Politik muss den Rahmen verändern, nicht das Bild

Ein Interview mit Hanno Burmester und Clemens Holtmann

In ihrem neuen Buch “Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt” entwerfen Hanno Burmester und Clemens Holtmann das Idealbild einer transformativen Partei. Im Interview erklären die beiden Autoren, warum sich etablierte Parteien mit Reformen schwer tun und warum neue Parteien keine Bedrohung sondern Voraussetzung für eine stabile politische Landschaft sind.


Das Progressive Zentrum (DPZ): Otto von Bismarck, Willy Brandt, Angela Merkel – diese drei sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten verbindet, dass sie allesamt eine Politik der kleinen Schritte prägten. Der Ausgangspunkt Eures Buches ist, dass ebendieser Politikstil den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht wird. Warum ist die “Politik der kleinen Schritte” Eurer Einschätzung nach nicht mehr zeitgemäß?

Hanno Burmester: Mein Geschichtsstudium liegt schon eine Weile zurück. Aber Brandt und Bismarck in einen Topf mit Angela Merkel zu rühren, finde ich ziemlich gewagt. Beispiel Willy Brandt: Er hat bewusst mit den bisherigen außenpolitischen Grundannahmen gebrochen. So hat er den Rahmen dessen, was Politik sein kann, verschoben – und dadurch eine ganz andere politische Dynamik ermöglicht, als es jemandem möglich gewesen wäre, der den Rahmen einfach als gesetzt akzeptiert hätte. Das ist eine gestalterische Grundhaltung, die ich bei Angela Merkel wirklich nicht erkennen kann. 

„Politik muss radikal neu denken, nach welchen Grundregeln Wirtschaft, Politik und Gesellschaft funktionieren.“

Den Rahmen in Frage stellen und das gestalterische, grundsätzliche Potenzial von Politik wieder entdecken: Das brauchen wir jetzt dringend. Die Klimakrise, die tiefe globale soziale Spaltung und die Erosion der demokratischen Spielregeln drängen uns, die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens neu zu definieren. Politik muss radikal neu denken, nach welchen Grundregeln Wirtschaft, Politik und Gesellschaft funktionieren.

Welcher Politikstil könnte die “Politik der kleinen Schritte” ersetzen und gibt es Aspekte dieses Stils, die gar nicht ersetzt werden sondern bestehen bleiben sollten?

Clemens Holtmann: Ein Stil, den wir im Buch „transformative Politik“ nennen. Politik, die lediglich über Details diskutieren will, aber den grundsätzlichen Rahmen ignoriert, ist zum Scheitern verurteilt. Warum? Weil viele Probleme tief in unseren Systemen verankert sind. Das Recht zur unbegrenzten Produktion und zum unbegrenzten Konsum, der im 20. Jahrhundert etablierte Lebensstil, die bestehenden Eigentumsverhältnisse – all das gilt in der heutigen Politik als gesetzt und undiskutierbar. Transformative Politik reflektiert solche Setzungen und steuert um, wo es sinnvoll ist.

Dabei muss sie äußerst differenziert vorgehen, sonst landet sie im Populismus. Transformative Politik muss also immer auch Einblicke in verschiedenste Lebensrealitäten haben, zuhören und Einwände beurteilen und abwägen können. Diese Differenzierung könnte ein Aspekt der „Politik der kleinen Schritte“ sein, der bewahrenswert ist. Wir glauben aber, es geht beides: transformative und differenzierte Politik.

„Kluge, detailbewusste Regulierung wird es weiterhin brauchen. Es geht um das Nebeneinander von transformativ und schrittweise.“

Burmester: Dazu gilt übrigens: Kluge, detailbewusste Regulierung wird es weiterhin brauchen. Es geht um das Nebeneinander von transformativ und schrittweise.

Lasst uns über das zentrale Thema Eures Buches sprechen: Parteien. Der Demokratieforscher Wolfgang Merkel hat die aktuelle Lage der Volksparteien einmal wie folgt beschrieben: „In dem historischen Moment der Heterogenisierung, in dem die Volksparteien als politische Brückenbauer benötigt würden, befinden sich diese aus eben jenem Grunde im Niedergang.“ Wie müssen sich die Volksparteien verändern, um wieder zu alter Stärke zu gelangen?

Burmester: Als Gesellschaft sind wir ein hochkomplexes, dynamisches soziales System. Gerade verschiebt sich der Boden, auf dem wir stehen. Das hat unmittelbare, teils massive Auswirkungen auf jeden Menschen. Ich glaube nicht, dass wir in dieser Situation klug beraten sind, unser Heil in der Restauration zu suchen. Schließlich ist die Krise, in der wir uns befinden, an vielen Stellen überhaupt erst möglich geworden durch die Politik der Volksparteien in den vergangenen Jahrzehnten.

