Wirtschaftlicher Neustart nach Corona

Erfahrungen aus dem ostdeutschen Transformationsprozess

Die Meldungen klingen dramatisch: Anstieg der Kurzarbeiterzahlen auf ungeahnte Höhen, bedrohlich wachsende Arbeitslosigkeit, Rekordeinbruch der Wirtschaft. Der Bund springt ein. Er nimmt Kredite in Rekordhöhe auf, um Nachfrage und Unternehmen zu stützen und setzt Infrastrukturprogramme in Gang. Nein, wir reden nicht von 2020. Auch nicht von 2008. Wir reden von 1991. Es sind die Nachrichten aus dem Ostdeutschland jenes Jahres.

In den vergangenen Monaten hat Deutschland mit scharfen Kontaktbeschränkungen, Schul- und Kita-Schließungen und vielem mehr auf die drohende Corona-Krise reagiert. Die Kehrseite dieser Eindämmungspolitik ist ein scharfer Einbruch der Wirtschaft. Nach und nach wird deutlich, dass die Einschränkungen die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, im Kern treffen.

Sämtliche Bereiche unserer Gesellschaft werden erfasst. Restaurants, Kneipen und Hotels haben keine Gäste mehr und bangen um ihr Überleben. Gleiches gilt für Kultureinrichtungen – ob private oder staatliche Theater, Kinos oder Museen. Die meisten von ihnen mögen staatliche Zuschüsse bekommen, doch fehlende Ticketeinnahmen führen zu Defiziten, von denen sich vor allem privat betriebene Einrichtungen nur schwer erholen dürften. Züge, Busse und Straßenbahnen fahren fast leer durch die Gegend – den Verkehrsbetrieben fehlen die Erlöse. Die Lufthansa, eine der erfolgreichsten Fluglinien der Welt, befördert gerade einmal ein Prozent ihrer bisher üblichen Fluggäste und ist auf staatliche Hilfe angewiesen.

Die übergroße Mehrheit der Unternehmen spürt die Einschränkungen – sei es durch Umsatzrückgang, Kurzarbeit oder Homeoffice. Die Liste ließe sich unbegrenzt fortsetzen. Über die genauen Auswirkungen auf die Wirtschaftslage in Deutschland gibt es noch keine verlässlichen Zahlen – die Prognosen für den Einbruch in diesem Jahr schwanken zwischen 6 und 20 Prozent. 

Angesichts dieser gewaltigen Auswirkungen ordnen viele die Corona-Krise als den markantesten Einschnitt in der deutschen Geschichte „seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Angela Merkel) ein. Tatsächlich ist die Corona-Pandemie selbst mit den Großkrisen der vergangenen Jahre kaum vergleichbar. Die Finanzkrise sowie die anschließende Eurokrise waren für viele Menschen Krisen der Banken und Börsen. Der wirtschaftliche Einschnitt währte in Deutschland nur kurz und wurde durch Kurzarbeit und Konjunkturprogramme verhältnismäßig gut aufgefangen. Die anschließende Wachstumsdekade machte den Einschnitt im kollektiven Gedächtnis der Menschen schnell vergessen. Die Flüchtlingskrise erschüttere zwar bei vielen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates, die wirtschaftlichen Auswirkungen blieben jedoch marginal. 

Die Corona-Pandemie ist anders. Hier geht es um die Gesundheit jedes einzelnen Menschen, die Kontaktbeschränkungen sind für alle deutlich spürbar. Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen – soweit sie heute bereits absehbar sind – werden beträchtlich ausfallen, in jeder Familie, in jeder Stadt, in den meisten Unternehmen.

Ein vergleichbarer Einschnitt

Legt man den Blick allein auf die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, dann gibt es in der jüngeren deutschen Geschichte einen Einschnitt ähnlicher Größenordnung. Nach der Wiedervereinigung erfuhr Ostdeutschland einen vergleichbar scharfen wirtschaftlichen Einbruch. Und nicht nur das. Die Friedliche Revolution von 1989 führte zu einer kompletten Transformation des politischen Systems, zur völligen Auflösung eines Staates und zur Wiedervereinigung, zu einem Wechsel von der Plan- in eine Marktwirtschaft, zum Umbau von einer geschlossenen Gesellschaft in eine offene und demokratische Ordnung. Für die Ostdeutschen änderte sich das Leben innerhalb kürzester Zeit de facto in allen Bereichen. Kein Stein blieb auf dem anderen. 

