Mehr Koalition wagen

Halbzeitbilanz der Ampel-Koalition zur Umsetzung des Koalitionsvertrages 2021

Zusammenfassung

Zur Halbzeit ihrer Regierung hat die Ampel knapp zwei Drittel (64 Prozent) ihres ambitionierten Koalitionsvertrages entweder umgesetzt (38 Prozent) oder mit der Umsetzung ihres Vertrages begonnen (26 Prozent). Das ist das zentrale Ergebnis der Analyse „Mehr Koalition wagen – Halbzeitbilanz der Ampel-Koalition zur Umsetzung des Koalitionsvertrages 2021“ der Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit der Universität Trier und dem Progressiven Zentrum. Überschattet wird diese insgesamt sehr vielversprechende Halbzeitbilanz durch den öffentlich ausgetragenen Koalitionsstreit. Der führt zu Unzufriedenheit und einem stark einbrechenden Vertrauen in die Erfüllungstreue des Regierungshandelns.

Die wichtigsten Ergebnisse

Im Einzelnen zeigt sich in der Analyse folgendes Bild: Von ihren insgesamt 453 Koalitionsversprechen sind 174 bereits voll oder teilweise erfüllt (38 Prozent). Darüber hinaus befinden sich weitere 55 Vorhaben (12 Prozent) im Prozess ihrer Erfüllung. Weitere 62 (14 Prozent) wurden substanziell angegangen, ihr Erfüllungsgrad ist aber noch nicht absehbar. 162 Versprechen (36 Prozent) wurden bislang weder erfüllt noch angegangen.

Vielversprechende Halbzeitbilanz

„Im Vergleich zur Halbzeitbilanz ihrer Vorgängerregierung hat die Ampel mit 38 statt 53 Prozent bereits erfüllter Versprechen damit anteilig zwar weniger, aber mit 174 statt 154 erfüllten Versprechen in absoluten Zahlen gerechnet sogar etwas mehr geschafft. Das gilt für die großen Reformprojekte der Regierung ebenso wie für die eher kleineren Regierungsvorhaben“, sagt Robert Vehrkamp, Demokratie-Experte der Bertelsmann Stiftung. „Eine insgesamt sehr vielversprechende Halbzeitbilanz, die aber überschattet und geprägt ist von öffentlich inszeniertem Koalitionsstreit und vielen offenen Baustellen“, fasst Vehrkamp die Ergebnisse zusammen.

Ambitionierter Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung aus dem Jahr 2021 enthält insgesamt 453 „echte“ Regierungsversprechen. Als „echte“ Versprechen hat das Forscher:innen-Team nur solche Vorhaben eingestuft, deren Erfüllung anhand klarer Kriterien nachprüfbar ist. Im Ampel-Vertrag sind das gut 50 Prozent mehr als die 296 Versprechen der Großen Koalition im Koalitionsvertrag von 2018. Gegenüber dem Koalitionsvertrag 2013 mit 188 Versprechen hat die Ampel sogar fast zweieinhalb Mal so viele Regierungsvorhaben vereinbart. „Die große Anzahl der Versprechen spiegelt zum einen die Komplexität der Ampel als einer lagerübergreifenden Koalition aus drei programmatisch eigenständigen Parteien, zum anderen aber auch das höhere Ambitionsniveau des Ampel-Vertrages, wider“, erläutert Theres Matthieß von der Universität Trier, Mitautorin der Studie.

Vertrauen in die Umsetzungstreue eingebrochen

Im Kontrast zum Ambitionsniveau und Umsetzungsstand ihres Koalitionsvertrages steht die Ampel-Regierung in der öffentlichen Wahrnehmung als „Streitkoalition“ dar: Nur noch 12 Prozent aller Menschen in Deutschland meinen, dass von den vereinbarten Koalitionsversprechen „alle, fast alle oder ein großer Teil“ umgesetzt werden. 43 Prozent aller Befragten gehen sogar davon aus, es werde nur „ein kleiner Teil oder kaum welche“ umgesetzt. „Der öffentlich inszenierte Koalitionsstreit führt dazu, dass die tatsächliche Regierungsleistung und Umsetzungstreue unterschätzt wird. Deshalb braucht die Ampel einen Neustart in ihrer koalitionsinternen Zusammenarbeit und Selbstdarstellung“, sagt Wolfgang Schroeder vom Progressiven Zentrum.

