Transformierter Sozialstaat: Umwelt- und Sozialpolitik zusammen denken

Ein Beitrag für Progressives Regieren 2020plus von Tanja Klenk

In einer gerechten Gesellschaft müssen Fragen der Klimapolitik und der Sozialpolitik zusammen gedacht werden, schreibt Tanja Klenk, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Das Progressive Zentrum. Damit klimapolitische Entscheidungen und deren Konsequenzen nicht auf die unteren Einkommensschichten der Gesellschaft abgewelzt werden, muss der Staat aktiv werden.

Die Frage nach einer gerechten Gesellschaft ist von unveränderter Brisanz. Eine öffentlichkeitswirksame Mobilisierungswirkung entfacht diese Frage heute aber nicht mehr im Bereich der Sozialpolitik, sondern in der Umweltpolitik. Die Fridays for Future-Bewegung, eine der gegenwärtig wahrscheinlich größten Jugendprotestbewegungen, formuliert die Gerechtigkeitsfrage im Rahmen der Generationengerechtigkeit. Kritisiert wird sowohl der Lebensstil der älteren Generationen in den westlichen Demokratien, als auch die Untätigkeit der Politik im Bereich der Umwelt- und Klimapolitik – durch beides sieht die jüngere Generation ihre Lebensgrundlagen gefährdet. 


Dies ist ein Beitrag für den Blog „Progressives Regieren 2020plus“. In diesem setzen AutorInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und politischer Praxis Impulse für eine progressive Regierungsagenda ab 2020 und darüber hinaus. 


Keiner der drei Parteien der Großen Koalition gelingt es, Anschluss an die Jugendprotestbewegung zu finden. Besondere Herausforderungen resultieren daraus vor allem für die SPD, die eigentlich die Partei für Gerechtigkeitsfragen ist. Mit Blick auf eine progressive Politik sind vor allem drei Beobachtungen relevant: die politische Prioritätensetzung, die politische Kommunikation und das zukünftige Leitbild für den Wohlfahrtsstaat: 

1. Politische Prioritätensetzung

In der breiten gesellschaftlichen Debatte werden die ökologische und die soziale Gerechtigkeitsfrage als Zielsetzungen wahrgenommen, die miteinander nicht zu vereinen sind. Die Konflikte zwischen den beiden Politikfeldern manifestieren sich dabei in ganz unterschiedlichen Bereichen: 

  • beim Braunkohleausstieg werden von der Sozialstaats-Fraktion vor allem die negativen Effekte für den Arbeitsmarkt gesehen;
  • bei der Förderung regenerativer Energiequellen werden vor allem die gestiegenen Energiekosten wahrgenommen, durch die neue Prekaritätslagen (Energiearmut) geschaffen werden; 
  • die energetische Gebäudesanierung hat ebenfalls negative Effekte für die klassische Sozialstaatsklientel, führt sie doch zu steigenden Mieten, insbesondere in den Metropolregionen, in denen sozialer Wohnungsraum ohnehin knapp ist;
  • auch bei der Förderung einer ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft werden sozialpolitische Nachteile gesehen, etwa steigende finanzielle Belastungen für sozial schwache Bevölkerungsschichten, die sich Lebensmittel aus dem Bioladen nicht leisten können. 

Kurzum: in der Wahrnehmung vieler zieht die Förderung umwelt- und klimapolitischer Zielsetzungen sozialpolitische Folgekosten nach sich. Umwelt- und Klimaschutzpolitik, so die weitverbreitete Auffassung, lassen neue soziale Verlierer entstehen bzw. stellen eine überproportionale Belastung für Personen dar, die bereits heute am unteren Rand der Gesellschaft stehen.
Ausgehend von der Annahme, dass man sich zwischen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit eindeutig entscheiden muss und nicht beide Ziele gleichermaßen verfolgen kann, betont die SPD ihren tradierten Markenkern, die soziale Gerechtigkeit – kappt dadurch aber auch mögliche Anschlüsse an die Fridays-for-Future-Bewegung.

2. Politische Kommunikation

Der großen Koalition (und der SPD insbesondere) gelingt es zudem nicht, die vereinbarten sozialpolitischen Schutzmaßnahmen der Energiewende positiv zu kommunizieren. Das prägnanteste Beispiel ist hier sicherlich wieder der Braunkohleausstieg. Obwohl erhebliche Anstrengungen unternommen wurden, den Braunkohleausstieg sozialpolitisch abzusichern, trägt der Kompromiss eher zur weiteren Spaltung der Gesellschaft bei.