Zur Erinnerung: Zwischen 1989 und 1991 sank die Wirtschaftskraft der vormaligen DDR um etwa ein Drittel. Etwa 2,5 Millionen Ostdeutsche wurden arbeitslos. Die Erwerbslosenquote schnellte von 3 Prozent 1990 auf 15 bis 20 Prozent und mehr in die Höhe. Hinzu kamen fast eine halbe Million Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und zwei Millionen KurzarbeiterInnen. Die Zahl der Erwerbstätigen schrumpfte von 9 auf 6,7 Millionen. Ganze Industriezweige – wie die Textilindustrie in der Lausitz – verschwanden ganz. Andere – wie die Energiewirtschaft – bauten volle 90 Prozent (!) ihrer Beschäftigten ab.

Die Treuhandanstalt schloss bis 1994 nicht weniger als 4.000 von 14.000 Unternehmen. In manchen Regionen lag die Unterbeschäftigung deshalb bei 30 bis zu 50 Prozent – es sind genau die Gegenden, die noch heute, 30 Jahre später, mit den Strukturproblemen am stärksten zu kämpfen haben, in denen die Unzufriedenheit am größten ist. Theater, Kinos, Kulturhäuser, Polikliniken schlossen von einem Tag auf den anderen – viele von ihnen waren Betrieben angegliedert, die nun nicht mehr existierten. Wenn es heute heißt, die Stimmung der deutschen Exporteure sei „im freien Fall“, so kommt dies vielen ostdeutschen Unternehmen sehr bekannt vor. Für sie brachen die Exportmärkte nach der Währungsunion von 1990 ebenfalls rasend schnell zusammen. Ihre russischen und osteuropäischen HandelspartnerInnen konnten sich die plötzlich verteuerten Waren aus Ostdeutschland schlicht nicht mehr leisten. 

30 Jahre später bestehen immer noch erhebliche Strukturunterschiede zwischen der ost- und der westdeutschen Wirtschaft. Zwar haben sich für zwei Drittel der Ostdeutschen die persönlichen Lebensumstände verbessert. Doch knapp 60 Prozent der Ostdeutschen nehmen sich auch heute noch als „BürgerInnen zweiter Klasse“ wahr. Das Vertrauen in Demokratie, Marktwirtschaft und die Handlungsfähigkeit des Staates ist im Osten deutlich niedriger als in den alten Ländern. Der „Aufbau Ost“, so wie er sich vollzog, hat in der ostdeutschen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen.


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Lektionen für die Gegenwart

Welche Lehren also lassen sich aus dieser tiefgreifenden Transformation in Ostdeutschland ziehen? Welche Fehler sollten wir vielleicht nicht wiederholen, wenn es „nach Corona“ um die Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft geht? Vier Lektionen sollten wir dabei beherzigen: 

Lehre Nummer eins: Sinn stiften, Erfahrungen ernst nehmen. Bei allen Überlegungen rund um die Neuorganisation unserer Wirtschaft und Gesellschaft kommt es darauf sn, die Erfahrungen der Menschen einzubeziehen, die BürgerInnen intensiv zu beteiligen, Mitsprache zu ermöglichen. Eines der zentralen Versäumnisse im Wiedervereinigungsprozess war, dass genau diese Einbeziehung fehlte.

So wurden Innovation und Initiative ausgebremst. Der Aufbau aller Institutionen in Ostdeutschland folgte in den neunziger Jahren einem einzigen Muster: Nachbau West. Die Organisationen und Strukturen der westdeutschen Republik dehnten sich bis auf wenige Ausnahmen einfach in die neuen Länder aus. Die neu gebildeten Bundesländer etwa wurden nach den „bewährten“ Bauplänen ihrer jeweiligen Partnerländer im Westen aufgebaut. Auch eine neue gemeinsam erarbeitete Verfassung gab es nicht, das westdeutsche Grundgesetz galt, mit ein paar kleineren Änderungen versehen, einfach weiter. Ob diese oder jene westdeutsche Verwaltungsbehörde überhaupt ihren Sinn hatte, wurde nicht hinterfragt – alle bekannten Strukturen und Verfahren wurden schlicht in den Osten hineinkopiert. 

