Thema verfehlt? Soziale Gerechtigkeit zurück auf die Agenda!

Nach der Bundestagswahl fragen sich viele, wie es politisch weitergeht. Dominic Afscharian, Louisa Bayerlein und Mansour Aalam vom Zentrum für neue Sozialpolitik und Wolfgang Schroeder, Vorsitzender von Das Progressive Zentrum, werfen gemeinsam einen Blick auf aktuelle Umfragedaten und zeigen auf, wie eine mögliche schwarz-rote Bundesregierung einen sozialpolitischen Konsens finden kann.

Es war ein hartes Erwachen am Tag nach der Bundestagswahl – insbesondere für die Parteien der Mitte. Die Gründe für diese Ergebnisse sind vielfältig und dürften in den kommenden Wochen und Monaten aufgearbeitet werden. Mit Blick auf die Umfragen zur Wahl gibt es aber jetzt schon einen politisch weitgehend ignorierten Elefanten im Raum: die soziale Gerechtigkeit. Angesichts von Abschiedungsrhetorik und Sanktionsdrohungen entstand im Wahlkampf ein politisches Vakuum; die soziale Gerechtigkeit geriet in einen toten Winkel. Eine derzeit wahrscheinliche Koalition aus Union und SPD hat jedoch die Chance, das Thema zurück auf die Agenda zu bringen – und sie hat gute Gründe, dies zu tun. Im ihrem Paper “Thema verfehlt? Soziale Gerechtigkeit zurück auf die Agenda!” zeigen die Autor:innen auf, wie eine mögliche schwarz rote Bundesregierung einen sozialpolitischen Konsens finden kann.

Verhallte Rufe nach sozialer Gerechtigkeit

Ein Blick auf die Erwartungen und Einstellungen der Bevölkerung vor der Regierungsbildung zeigt, dass eine schwarz-rote Koalition gut beraten wäre, soziale Gerechtigkeit zu priorisieren:

  • Bei der Frage, welches Thema für die Wahlentscheidung der Deutschen entscheidend war, standen – trotz des migrations- und wirtschaftspolitisch geprägten Wahlkampfes – soziale Gerechtigkeit und Sicherheit weit oben. Insbesondere jüngere, urbane Wähler:innen, die soziale Sicherheit priorisierten, wichen auf die Linkspartei aus. Ihren Erfolg auf TikTok zu reduzieren, greift deutlich zu kurz – für viele Wähler:innen ist ein klares sozialpolitisches Angebot von herausragender Bedeutung.
  • Die präsentierten Umfragedaten zeigen, dass die Bürger:innen den Glauben an einige fundamentale Versprechen der sozialen Marktwirtschaft verloren haben. Demnach sind drei Viertel der Deutschen der Ansicht, das Elternhaus entscheide zu oft über die Chancen, die man im Leben hat; zwei Drittel glauben zudem, es sei inzwischen kaum noch möglich, sich aus eigener Kraft ein Vermögen aufzubauen.
  • Auch das Gerechtigkeitsempfinden ist in den turbulenten vergangenen Jahren erodiert und soziale Abstiegssorgen haben zugenommen.
  • Mehr als die Hälfte macht sich zudem große Sorgen, dass sie ihre Rechnungen in Zukunft nicht mehr bezahlen können.

Sozialpolitische Schnittmengen zwischen Union und SPD

Auf den ersten Blick dürfte die Aussicht auf eine weitere schwarz-rote Bundesregierung einige beunruhigen, schließlich gab es in der Vergangenheit viel Dissens zwischen beiden Seiten. Trotzdem und auch trotz der Einseitigkeit und Härte des Wahlkampfs vereinen Union und SPD vor dem Hintergrund der präsentierten Umfragedaten einige Interessen, die für eine starke Sozialpolitik sprechen. Diese Gemeinsamkeiten verteilen sich auf drei miteinander verwobene Bereiche:

  • Chancengerechtigkeit: Sozialdemokratische Gerechtigkeitsideale und der Fokus auf wirtschaftliche Leistung der Union teilen die Grundannahme, dass alle Menschen zunächst einmal die Chance haben, es im Leben zu etwas zu bringen. Entsteht allerdings der Eindruck einer Lotterie der Geburt, dann trifft ebendiese Prämisse nicht mehr zu.
  • Leistungsgedanke und Aufstiegsversprechen: Sowohl die sozialdemokratische Arbeitsethik, als auch der Ruf der Union, Arbeit solle sich wieder lohnen, stehen im Konflikt mit dem von zwei Dritteln der Deutschen geteilten Eindruck, ein Vermögensaufbau aus eigener Kraft sei kaum noch möglich. Gerade der Fokus der CDU auf „ein neues Wohlstandsversprechen“ (CDU 2025) dürfte eine starke Basis dafür bilden, dass eine schwarz-rote Koalition den sozialen Aufstieg in den Blick nimmt.
  • Stärkung der Mitte der Gesellschaft: Sei es die „arbeitende Mitte“ bei der Sozialdemokratie oder die Mittelschicht bei der CDU: Für beide Parteien muss es ein zentrales Anliegen sein, einen Sozialstaat zu schaffen, der auch über reine Notfallabsicherung hinaus Bestand hat, denn wie unsere Umfragedaten nahelegen, hat sich sozialpolitische Unzufriedenheit bis weit in mittlere und höhere Einkommensschichten ausgebreitet.

Autor:innen

Dominic Afscharian bringt seine Forschungserfahrung und sein Methodenwissen in die Projektarbeit im Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat ein. Darüber hinaus lässt er sein Gespür für wissenschaftliche Trends und Innovationen in die Konzeption neuer Projekte einfließen und trägt zu einem erfolgreichen Transfer von Forschungsergebnissen in unsere Kommunikationsformate bei.
Louisa Bayerlein befasst sich im Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat mit Fragestellungen der Sozialpolitik. Neben der Analyse und Bewertung aktueller Entwicklungen in Politik und Wissenschaft erarbeitet sie Stellungnahmen und Briefings auf Basis der Projekte des Bereichs.

Mansour Aalam

Direktor, Zentrum für neue Sozialpolitik
Mansour Aalam ist seit 2017 Direktor des Zentrums für neue Sozialpolitik. In dieser Position hat er sich der Gestaltung zukunftsfähiger Sozialsysteme verschrieben und insbesondere der Frage, wie Institutionen und Politikmaßnahmen gestaltet sein müssen, damit sie das Leben der Menschen nachhaltig verbessern können.
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder ist Vorsitzender des Progressiven Zentrums. Er hat den Lehrstuhl „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Kassel inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Verbände und Gewerkschaften.
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