Vor allem für die SPD ist dies eine schmerzvolle Erfahrung: sie verliert weitere AnhängerInnen aus ihrem klassischen Klientel, kann sich aber auch keine neuen Wählergruppen erschließen. Aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Bedenken gilt sie bei der jüngeren Generation eher als eine Partei, die den Umweltschutz verhindern will. Daher schafft sie es nicht, den kommunikativen Graben zur neuen Jugendbewegung Fridays-for-Future zu schließen. Überhaupt fällt auf, dass der SPD ein positiv besetztes Leitmotiv für den sozial und ökologisch nachhaltigen Umbau der Gesellschaft fehlt. Während es Willy Brandt im Kontext der ersten Kohlekrise 1957 gelungen war, mit der Erklärung zum ‚Blauen Himmel über der Ruhr‘ ein Aufbruchssignal zu geben und positive Impulse zu setzen, scheint eine solche übergeordnete Idee, ein Zukunftsszenario heute zu fehlen. 

3. Transformation des Sozialstaats: Was kommt nach dem Sozialversicherungsstaat?

Ein neues Leitbild fehlt auch bei der Transformation des Sozialstaats. Zwar ist der Einstieg in eine vorbeugende Sozialpolitik gelungen, aber der Wandel wird nicht mit Konsequenz zu Ende gedacht. Gerade beim Zusammenprall von umwelt- und sozialpolitischen Zielsetzungen bricht auch der Konflikt zwischen alten (Arbeit, Alter, Armut) und neuen (zukünftige Lebensgrundlagen) gesellschaftlichen Risiken wieder auf. 

Was folgt aus dieser Diagnose für die Gestaltung einer progressiven Regierungspolitik?

Eine progressive Regierungspolitik sollte die Schnittstellen zwischen Umwelt- bzw. Energiepolitik einerseits und Sozialpolitik andererseits aktiv adressieren und dabei vor allem die Synergieeffekte zwischen Umwelt- und Sozialpolitik herausarbeiten. 

Bislang wurden Reformen in den beiden Politikfeldern nicht integriert gedacht. Vielmehr wurden negative soziale Effekte von umweltpolitischen Maßnahmen, wenn überhaupt, nachholend sozialpolitisch geheilt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat in seinen Gutachten vielfach Vorschläge für eine integrative, sozialpolitisch flankierte Umwelt- und Klimapolitik gemacht, die prinzipiell mit dem Koalitionsvertrag vereinbar sind, aber bislang nicht konsequent aufgegriffen wurden.

Vorgeschlagen wurde u. a. die Einführung eines Klimabonus bzw. einer Energiekosten-Komponente bei der Grundsicherung, beim Wohngeld und bei der Ermittlung der Unterkunftskosten. Der, sich im parlamentarischen Prozess befindende, Entwurf für ein Wohngeldstärkungsgesetz sieht tatsächlich eine Klimakomponente vor – aber diese wird medial nicht kommuniziert.

Des Weiteren sollte, so der Sachverständigenrat für Umweltfragen, beim Mietrecht strikter zwischen energetischer und wohnwertsteigernder Sanierung unterschieden werden und die Umlagemöglichkeiten für allgemeine Modernisierungsinvestitionen deutlich begrenzt werden, um so den drastischen Anstieg von Mietpreisen nach Modernisierungsmaßnahmen zu regulieren. 

In einer progressiven Regierungspolitik kommt der Sozialpolitik aber keineswegs nur die Funktion zu, die sozialen Folgeschäden der Umwelt- und Klimapolitik zu heilen. Ein transformierter Sozialstaat kann vielmehr auch ein Treiber der ökologischen Wende sein. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein erneuertes Verständnis von Sozialpolitik, deren Grundpfeiler nicht nur aus dem Versicherungsschutz der klassischen sozialen Risiken bestehen darf, sondern auch investive und präventive Aspekte umfasst. Neben den klassischen Feldern der Sozialpolitik (die weiterhin Bedeutung haben) werden auch die Bereiche gesundheitliche Prävention, Ernährung, Bildung, Wohnungs- und Städtebau (‚green and healthy cities‘) zu wichtigen Handlungsfeldern der Sozialpolitik.

Autorin

Prof. Dr. Tanja Klenk

Wissenschaftlicher Beirat
Tanja Klenk ist Professorin für Verwaltungswissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Der organisationale und institutionelle Wandel im öffentlichen Sektor steht im Zentrum ihrer Forschung. Frühere berufliche Stationen führten Tanja Klenk nach Speyer, Potsdam und Kassel.

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