Das hatte den großen Vorteil, dass Verwaltung und Justiz, Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Sozialverbände schnell ihre Aufgaben erfüllen konnten. Der Nachteil jedoch: Sinnvolle Eigengewächse, ob aus den vier Jahrzehnten der DDR oder der Zeit der Friedlichen Revolution, schafften es in der Regel nicht in die neue Bundesrepublik. So wurden etwa Polikliniken erst abgewickelt – und entstehen Jahrzehnte später als „Medizinische Versorgungszentren“ neu. Eben solche Erlebnisse haben erheblich dazu beigetragen, dass sich viele Ostdeutsche bis heute fremdbestimmt vorkommen. Ihre Kompetenzen haben kaum Berücksichtigung gefunden, kaum eine institutionelle Innovation basiert auf ostdeutschen Erfahrungen. 

BürgerInnen müssen aber das Gefühl haben können, gehört zu werden. Sie müssen den Eindruck haben, dass sie den Wandel aktiv selbst mitgestalten, die Dinge in ihre eigene Hand nehmen können. Wenn es also um den richtigen Weg aus der Pandemie-Krise geht, kommt es darauf an, neue Formen der Mitsprache und Mitentscheidung zu nutzen. Es gibt dazu gute Vorbilder, repräsentativ zusammengesetzte Bürgerkonvents etwa, die beispielsweise in Irland an großen gesellschaftlichen Themen gearbeitet haben. Denn es geht darum, Sinn zu stiften – und neuen Gemein-Sinn zu entwickeln.

Den fundamentalen Einschnitt der Corona-Pandemie müssen wir als Chance nutzen, um eine neue Idee für unsere Gesellschaft zu entwickeln.

Den fundamentalen Einschnitt der Corona-Pandemie müssen wir als Chance nutzen, um eine neue Idee für unsere Gesellschaft zu entwickeln. Gelingen kann das nur, wenn die Menschen im Land diesen Weg als ihren eigenen begreifen. Denn es war vielleicht eines der großen Versäumnisse, dass es nach der Wiedervereinigung eben keine große gesellschaftliche Debatte über das neue, das gemeinsame Deutschland gegeben hat, dass gerade kein Konsens entstand darüber, wie das neue Land aussehen kann, dass Aufbau Ost auch Verzicht West bedeuten kann, dass es nicht klug ist, im Osten einfach nur das zu kopieren, was vorher (auch nicht fehlerfrei) im Westen schon mal gemacht wurde. 

Lehre Nummer zwei: Mehr investieren, weniger reparieren, mehr Neues wagen. Zweifellos wurde in Ostdeutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten viel investiert. Doch auch hierbei wurde meistens bloß nachgeholt – und zu wenig auf Innovation geachtet. So setzte man beim Ausbau des Telefonnetzes im Osten zuerst auf Kupfer, statt von Beginn an in Glasfaser zu investieren (die es auch schon Anfang der neunziger Jahre gab). Viel zu oft wurden Menschen in bekannte Berufe umgeschult, viel zu selten darauf geachtet, wo die zukunftsträchtigen neuen Betätigungsfelder und Branchen liegen. Im 2005 neu eröffneten Leipziger BMW-Werk wurde ein Automodell zusammengebaut, das genauso zuvor schon in einem bayerischen Werk montiert worden war. 

Heute geht es wieder darum herauszufinden, wo die entscheidenden Zukunftsfelder liegen: Wie können wir die Krise nutzen, um gesellschaftliche Innovation zu etablieren? Wie sollten wir soziale Arbeit – im wahrsten Wortsinne – neu bewerten? Wie können wir die Digitalisierung schneller als bisher nutzen, um unser Leben einfacher, besser und leichter zu machen? Wie können wir Klimaschutz und Wirtschaftswachstum klug in Einklang bringen? (Und zwar klüger als dies bislang geschah: Deutschland hat seit 1990 fast 20 Prozent CO2 eingespart – allerdings resultierte der größte Teil aus den Schließungen der ostdeutschen Kraftwerke und Betriebe Anfang der neunziger Jahre. Die sozialen Folgelasten sind bis heute spürbar.)