Ja, wir brauchen Brückenbauer. Aber wer sagt, dass das die Volksparteien des vergangenen Jahrhunderts sein werden? Aktuell gelingt ihnen diese Aufgabe jedenfalls nicht. Jetzt ist die Frage: warten wir, ob es noch was wird, oder weiten wir den Blick auf andere Akteur:innen? 

Woran scheitern die Reformversuche, die es beispielsweise seitens der SPD immer wieder gab, aus Eurer Sicht? Wieso seid ihr Euch so sicher, dass bestehende Parteien nicht reformierbar sind?

Burmester: Parteien sind reformierbar, wie jede andere Organisation auch. Aber für sie gilt eben auch: Sie müssen es wollen. Und daran hapert es aktuell. So sehr ich es bedaure: Ich erkenne bei den maßgeblichen Akteur:innen nicht die Bereitschaft, etwas Grundlegendes zu verändern.

Es herrscht nach wie vor der Glaube vor, dass es mit kleinen organisatorischen Veränderungen getan ist. Und das bei einer sehr alten, meist strukturkonservativen Mitgliederstruktur. Diese Kombination führt mich dazu, hier deutlich pessimistischer zu sein als vor einigen Jahren. 

„Parteien sind reformierbar, wie jede andere Organisation auch. Aber für sie gilt eben auch: sie müssen es wollen.

Ich habe 2014 ein Projekt geleitet, das sich damit beschäftigt hat, wie bestehende Parteien sich wirksamer erneuern können. Schon damals war die Kluft zwischen gesellschaftlichem Anspruch und politischem Angebot enorm groß. Seitdem hat sich in den Parteien zwar manches bewegt – aber der gesellschaftliche Wandel war noch schneller. Die Kluft zwischen Lebenswirklichkeit und Parteiwirklichkeit ist in der Summe viel größer geworden, nicht kleiner! 

In Eurem Buch sprecht ihr der transformativen Partei, die es noch nicht gibt, eine Liebeserklärung aus. Was zeichnet diese Partei aus und was unterscheidet sie im Kern von den etablierten Parteien? 

Holtmann: Zuallererst ihr Selbstverständnis. Im Unterschied zu klassischen Parteien wissen transformative Parteien sehr genau, warum es sie überhaupt gibt. Oder anders gesagt: Sie kennen ihren Daseinszweck. Ein solcher Daseinszweck ist wichtig, denn er hilft, den Unterschied zwischen dem Opportunen und dem Richtigen zu erkennen. Er ist der Nordstern, der eine Partei leitet.

Darüber hinaus wenden sich transformative Parteien ab von einer Politik der Trippelschritte und des mutlosen Inkrementalismus. Zumindest den Grünen und der Linken würde ich zuschreiben, dass sie ihren Daseinszweck nicht verloren haben. Aber ihre Antworten sind verzagt und angesichts der Größe der Herausforderungen nicht ausreichend. Ein höherer Mindestlohn etwa ist gut und richtig – löst aber nicht das Problem der extremen Ungleichheit. Statt den Ursprung anzugehen, doktern sie lediglich an Symptomen herum. Wie Hanno gesagt hat: Es geht um die grundsätzliche Umgestaltung des Rahmens.

Mit den bisherigen Strukturen und Prozessen kann das nicht gelingen. Wir schlagen deshalb zum Beispiel vor, dass sich Parteien europäisch organisieren. Und auch das Verständnis von Führung und Demokratie muss sich verändern, damit transformative Politik gelingen kann.



Woran liegt es, dass es die “transformative Partei” noch nicht gibt? Und gibt es internationale Beispiele, die Eurem Idealbild oder zumindest Aspekten davon nahekommen? 

Holtmann: Weil es wahnsinnig anspruchsvoll ist, Organisationen mit zehn-, manchmal hunderttausenden Mitgliedern grundlegend zu verändern. Ebenso das Gründen und Hochziehen neuer Parteien – Zeitpunkt, Thema und Personen müssen passen, damit eine neue Partei Erfolg haben kann. Trotzdem gibt es in der Tat einige neue Parteien, die bereits Aspekte umsetzen, die wir im Buch beschreiben: die europäischen Partei-Bewegungs-Hybride DiEM25 und Volt etwa, die Lokalpartei Barcelona en Comú oder die dänische Partei Alternativet.

In Frankreich ist es mit La République en Marche zu einer sehr erfolgreichen Parteigründung gekommen; die Parteienlandschaft hat sich in der Folge massiv verändert. Heute sind die alten Volksparteien an den Rand gedrängt, das Parteiengefüge wirkt instabil, die Koalitionsbildung gestaltet sich immer schwieriger. Wie begegnet ihr KritikerInnen, die befürchten, dass Parteineugründungen in Deutschland ähnliche Konsequenzen mit sich bringen?

