Liebe progressive Mitstreiter:innen,
dass die Ampel gescheitert ist, stellt auch uns als Progressive vor grundlegende Fragen – nicht zuletzt, weil wir mit ihr große Hoffnungen in die Umsetzung von sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Schlüsselprojekten gesetzt haben. Getreu unserem Motto, dem Fortschritt eine Richtung zu geben, haben wir als Das Progressive Zentrum eigene Impulse zum Gelingen ausgewählter Vorhaben der Koalition beigetragen und Debattenräume eröffnet. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass die Verbindung der sozialen, ökologischen und liberalen Denktradition für eine Politik des echten Fortschritts unabdingbar ist. Gleichzeitig ist das Scheitern der Ampel auch ein Einschnitt für unsere Arbeit, aus dem wir vier Lehren für eine zeitgemäße Regierungspolitik ziehen wollen, die die Bezeichnung progressiv auch wirklich verdient:
1. Vorausschauend – und in Krisenzeiten flexibel und pragmatisch
Man kann die Ampel nicht für die geopolitischen und geoökonomischen Umbrüche der vergangenen drei Jahre verantwortlich machen – sehr wohl aber für die schleppende Reaktion darauf. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine einschließlich der aus ihm folgenden Fluchtbewegungen, die Spätfolgen der Coronapandemie und China als machtbewusster globaler Faktor haben massive ökonomische Auswirkungen für die westliche Welt. Diese gegenwärtige Polykrise ist vergleichbar mit den Ölkrisen der 1970er Jahre und den ökonomischen Folgen der Wiedervereinigung. Sie trägt maßgeblich zu einer Überforderung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bei – und zu Regierungskrisen in Frankreich, Italien und den Niederlanden sowie zur Abwahl von Amtsinhabern, etwa in den USA. Wirtschaftliche Faktoren und hier insbesondere die Inflation waren einer, wenn nicht der wichtigste Grund für die Wahlniederlage der Demokraten in den Vereinigten Staaten. Auch Deutschland hat infolge der Schocks strukturelle wirtschaftliche Probleme, verzeichnet in den vergangenen zwei Jahren die zweithöchsten Reallohnverluste in der Eurozone (nach Italien), eine eingetrübte Arbeitsmarktlage, sinkende Konsumneigung und eine schwächelnde Wettbewerbsfähigkeit von Teilen der verarbeitenden Industrie.
Angesichts der veränderten geopolitischen und geoökonomischen Lage, spätestens aber nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November vergangenen Jahres, hätte die Ampelkoalition einen Neuanfang gebraucht – einschließlich einer Weiterentwicklung des Koalitionsvertrages und einer Lösung der Frage der öffentlichen Finanzen. Das ist in der Retrospektive das größte Versäumnis der Ampel: dass sie das Urteil völlig unvorbereitet getroffen hat und sie dann auch in den folgenden Wochen nicht die Kraft aufgebracht hat, zur Halbzeit eine grundlegende Neuauflage der Zusammenarbeit zu entwickeln und zu begründen – eine Rundum-Erneuerung, wie sie von zahlreichen Stimmen und auch aus unserem Haus gefordert wurde. Nicht zuletzt mit Blick auf die erneute Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten: Auch in den kommenden Jahren wird es Entwicklungen geben, die außerhalb des Einflussbereichs einer deutschen Regierung liegen. In einer Situation, in der geopolitische oder geoökonomische Entwicklungen einer Regierung ihre Geschäftsgrundlage entziehen, muss Folgendes eine politische Selbstverständlichkeit sein: Prioritäten zu überdenken und neu zu ordnen – eine Frage, mit der sich alle Parteien der demokratischen Mitte im Allgemeinen und links der Mitte im Besonderen angesichts der jüngsten Wahlergebnisse im In- und Ausland konfrontieren sollten. Es muss uns Progressiven darum gehen, vorausschauend Politik zu machen und in Krisenzeiten flexibel und pragmatisch auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu reagieren – ohne dabei die grundlegenden Ziele aus den Augen zu verlieren.
2. Für ein Sicherheitsgefühl im Alltag sorgen
Als Progressive müssen wir uns im Kern um Themen wie Arbeit, Bildung, Gesundheit und Wohnen kümmern, wenn wir breite Mehrheiten erreichen wollen. Die Ideen und das Tempo, mit denen wir als Progressive die Transformation vorantreiben und Gesellschaft und Staat modernisieren wollen, sind in der akuten Situation zu avantgardistisch, elitär und nicht mehrheitsfähig. Die meisten Menschen wünschen sich sichere Arbeitsplätze, gute Schulen für ihre Kinder, eine solide Gesundheitsversorgung und günstigen Wohnraum. Solange progressive Politik diese Themen der Bevölkerung nicht zum Bestandteil ihrer Prioritätensetzung macht, wird sie die Menschen nicht erreichen. Ein gelegentlicher Hinweis auf die hart arbeitende Mitte wird hier nicht ausreichen. Es geht nicht um Bürgergeld, Rente und Mindestlohn; es geht um eine bedarfsorientierte Infrastruktur, einen leistungsfähigen Staat und eine bessere Berücksichtigung der Nöte der Kommunen. Und es geht auch um eine klare Positionierung zum Thema Migration, bei dem wir statt Maximalpositionen Augenmaß und Menschlichkeit anbieten müssen. Es braucht ein progressives Sicherheitskonzept! Gerade wahrgenommene und tatsächliche Sicherheitsaspekte sind Bestandteil der Transformation – und wurden stark vernachlässigt.
