Zur Halbzeit wurde der Ampel geraten, mehr Koalition zu wagen. Getan hat sie das genaue Gegenteil – und ihre zweite Halbzeit nahezu vollständig vergeigt. Trotzdem hat sie in ihren drei Jahren mehr Vorhaben und Reformen umgesetzt als die vier Merkel-Regierungen in ihren jeweiligen Legislaturperioden. Wie Historiker einmal über die Ampel urteilen werden, wissen wir noch nicht. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass ihr Urteil deutlich positiver ausfallen wird, als es der zeitgenössische Diskurs vermuten lässt.
Die Ampel zeigt: Man kann auch erfolgreich scheitern
Mit etwas Distanz wird sich zeigen, dass die Ampel sehr viel besser war als ihr Ruf. Sine ira et studio werden die Historiker sehr viel milder urteilen als die übergroße Mehrheit der im Staub des Tages begleitenden Leitartikler. Man kann eben auch erfolgreich scheitern. Dafür ist die Ampel ein mahnendes Beispiel. Dass es dazu kam, lag vor allem an dem „Zu oft“ koalitionsinterner Streitigkeiten, am Kleinreden ihrer eigenen Erfolge, an wechselseitiger Missgunst und dem fehlenden Mut, sich als Koalition gemeinsam zu profilieren. Eine inhaltlich zwingende Begründung ihres Endes fällt jedenfalls bis heute schwer. Der Koalitionsbruch war mehr gewollt und konstruiert als notwendig oder gar zwangsläufig. Die FDP hat genau dafür und zurecht mit ihrer parlamentarischen Existenz bezahlt.
Flieh- und Ziehkräfte des neuen Parteiensystems
Aus all dem sollte Schwarz-Rot lernen, es von vornherein besser angehen und besser machen – auch deshalb, weil Schwarz-Rot als polarisierte Drei-Parteien-Koalition aus CDU, CSU und SPD der Ampel sehr viel ähnlicher sein wird als den großen Koalitionen vergangener Zeiten. Das liegt an der neuen Wettbewerbslogik und Wettbewerbsdynamik unseres sehr viel stärker segmentierten und polarisierten Parteiensystems. Die Selbstbeschädigung der politischen Mitte bei der Bundestagswahl 2025 ist dafür das Menetekel. Aus dem Menetekel folgt die Regeneration der Mitte als Auftrag – Bürde und zentrale Mission für Schwarz-Rot. Aber die Fliehkräfte der Ampel werden auch an der neuen Dreier-Koalition zerren. Der Union sitzt die in Umfragen inzwischen fast gleichstarke Konkurrenz der in Teilen rechtsextremistischen AfD im Nacken; und eine auch von der Union ins Abseits beförderte FDP liegt außerparlamentarisch auf der Lauer. An der Rest-SPD nagt die progressive Konkurrenz der Grünen und der Linkspartei. Der Versuchung zu widerstehen, diesen Zieh- und Fliehkräften in eine Bi-Polarisierung des Parteiensystems in zwei Lager nachzugeben – das ist die eigentliche Herausforderung der nächsten vier Jahre. Und es ist eine Herkulesaufgabe. Sie wird den Koalitionären odysseische List und Klugheit abfordern. Wer meint, das werde einfacher als in der Ampel, der hat die Wettbewerbslogik des neuen Parteiensystems noch nicht verstanden.
Starre Mehrparteienkoalitionen als hohe Regierungskunst
Hinzu kommt, dass auch Schwarz-Rot sich für die anspruchsvollste aller denkbaren Koalitionsvarianten entschieden hat, die für ein polarisiertes Mehrparteiensystem vorstellbar ist: die starre Mehrheitskoalition. Starre Mehrheitskoalitionen verzeihen nichts. Alles muss geeint werden. Wechselnde Mehrheiten bleiben kategorisch ausgeschlossen. Selbst innerhalb des Rahmens einer Mehrheitskoalition mögliche Instrumente des Regierens mit flexiblen Mehrheiten bleiben ungenutzt. Alle drei Partner werden so zu echten Veto-Spielern. Jeder kann die Koalition jederzeit an jeder beliebigen Sachfrage scheitern lassen. Als lagerinternes Koalitionsmodell mag das historisch zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün noch leidlich gut funktioniert haben – auch in den noch wirklich großen „Großen Koalitionen“ der Merkel-Jahre. Die neue schwarz-rote Koalition wird aber eine programmatisch polarisierte Drei-Parteien-Koalition mit nur noch knapper eigener Mehrheit. Bei gleichzeitig starken und stark polarisierten Oppositionsparteien ist sie einer ganz anderen Wettbewerbsdynamik ausgesetzt. Eine derart komplizierte Koalition in einem derart komplizierten Umfeld zu stabilisieren, ist hohe Regierungskunst.
