Wir leben in unsicheren Zeiten. Wirtschaftliche Schocks, technologische Veränderungen, Pandemien, die Klimakrise und zahlreiche Konflikte tragen erheblich zu einem Gefühl allgemeiner Verunsicherung in westlichen Gesellschaften bei. Diese Unsicherheit scheint ein wichtiger Faktor für die Konsolidierung der politischen Rechten in Europa zu sein – für eine Politik, die auf die Bewahrung von Status quo, Abgrenzung und überholte Weltbilder setzt. In den vergangenen Jahren haben wir gesehen, wie insbesondere die populistische Rechte in Deutschland und vielen anderen Ländern Frust und Spannungen in der Gesellschaft nutzt, um unechte Konflikte auszufechten – kulturelle Differenzen, die problematisiert werden, indem einzelne Gruppen zu Sündenböcken oder Feindbildern stilisiert werden.
Für Progressive, deren politische Mission auf Fortschritt, Optimismus und den Glauben an die Kraft gemeinschaftlicher Anstrengungen setzt, stellt all das eine große Herausforderung dar. Ihre politischen Antworten auf Krieg, Wirtschaft, soziale Not und die Klimakrise basieren auf liberalen Werten – und sie versuchen nicht, Frustration und Unsicherheit durch einfache Botschaften, Stilisierung und Ausgrenzung ein Ventil zu geben. Auch progressive Politik kennt Antworten auf Unsicherheit – Antworten, die andere Schwerpunkte setzen als die der Rechtspopulisten und auch weite Teile des konservativen Mainstreams. Die Ursachenanalyse ist eine andere. Sie beginnt damit, dass die Instabilität weniger in den Verbindungen zwischen Individuen, Klassen und Nationen als vielmehr in den Unzulänglichkeiten in der Konstruktion dieser Verbindungen liegt – oder in den Unzulänglichkeiten im Umgang mit ihnen. Sie konzentriert sich auf die eigentlichen Ursachen der Unsicherheit statt nur auf ihre unmittelbaren Erscheinungsformen.
Welche Antworten hat progressive Politik auf die Ursachen von Unsicherheit?
„Cooperation“: Stärkere Zusammenarbeit über konfessionelle und nationale Grenzen hinweg
Natürlich müssen sich nationale Regierungen auf ihre nationalen Interessen konzentrieren. Aber in einer Zeit, in der die Ursachen von Unsicherheit – von destabilisierenden Finanzströmen, Geldwäsche und der Bedrohung durch Terrorismus bis hin zu Pandemien, unkontrollierbaren Technologien und der Klimakrise – auf globaler Ebene wirken, liegt es auch im nationalen Interesse von Regierungen, ambitioniert miteinander zu kooperieren und ihre Anstrengungen mit Inklusion und demokratischen Werten in Einklang bringen.
„Cohesion“: Stärkerer Zusammenhalt für eine widerstandsfähigere Wirtschaft und Gesellschaft
Eine Politik des „die und wir“ bzw. „die gegen uns“ trägt zur Verschärfung von Polarisierung und Ungleichheiten bei, die wiederum zum Stresstest für demokratische Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden. So konstatieren diverse Untersuchungen beispielsweise einen engen Zusammenhang zwischen materieller Ungleichheit und der Zunahme von Gewalt und Kriminalität. Zusammenhalt trägt aber auch zum subjektiven Sicherheitsempfinden der Menschen bei, das abhängig ist von ihrem Zugehörigkeits- und Selbstwertgefühl und damit von ihrer sozialen Integration – ureigens ein progressives Projekt.
„Capacity Building“: Die Fähigkeit zur kollektiven Bewältigung von Krisen
Unsere Gesellschaften können keine Sicherheit bieten, wenn sie sich selbst ihrer institutionellen und finanziellen Kapazitäten berauben. Die Krisen der vergangenen Jahre – die Pandemie, die Klimakrise, der illegale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine – haben uns den Wert handlungs- und widerstandsfähiger Staaten, Lieferketten und Zivilgesellschaften in einer Art und Weise vor Augen geführt, die den betagten Laissez-faire-Annahmen über den Wert kleinstaatlicher, kurzfristiger Effizienz deutlicher kaum entgegenstehen könnte. Progressive Sicherheit bedeutet also auch, die staatliche Widerstandsfähigkeit und Handlungsfähigkeit zu stärken – zum Beispiel, indem investitionshemmende Maßnahmen wie die deutsche Schuldenbremse und der Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU in seiner jetzigen Form überdacht werden.
Ein Plädoyer für progressive Sicherheit
In ihrem Konzept-Papier, das der deutsch-britische Publizist Jeremy Cliffe und Florian Ranft, Mitglied der Geschäftsleitung des Progressiven Zentrums, anlässlich des Progressive Governance Summit 2024 verfasst haben, gehen sie der Frage nach, was Progressive dem weit verbreiteten Gefühl der Unsicherheit in unseren Gesellschaften entgegensetzen können. Ihre Conclusio: Progressive Akteure sollen weiterhin und beherzt den Status quo in Frage stellen, um eine bessere Gesellschaft inmitten einer neuen Realität militärischer Bedrohungen und der damit verbundenen schwierigen innenpolitischen Entscheidungen zu erreichen. Progressive Sicherheit geht ihrem Verständnis nach aber weit über Sicherheit im militärischen Sinne hinaus. Sie ist sowohl schützend als auch emanzipatorisch und nicht nur eine Mauer, die Bedrohungen externalisiert; sie ist auch ein Hügel, auf dem Fähigkeiten konvergieren können, um diese Bedrohungen langfristig zu reduzieren.
Lesen Sie auch die Gastbeiträge zum Progressiven Sicherheit-Ansatz bei Table.Media (hier auch ohne Anmeldeschranke) und im The Guardian.
“Eine neue Antwort auf Sicherheitsfragen zu finden ist DIE Herausforderung unserer Zeit”
Im Rahmen der Opening Session des Progressive Governance Summit 2024 diskutierten Ende Juni 2024 in Berlin Jeremy Cliffe und Cathryn Clüver Ashbrook, Executive Vice President der Bertelsmann Stiftung, die Frage, wie wir aus der Poly-Krise hinaus zu einem umfassenden, inklusiv gedachten Sicherheitsverständnis gelangen können, das auf globaler, lokaler und auch persönlicher Ebene Antworten gibt auf die drängenden Sicherheitsfragen unserer Zeit.
“Wider die politische Depression!”
Unser Land braucht einen Aufbruch aus Pessimismus und Negativität, sagt Robert Misik in seinem Beitrag für ZackZack. “Mitte-Links-Parteien müssen das Bedürfnis nach Sicherheit in Rechnung stellen und auch die Tatsache, dass gesellschaftlicher Wandel auch zu schnell und überfordernd sein kann” – ohne sich zu Sprachrohren von Kleingeistigkeit, Konformismus und Konservatismus zu machen.