3. Die Vorteile der sozial-ökologischen Transformation erfahrbar machen
Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten der Transformation wurden von progressiven Kräften unterschätzt – auch von uns und auch konkret von der Ampel-Regierung. Auch wird ihr unmittelbarer Nutzen – etwa die größere Energieunabhängigkeit – von den Menschen kaum wahrgenommen. Stattdessen beschäftigen die Bürger:innen derzeit höhere Preise für Energie und das Gefühl, nicht vom Wandel zu profitieren. Zudem bleiben wichtige Fragen ungeklärt: Wie kann ein rascher Umstieg auf elektrische Mobilität, Wärmepumpen und klimafreundliche Bauwirtschaft finanziert werden – und durch wen? Die Steuerung des Energieverbrauchs über CO2-Steuern beispielsweise ist ein großes soziales Experiment, denn wenn fossile Energien teurer werden, Alternativen aber nicht vorhanden oder kostspielig sind, führt das zu großen sozialen Verwerfungen. Das nicht umgesetzte Klimageld wäre zwar theoretisch eine Lösung, ist praktisch aber eine universale Sozialleistung, die die Debatte über Leistungsgerechtigkeit weiter anfeuern wird. Diese Probleme wurden nicht nur in der Ampel, sondern auch in progressiven Kreisen zu oft negiert. Besonders eindrücklich war das beim Heizungsgesetz, das zu den unbeliebtesten Projekten der Ampel gehört. Das Akzeptanzdefizit dieser wichtigen klimapolitischen Maßnahme muss sie sich selbst ankreiden. So hätte die soziale Abfederung von Anfang an ins Zentrum gerückt und im Sinne von „Förderung vor Forderung“ auch entsprechend kommuniziert werden müssen. Die Lehre daraus: Erkenntnisse aus der Forschung zu Akzeptanzfaktoren sollten künftig vorrangig in die Entwicklung von Transformationspolitik integriert werden – beispielsweise indem man den als zu hoch bewerteten kurzfristigen Kosten von Klimaschutzmaßnahmen langfristige Kostenperspektiven erfolgreich entgegenstellt und so Diskurshoheit erringt.
4. Streiten ist Silber, Einigen ist Gold
Streit ist das demokratische Normal. Er macht unterschiedliche Meinungen sichtbar und führt, in konstruktiver Form, zu Annäherung und Lösungsfindung. Ist die Veränderung des eigenen Standpunktes – ob aus Überzeugung oder zum Wohle eines Kompromisses – aber ausgeschlossen, so leidet das Vertrauen in das demokratische Modell. Die zu häufig als Inkonsequenz verschriene Kompromissfähigkeit, Verlässlichkeit und ein schlichtweg guter Umgang sind politische Werte, ja, demokratische Notwendigkeiten – nicht nur, aber vor allem in Zeiten von Mehrparteienkoalitionen.
Der Umgang der Ampel-Parteien untereinander mit Durchstecherei, widerstreitender Kommunikation und dem Zurücknehmen getroffener Vereinbarungen hat den Eindruck von Handlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit hinterlassen. Das hat die Leistungen der Ampel in den sprichwörtlichen Schatten gestellt: strukturelle und notwendige Initiativen, Zwischenerfolge und auch gelungenes Krisenmanagement, darunter den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, die Beschleunigung von Klima- und Umweltschutz, die Einhegung der Inflation und vor allem die Verhinderung einer tieferen Wirtschaftskrise infolge des russischenÜberfalls auf die Ukraine durch kurzfristige wirtschaftspolitische Krisenmaßnahmen – einschließlich einer stärkeren Energieunabhängigkeit von Russland und anderen autoritären Staaten. Schon zur Halbzeit hatte die Ampel mehr als die Hälfte ihres ambitionierten Koalitionsvertrages entweder umgesetzt oder auf den Weg gebracht. Kurzum: Progressive können und müssen insgesamt in die ehrliche Analyse gehen und dabei eine gute Fehlerkultur und Lernfähigkeit beweisen.
Ob progressiv oder konservativ: Nach den Jahren der Ambitionslosigkeit und Entpolitisierung während der Großen Koalition und drei Jahren einer gewissen destruktiven Politisierung in der Ampel brauchen wir in Deutschland nun eine konstruktive Politisierung – auch im öffentlichen Diskurs, sodass nicht die extremen Ränder belohnt werden, die den Niedergangsdiskurs befeuern. Wir sehen jetzt schon in Sachsen, wie die Koalitionsverhandlungen der Zukunft in einer zersplitterten Parteienlandschaft aussehen könnten. In diesem Kontext ist die Kompromissbereitschaft aller Demokrat:innen zentral, ohne dass Profile verschwimmen dürfen. Dazu gehört auch, sachlich zu kommunizieren, wenn und warum ein Kompromiss schwierig oder nicht möglich ist – und den Bürger:innen das Nachvollziehen entsprechender Abwägungen von Argumenten zuzutrauen. Auch die Anerkennung von Emotionen wie Wut und Enttäuschung muss Teil der Auseinandersetzung sein, bevor ein konstruktives Angebot gemacht werden kann.
Progressive Politik nach der Ampel wird sich konzeptionell neu aufstellen müssen – programmatisch und auch kommunikativ. Die Notwendigkeit einer ehrlichen Reflexion und Selbstkritik ist dabei gleichzeitig die Chance einer progressiven Neukonsolidierung und der Schaffung einer Vorstellung von Zukunft. Letztlich muss die Gemeinschaft der Demokraten gefestigt werden, um den Autokraten keine Chance zu geben.