Sind die Grenzen der Nation das Ende der EU?

Wir erleben eine massive Instrumentalisierung europäischer Herausforderungen für nationale Profilierung

Unser Project Manager Manuel Gath, seit Kurzem Landesvorsitzender der JEF Hessen, sorgt sich um den Zustand Europas, das durch nationale Egoismen und unilateralen Aktivismus in der Flüchtlingskrise zusätzlich herausgefordert wird. Er skizziert einen gemeinsamen Weg, der jedoch Vertrauen und Verständnis auf allen Seiten voraussetzt.

Wo sind all die Europäer hin? Die Griechin Amanda Michalopoulou schrieb Ende 2015 in einem APuZ-Essay, dass frei nach Milan Kundera diejenigen Europäer seien, die Sehnsucht nach Europa hätten. Unter dieser Prämisse seien die Flüchtlinge, die derzeit Zuflucht, Schutz und Hoffnung in Europa suchen europäischer als all jene hier lebenden Menschen. Viele hier lebende Menschen, so scheint es, haben den Traum von Europa in Zuge multipler Krisen allzu leichtfertig aufgegeben. Hasserfüllte Kommentare, ob analog oder digital: Der Ton in Deutschland wird rauer, die Distanz zu den „europäischen Werten“ scheinbar größer. Immer häufiger manifestiert sich rhetorische Aggression in physischer Gewalt, seien es körperliche Angriffe oder Brandanschläge auf Schutzsuchende.

Blicken wir der Realität ins Auge: Europa wird auf absehbare Zeit ein Einwanderungskontinent bleiben. Wir stehen nicht nur national vor einer Herausforderung, wir stehen europaweit vor einem politischen und gesellschaftlichen Kraftakt. Es ist wahrscheinlich, dass sich die aggressive Situation erst dann wieder beruhigen wird, wenn vielen Menschen ihre Angst genommen wird. Die Angst vor Kontrollverlust, vor einer schlicht ungewissen Entwicklungsrichtung. Das aber wird erst der Fall sein, wenn eine gesamteuropäische Lösung der Migrationsproblematik gefunden ist. Wenn nicht nur vermittelt wird, dass irgendjemand irgendetwas tut – wie im Fall des aktuellen nationalen Grenzamoks –, sondern wenn wirklich nachhaltig und gemeinsam gehandelt wird.

Die Grenzen der Vernunft?

Selten jedoch lagen Anspruch und Wirklichkeit weiter auseinander. Wir erleben eine massive Instrumentalisierung europäischer Herausforderungen für nationale Profilierung. Anstatt sich aber auf EU-Ebene mit konstruktiven Lösungsvorschlägen hervorzutun, ziehen es immer mehr Regierungen vor, das altbekannte „blame game“ auf Brüsseler Parkett zu spielen. Ausgerechnet an der Grenzfrage, dem größten politischen Fortschritt der letzten Dekaden, droht das Einigungsprojekt zu zerbrechen. Als Katalysator mag der der aktuelle Flüchtlingszustrom dienen, aber es sind erneut nationale Egoismen, die unsere Zukunft aufs Spiel setzen. Man mag den ein oder anderen europäischen Regierungschef rütteln und ihm zurufen „Komm doch zur Vernunft, wir müssen da gemeinsam durch!“ Man stellt aber auch fest, dass nur noch wenige EU-Partner Verständnis für die deutsche Position haben. Das ist bei weitem nicht nur, aber vielleicht auch ein Ergebnis mangelnden Verständnisses von deutscher Seite gegenüber deren Positionen in der Vergangenheit. Im Ergebnis bedeutet dies, dass gemeinsame Lösungen mehr denn je im kleinsten gemeinsamen Vielfachen gefunden werden müssen.

Verantwortung gemeinsam wahrnehmen

Die Kommission hat mit der Einrichtung von Registrierungs-Hot-Spots in Südeuropa bereits einen wichtigen Schritt getan. Flankiert werden muss diese Maßnahme aber von einem Ausbau eines europäischen Grenzschutzes, der wohlgemerkt nicht nur die EU-Außengrenzen, sondern auch die Schutzsuchenden schützt. Dazu gehört ein starkes Frontex-Mandat in den Bereichen Seenotrettung, Schlepperbekämpfung und Notversorgung. Das alles klingt sehr nach „Festung Europa“, deshalb muss der Grenzsicherung ein gemeinschaftliches Asylsteuerungssystem mit klaren, auf europäischer Ebene geltenden Regeln zur Seite gestellt werden. Man kann nicht von illegaler Einwanderung sprechen, ohne legale Wege bereitzustellen. Mittelfristig kommen wir also um europäische Aufnahmequoten für Asylsuchende nicht herum. Ein unliebsamer Kompromiss wird es dann sein müssen, nationale Interessen bei der Verteilung im Zweifel den Wünschen der Asylsuchenden vorzuziehen. Dieses Asyl sollte im besten Falle in den Botschaften und EU-Auslandsvertretungen vor Ort beantragt werden. Zur Koordinierung und Ablösung der unpraktikablen Dublin-Regelung fordert die JEF schon seit Jahren die Einrichtung einer richtigen europäischen Asylbehörde. Bislang profitieren nämlich nur diejenigen vom Grundrecht, die tatsächlich unsere Grenze erreichen. Dieses „survival of the fittest“ widerspricht ebenso europäischen Werten. Überwunden werden muss dafür freilich der nationale Reflex, Grenzsteuerung sei nationales Hoheitsgebiet. Die aktuelle Situation zeigt: das Gegenteil ist der Fall.

Mauern einreißen – auf dem Boden und in den Köpfen

Wir dürfen schlussendlich nicht zulassen, dass die geistige Begrenztheit einiger Weniger weiterhin ihre Übersetzung in tatsächliche (Binnen)Grenzen findet. Mauern auf dem Boden sorgen wieder für Mauern in den Köpfen. Abgesehen davon, dass Grenzschließungen schier riesige ökonomische Nachteile nach sich ziehen. Wie schnell es zu massiven Verzögerungen an Grenzen kommt, konnten viele JEFer und Pendler beim Protestmarsch von Perl nach Schengen mit eigenen Augen sehen. Wir müssen mit allen demokratischen gesellschaftlichen Gruppen dafür kämpfen, dass genau das Gegenteil geschieht. Die EU muss dazu genutzt werden, europaweit Handlungsfähigkeit und Problemlösungswillen zu demonstrieren. Vielleicht wird so ja langfristig aus dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen irgendwann ein größter gemeinsamer Teiler und wir fragen uns „Wo kommen all die Europäer her?“. Es wäre ein Grund zu grenzenloser Freude – im wahrhaftigsten Sinne.


Dieser Meinungsbeitrag wurde zuerst auf treffpunkteuropa.de veröffentlicht.

Autor

Louisa unterstützte das Progressive Zentrum als Praktikantin im Bereich strategische Kommunikation. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geschwister-Scholl-Institut in München und Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. 

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