistische Impulse auszubalancieren und in kreativer Spannung zu halten”. Jedoch hätten Jahrzehnte des Neoliberalismus einen Zusammenbruch dieses Gleichgewichts verursacht, da Befürworter “argumentieren, dass es die Rolle des Staates ist, Individualismus zu fördern. Solidarität kommt in dieser Geschichte nicht vor.” Taylor führte aus, dass die Berücksichtigung von Solidarität – Nationalismus, Zusammenhalt und Tradition – ein Grund sein könnte für den kürzlichen Erfolg von Rechtspopulisten. Um Solidarität anzuregen und hierarchische Legitimität zu erneuern, müssten Progressive neue Wege finden, da repräsentative Demokratie als solche nicht ausreiche, um den Volksglauben in die Regierung wiederherzustellen.
Taylor war der erste von zahlreichen RednerInnen des Tages, welche die Notwendigkeit für einen strukturellen Wandel betonten. “Die Öffentlichkeit begreift, dass man nicht pfuschen kann” fuhr er fort, “Wir brauchen Missionen”, welche zum Beispiel dem Klimawandel entgegentreten, sicherstellen, dass technologische Fortschritte für das öffentliche Wohl arbeiten und “emotional intelligente” Diskussionen über eine ökonomische Umverteilung anstoßen.
Gemeinsame Prioritäten bestimmen
Die Missionen wurden in sechs thematischen Breakout-Sessions tiefergehend untersucht. Bezüglich des Klimawandels merkte Paul Bledsoe vom Progressive Policy Institute (USA) an, dass Progressive Herausforderungen zu oft “fälschlicherweise auslagern” und sie somit zu einem Nebenthema machen . Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen und Policy Fellow des Progressiven Zentrums, sagte, dass die Ausgaben im Kampf gegen den Klimawandel als eine Investition wahrgenommen werden sollten und darüber hinaus als “nationale Risikomanagement-Strategie”. Isaac Stanley (Nesta) hob hervor, dass Vorteile durch Big Tech weitreichender geteilt werden müssten. Er ist der Meinung, dass Progressive nicht nur strukturelle Veränderungen der Arbeitswelt, zum Beispiel Automatisierung, ansprechen sollten. Sie müssten auch “sicherstellen, dass BürgerInnen Zugang” zu der neuesten Technologie haben. Um eine inklusive Wirtschaft aufzubauen, meinte Zoë Billingham vom Centre for Progressive Policy (UK), dass Progressive sich damit auseinandersetzen müssten, “was Arbeitsrecht bedeutet, wenn Menschen in digitalen Wirtschaften vor Computern sitzen.”
Eine internationale und progressive Bewegung gestalten
Die Diskussionen der #PGS19 konstatierten die Notwendigkeit, den Gesellschaftsvertrag nicht nur auf nationaler -, sondern auch auf internationaler Ebene neu zu beleben. Die französische Politikerin Corinne Narassiguin, Mitglied der sozialistischen Partei, sagte, dass Progressive in Hinblick auf globale Themen eine gemeinsame Agenda bräuchten. Eine Agenda, die Werte der ”Solidarität, des Humanismus, und der grundlegenden Menschenrechte” fördert. Diese Meinung wurde vom ehemaligen spanischen Staatssekretär für die Europäische Union und Vize-Präsidenten von Fundación Alternativas Diego López Garrido unterstützt, der argumentierte: “Wir brauchen Internationalismus mehr als jemals zuvor, weil wir von dem, was außerhalb unserer Grenzen geschieht, mehr als je zuvor betroffen sind. Die Alternative ist Konfrontation.” Er identifizierte das öffentlich wahrgenommene Versagen des Internationalismus, basierend auf den Nebenwirkungen der Globalisierung, als Hauptgrund für das Wiederaufleben von Nationalismus und Rechtspopulismus.
Demokratie neu beleben
Die Aufgabe, die liberale Demokratie neu zu beleben, war ein weiterer gemeinsamer Ansatz, der sich durch die Diskussionen zog. “ Wir müssen viel, viel mehr über Gemeinschaft reden”, sagte die Abgeordnete der britischen Arbeiterpartei Anneliese Dodds . Sie fügte hinzu: “Der Brexit ist ein Symptom, das zeigt, dass die Menschen genug vom Status Quo haben – und von den PolitikerInnen.” Stephan Weil, niedersächsischer Ministerpräsident, verwies auf zivilgesellschaftliches Engagement als Grund für die deutschlandweit niedrigste Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in seinem Bundesland. Er erklärte, dass der Zustrom von Flüchtlingen im Jahr 2015 erfolgreich gehandhabt wurde, weil die Regierung sich mit der Zivilgesellschaft auseinandergesetzt hätte und “alle relevanten Parteien in den Integrationsprozess miteinbezogen hat.” Grünen-Bundesvorsitzender Robert Habeck (Deutschland) bestärkte die Wichtigkeit der Inklusion und führte aus, dass Progressive mit und nicht nur über jene sprechen sollten, welche sich vom Strukturwandel bedroht fühlten.
Das Progressive Governance Symposium wird im Jahr 2020 fortgeführt. Die diesjährige Veranstaltung folgte Progressive Governance-Konferenzen, welche in den letzten Jahren in Santiago, London, Oslo, Dublin, Kopenhagen, Amsterdam und Stockholm stattfanden.