Fünf Lehren und Vorschläge für Schwarz-Rot
Schwarz-Rot sollte sich also warm anziehen – und könnte und sollte aus dem koalitionspolitischen Versagen der Ampel lernen. Dazu die folgenden fünf Lehren und Vorschläge: Sich als Koalition lieben lernen, die koalitionsinterne Vertrauensbildung institutionell stärken, ein missionsorientiertes Koalitionsmanagement aufbauen, mehr Richtlinienkompetenz zulassen und, last but not least, die Regeneration der politischen Mitte als ein progressives Projekt begreifen.
1. Die Koalitionspartner sollten sich lieben lernen.
Der Preis der starren Mehrheitskoalition ist, dass die Regierung von den meisten Wählern als Entität betrachtet wird. Ihre Zuschreibung von Erfolg und Misserfolg differenziert nicht zwischen den Parteien. Sie behandeln die starre Mehrheitskoalition wie eine gemeinschaftlich haftende Obrigkeit. Als Regierungsparteien sitzen dann alle im selben Boot. Das ist die Kehrseite der vermeintlichen Bequemlichkeit einer eigenen Mehrheit. Insofern darf sich darüber auch niemand beklagen. Wer in einem polarisierten Mehrparteiensystem auf starre Mehrheitskoalitionen setzt, der muss sich lieben lernen – oder wird scheitern wie die Ampel.
2. Vertrauen entsteht auch, aber nicht nur beim Bier.
Vertrauensbildendes Verhalten kann nicht erzwungen, aber institutionell erleichtert und incentiviert werden. Dafür stehen bewährte institutionelle Arrangements zur Verfügung. Inhaltlich verwandte Ministerien sollten nicht ein-, sondern zweifarbig vergeben werden; das incentiviert lagerübergreifende Ressortkooperationen. Für die Besetzung Parlamentarischer Staatssekretäre sollte Rot-Schwarz zum Kreuzstichverfahren zurückkehren: Jedes SPD-Ministerium bekommt eine:n Parlamentarische:n Staatssekretär:in aus der Union und jedes Unionsministerium eine:n aus der SPD. Das verhindert das Auseinanderdividieren der Koalitionsparteien in Ressort-Domänen und die Illusion, eine erfolgreiche Koalition könne auch nebeneinander statt miteinander regieren.
3. Polarisierte Mehrparteienkoalitionen brauchen Missionen.
Derselben Logik folgt der Vorschlag ressortübergreifender Missionsagenturen im Kanzleramt. Drei Missionsagenturen zu den drei wichtigsten Kernanliegen der Koalition: beispielsweise eine zur Staatsmodernisierung, eine zum nachhaltigen Wachstum in einer klimaneutralen Wirtschaft und eine zur Stärkung und Regeneration der gesellschaftlichen Mitte. Die Ziele wären geeignet, es geht aber um das Instrument. Die Agenturen werden ressortübergreifend als parlamentarische Koalitionsausschüsse besetzt. Ausgestattet mit eigener Entscheidungskompetenz tragen sie die Verantwortung für die Umsetzung der drei zentralen Koalitions-Missionen. Zur Umsetzung in Regierungshandeln dient eine wiederbelebte Richtlinienkompetenz.
4. Kanzlerdemokratie braucht Richtlinienkompetenz.
Die Koordination und Führung der Missionsagenturen im Kanzleramt würde eine kontrollierte Wiederbelebung der verhandlungsdemokratisch weitgehend eingeschläferten Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers ermöglichen. Auch die hat der Ampel gefehlt. In der Kanzlerdemokratie braucht eine starke Koalition auch einen starken Kanzler oder eine starke Kanzlerin. Schwarz-Rot sollte vereinbaren, dass alle Koalitionspartner zur Umsetzung der gemeinschaftlichen Beschlüsse und Vorhaben der Missionsagenturen die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers akzeptieren. Wer das nicht will oder fürchtet, sollte in Minderheitsregierungen mit flexiblen Mehrheiten versuchen mitzuregieren statt in starren Mehrheitskoalitionen als Vetospieler die Gestaltungsräume zu verengen.
5. Die Regeneration der politischen Mitte ist progressiv.
Und wenn uns Progressiven das alles zu wenig progressiv erscheint, sollten wir noch einmal die Alternativen bedenken. Schwarz-Rot ist zwar nicht die letzte Patrone der Demokratie, aber es ist die derzeit einzige Chance, ohne die teils rechtsextremistische AfD zu regieren. Ohne Union keine Brandmauer. Schon deshalb ist der Kampf um die Regeneration der politischen Mitte ein auch progressives Projekt – und ein Kampf der sich lohnt. Let´s go!
Autor
Alle zwei Wochen geht ein:e Autor:in aus dem Netzwerk von Das Progressive Zentrum in der Kolumne Die Progressive Lage einer aktuellen politischen Frage nach, ordnet ein, kommentiert, setzt Impulse, an denen wir uns reiben können – auch wir als Herausgeber:innen, weil die Standpunkte unserer Autor:innen nicht zwangsläufig immer auch unsere sein werden.