Burmester: Mit der Aussage, dass es doch genau darum geht: das politische System in Bewegung bringen. Den Wettbewerb der Gestaltungsideen und Politikansätze positiv befeuern. Unsere Welt verändert sich rasant, wir warten seit Jahren auf angemessene politische Antworten der etablierten Parteien. Den Wunsch, dass politisch alles so bleiben soll, wie es ist, kann ich nicht nachvollziehen. 

Trotzdem ist klar: Wir haben kein Interesse an wackeligen Regierungen und hoher politischer Instabilität. Aber das ist doch primär eine Frage der politischen Kultur – sie entscheidet darüber, wie gesprächsfähig demokratische Parteien schlussendlich sind. Ebenso wichtig: Wir müssen dringend unsere parlamentarischen Institutionen klug umbauen, so dass sie eine größere Zahl von Fraktionen gut halten können. Und so, dass sie Zusammenarbeit befördern anstatt – wie heute – die andauernde, unproduktive Konfrontation zwischen den Fraktionen.

Holtmann: Ich würde auch sagen, dass die politische Instabilität in vielen europäischen Ländern vor allem durch die zahlreichen Konfliktlinien entstanden ist, die sich durch die klassischen Parteien ziehen. Um auf Frankreich zurückzukommen: La République en Marche war letztlich die Ausdifferenzierung zweier Strömungen, die schon lange in der Parti Socialiste miteinander in Konkurrenz standen – eine linke, nationalstaatlich orientierte auf der einen, und eine neoliberale, stark europäische Strömung auf der anderen Seite. Emmanuel Macron und, nicht zu vergessen, Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei La France insoumise, haben beiden Richtungen ein neues Zuhause gegeben. In der Folge wurde die Parti Socialiste überflüssig.

Eine solche Ausdifferenzierung bringt Veränderung, klar, denn durch sie werden ökonomische und gesellschaftliche Konfliktlinien wieder sichtbar. Und Veränderung kann Angst machen. Aber letztlich sind neue Parteien vor allem Symptom, nicht Ursache. Es ist die Politik der letzten 30 Jahre, und ihr Versuch, bestehende Konfliktlinien und Probleme einfach unter den Teppich zu kehren, die zu Instabilität geführt hat. Das gilt auch für die Bundesrepublik.

Lasst uns abschließend einen Blick in die Zukunft werfen. Welche Veränderungen in der deutschen Parteienlandschaft erhofft Ihr Euch in den kommenden Jahren und welchen Beitrag möchte Euer Buch dazu leisten? 

Burmester: Ich wünsche mir, dass wir künftig eine Parteienlandschaft haben, die nicht nur rhetorisch anerkennt, was ist – Stichwort Klimakrise, Ökokrise und soziale Krise – sondern diese Einsicht in ihr politisches Handeln übersetzt. Eine politische Landschaft, in der das Festklammern am Bestehenden und das Hinauszögern des Notwendigen nicht länger akzeptiert werden.

Das geht dann, wenn wir einen Wettstreit zwischen grundlegenden, tiefgreifenden Gestaltungsideen für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft haben. Ich denke, dass wir dafür ein, zwei neue transformative Parteien brauchen, die den politischen Wettbewerb mit Blick auf Programm und Organisationsweise produktiv befeuern.

„Die Skepsis gegenüber Parteien ist enorm, oft zu Recht. Nichtsdestotrotz sind Parteien eins der elegantesten Elemente einer Demokratie, die Verbindung zwischen Souverän – den Bürger:innen – und der Regierung zu gewährleisten.

Holtmann: Mein Wunsch ist eine Versöhnung zwischen Bürger:innen und Parteien. Nicht unbedingt eine Versöhnung mit den bestehenden Parteien – ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist. Aber mit der Idee von Parteien an sich. Die Skepsis gegenüber Parteien ist enorm, oft zu Recht. Nichtsdestotrotz sind Parteien eins der elegantesten Elemente einer Demokratie, die Verbindung zwischen Souverän – den Bürger:innen – und der Regierung zu gewährleisten. Ohne sie geht es nicht.

Vielen Dank Euch beiden für das Gespräch!

Das Interview führte Paul Jürgensen.


Clemens Holtmann hat die Partei DEMOKRATIE IN BEWEGUNG (DiB) mitgegründet. Er war in der europäischen Bewegung DiEM25 engagiert und hat als Geschäftsführer einer Stiftung junge politische Talente gefördert.
Hanno Burmester ist Organisationsentwickler und Fellow des Think-Tanks Das Progressive Zentrum. Als Berater kennt er Unternehmen aller Größe von innen. Die Bundespolitik hat er als Mitarbeiter im Bundestag, einer Parteizentrale und als investigativer Journalist kennengelernt.

Autor

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.

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