Lehre Nummer drei: Ungerechtigkeiten begrenzen. In Deutschland driften die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seit vielen Jahren immer stärker auseinander. Dies ist eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen. Diesen Trend hat allenfalls die Finanzkrise 2008, als die Börsen und Dividenden einbrachen, kurzzeitig unterbrochen. Wer heute auf die Einkommens- und Vermögensverteilung schaut, erkennt die in ganz Deutschland weit auseinanderklaffende Schere zwischen Oben und Unten – und zugleich den massiven Unterschied zwischen Ost und West. Besonders deutlich wird dies beim Blick auf das Erbschaftssteueraufkommen in den Bundesländern. Hier zeigt sich, wie die Vermögen in Deutschland verteilt sind und wo sich Ressourcen konzentrieren. Während in Thüringen und Sachsen weniger als 10 Euro Erbschaftssteuer pro Jahr und Einwohner in die Landeskasse fließen, sind es in Bayern über 100, in Hamburg sogar über 160 Euro. 

Heute erklingt in der Corona-Krise aus allen Richtungen der Ruf nach dem Staat. Dieser soll Hilfspakete schnüren und mehr Verantwortung in der Wirtschaft übernehmen. Diese neue Wertschätzung staatlicher Handlungsfähigkeit ist zu begrüßen. Aber dann sollte zugleich auch die Chance genutzt werden, die aus dem Ruder gelaufene gesellschaftliche Ungleichheit abzubauen. Aufgabe der Treuhandanstalt nach 1990 war es zunächst, Unternehmen so schnell wie möglich loszuwerden – sie also zu verkaufen oder zu schließen. Zu spät erfolgte die Maßgabe, verstärkt auf Sanierung und Restrukturierung zu achten. Damit wurde viel Vermögen vernichtet – andere Länder in Osteuropa verschenkten beispielsweise Wohnungen an ihre Bürger, die damit zu einem ersten kleinen „Vermögen“ kamen.

Wenn sich der Staat heute wieder stärker als Mitgesellschafter oder über Hilfspakete engagiert, muss dabei das Prinzip gelten, dass auch die unteren und mittleren Einkommensgruppen etwas davon haben – und die Ungleichheit in Deutschland reduziert wird. In Dänemark erhalten Unternehmen, die Dividenden auszahlen oder eigene Aktien zurückkaufen keine Unterstützung. Warum also nicht stärker auf die Modelle der Genossenschaft oder der MitarbeiterInnenbeteiligung setzen – und so die ArbeitnehmerInnen stärker am Eigentum beteiligen? 

Und als vierte Lehre letztlich: Wir können das alles hinkriegen! Heute, 30 Jahre nach der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR, wissen wir, dass beim Aufbau Ost nicht alle Probleme gelöst sind, keine Frage. Nicht alle Ostdeutsche sind mit den bestehenden Verhältnissen einverstanden, viel Unzufriedenheit und Unverständnis haben sich aufgestaut. Aber: Die Menschen in Ostdeutschland haben Unglaubliches geleistet. Über 80 Prozent haben einen neuen Job erlernt. Viele haben sich durch die „wilden“ Jahre gekämpft und mit Erfolg eine neue Existenz aufgebaut. Sie haben dazu beigetragen, dass neue Unternehmen entstanden sind, die sich erfolgreich behaupten. Sie mögen etwas krisenerfahrener und damit vielleicht auch etwas krisenresistenter sein. So ist bei vielen Ostdeutschen in den vergangenen Jahren ein neuer Regionalstolz gewachsen – und weil es zuweilen an Anerkennung für die schwierige Aufbauleistung mangelte bei manchen auch so etwas wie ein neuer Regionaltrotz

Eines jedenfalls haben die vergangenen drei Jahrzehnte bei allen Defiziten gezeigt: dass eine gemeinsame Kraftanstrengung erfolgreich sein kann. Heute ist Ostdeutschland eine moderne Region im Herzen Europas. Wenn wir ein paar Lehren aus dem Aufbau Ost berücksichtigen, wird uns der gesamtdeutsche Wiederaufbau nach der Corona-Krise umso besser gelingen. Dann wird Deutschland am Ende der zwanziger Jahre besser dastehen als vorher.

Autor

Thomas Kralinski ist Mitgründer des Progressiven Zentrums und war bis 2022 Mitglied des Vorstands. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Osteuropawissenschaft in Leipzig und Manchester (UK).

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