Bevölkerung unzufrieden mit Regierungsparteien

Gleichzeitig zeigt sich nur jeweils etwa ein Viertel der Menschen in Deutschland mit der Arbeit von SPD (25 Prozent), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (23 Prozent) und FDP (22 Prozent) „sehr oder eher“ zufrieden. Mehr als sechs von zehn der Befragten sind dagegen „eher oder sehr“ unzufrieden mit der Performanz der Regierungsparteien (SPD: 62 Prozent, GRÜNE: 67 Prozent, FDP: 62 Prozent). „Auffällig ist dabei, wie wenig die meisten Menschen zwischen den drei Regierungsparteien differenzieren. Die Regierung wird von den meisten Menschen als eine Einheit gesehen und beurteilt“, erläutert Vehrkamp und ergänzt: „Nur wenn die Ampel mehr Koalition wagt, wird sie bei den Wählern auch das Vertrauen ernten, das ihre vielversprechende Halbzeitbilanz eigentlich verdient hätte“.

Mehr Koalition wagen!

Im Gesamtbild zeigt sich zur Halbzeit der Ampel-Koalition erneut eine Regierung, die ihre insgesamt sehr positive und vielversprechende Halbzeitbilanz durch ihr gegenteiliges öffentliches Erscheinungsbild überschattet und beschädigt.

Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die Ampel sich in der Umsetzung ihres sehr ambitionierten Regierungsprogramms auf einem zumindest für die Schlussbilanz vielversprechenden Weg befindet. Zwei Drittel ihrer insgesamt 453 Vorhaben wurden bereits angegangen. Etwa die Hälfte der bereits angegangenen Dinge befindet sich aber noch in jeweils unterschiedlichen Stadien der laufenden Umsetzung. Erst knapp vier von zehn Versprechen sind bereits erfüllt, an sechs von zehn ihrer Vorhaben muss die Ampel also noch (weiter) arbeiten.

Es zeigt sich somit eine eigentlich funktionierende Koalition in vollem Lauf und mit vielen noch offenen Baustellen. Gelingt deren konstruktive (Weiter-)Bearbeitung in der zweiten Halbzeit der Legislaturperiode, winkt eine hervorragende Schlussbilanz mit vergleichbar hohen Umsetzungsquoten wie bei den Vorgängerregierungen, allerdings auf Grundlage eines deutlich ambitionierteren Koalitionsvertrages.

Dem stehen aber ein zum Zeitpunkt der Halbzeitbilanz eher negatives öffentliches Koalitionsimage und eine prekäre, öffentlich inszenierte Streitpraxis der Koalitionsparteien entgegen, die sich zunehmend negativ auch auf die tatsächliche Umsetzungsperformanz der Regierung auswirken könnten.

War der vielzitierte „Zauber des Anfangs“ doch nur ein Trugbild? Oder wird sich die zur Halbzeit prekär anmutende Regierungspraxis in der Rückschau als die lediglich vorübergehende Midlife-Crisis einer äußerst ambitionierten Reformregierung entpuppen? Die vorliegenden Ergebnisse zur Halbzeit der Ampel-Regierung sprechen zwar eher für Letzteres, können Ersteres aber auch nicht ausschließen. Es bleibt also spannend!

Methode

Für die Studie „Mehr Koalition wagen, Halbzeitbilanz der Ampel-Regierung zur Umsetzung des Koalitionsvertrages 2021“, haben Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung und Theres Matthieß von der Universität Trier den aktuellen Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 und seine bisherige Umsetzung analysiert. Dazu wurden in einem mehrstufigen Kodierverfahren empirisch überprüfbare „echte“ Regierungsversprechen aus dem Koalitionsvertrag identifiziert und auf ihre Erfüllung bis zum Stichtag 16. August 2023 überprüft.

In einem zweiten Kodierverfahren wurden die Koalitionsversprechen den jeweiligen Wahlprogrammen der drei Ampel-Parteien SPD, GRÜNE und FDP zugeordnet. Die Vergleichswerte zur Vorgängerregierung beziehen sich auf die von denselben Autor:innen verfasste Studie „Besser als ihr Ruf – Halbzeitbilanz der Großen Koalition zur Umsetzung des Koalitionsvertrages 2018“ aus dem Jahr 2019. Zusätzlich liegt der Studie eine Umfrage durch das Institut für Demoskopie Allensbach zugrunde, für die im Zeitraum 7. bis 19. Juli 2023 insgesamt 1.011 Personen in mündlich-persönlichen Interviews („face-to-face“) befragt wurden. Die Umfrage ist repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung ab 16 Jahren.

Die Studie „Mehr Koalition wagen“ in der Presse


Die Studie ist in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung und der Universität Trier entstanden.

Autor:innen

Robert Vehrkamp ist Senior Advisor im Programm „Demokratie und Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung und Gastprofessor am Institut für Demokratieforschung der Leuphana Universität in Lüneburg.
Theres Matthieß ist Juniorprofessorin für Empirische Demokratieforschung an der Universität Trier. Zuvor war sie Postdoc-Fellow am Mannheimer Institut für Europäische Sozialforschung und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Ansprechpartner

Pressekontakt

Maria Menzel-Meyer

Leitung Strategische Kommunikation

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