Neue Kolumne auf dem Weg zur Bundestagswahl – Ein Vorwort der Herausgeber:innen

Die gegenwärtige gesellschaftspolitische Situation stellt uns als Demokrat:innen und vor allem auch als Progressive vor massive Herausforderungen. Mit unserer neuen Kolumne Die Progressive Lage wollen wir uns genau diesen Herausforderungen widmen.

Liebe progressive Mitstreiter:innen,

ein Jahr vor der Bundestagswahl zeichnet sich der Umbruch des deutschen Parteiensystems immer deutlicher ab. Dazu gehört auch ein neuer politischer Zyklus – ein Zyklus der Koalitionen aus mehr als zwei Parteien. Diese tektonischen Verschiebungen stellen uns vor strukturelle politische Herausforderungen.

Die Europawahl und die drei Landtagswahlen im Osten haben neben der AfD mit dem BSW Kräfte ins Zentrum der deutschen politischen Realität katapultiert, deren Programmatiken zentralen Grundsätzen der zweiten deutschen Demokratie entgegenstehen – etwa der Westbindung oder der Bündnistreue im Rahmen von EU und NATO. 

Der Abgesang auf die Ampelregierung ist zu einem Mantra avanciert, unter dessen Eindruck jede Bahnverspätung als weiterer Beweis eines überforderten, unfähigen Staates interpretiert wird. Spätestens mit dem Rücktritt des gesamten Bundesvorstandes der Grünen infolge einer Serie von Wahlniederlagen ist klar, dass auch die Krise der Ampel ein neues Stadium erreicht hat. Diese neue Realität stellt uns als Demokrat:innen und vor allem auch als Progressive vor massive Herausforderungen.

Was ist Die Progressive Lage?

Mit unserer neuen Kolumne Die Progressive Lage, die morgen zum ersten Mal erscheint, wollen wir uns genau diesen Herausforderungen widmen – weil wir es tun müssen. Denn wenn der gesellschaftliche Fortschritt einem Pendel entspricht, dann befinden wir uns im Moment nicht gerade auf der dem Fortschritt zugewandten Seite. Oder ist die Stimmung schlechter als die Lage? Erleben wir gar keinen Rückschritt, sondern nur eine Senke auf dem Weg nach vorn, in der der gegenwärtige Schwall rechtspopulistischen und rechtsextremen Gedankenguts schon bald versickern wird? Was heißt es heute angesichts massiver Verschiebungen im Parteiensystem, progressiv zu sein? Und: Was braucht es, um Menschen für demokratische Werte und Überzeugungen zurückzugewinnen?

Alle zwei Wochen wird ein:e Autor:in in dieser Kolumne einer aktuellen politischen Frage nachgehen, einordnen, kommentieren, vor allem auch Impulse setzen, an denen wir uns reiben können – auch wir als Herausgeber:innen, weil die Standpunkte unserer Autor:innen nicht zwangsläufig immer auch unsere sein werden. Inmitten der Irr- und Umwege der gegenwärtigen Lage suchen wir so den Weg nach vorne. Wir schauen auf das Tagesgeschehen und schneiden Schneisen in das Dickicht von Information und Desinformation. Wir schauen auf Deutschland, auf Deutschland in Europa und auch die transatlantischen Beziehungen, weil die bevorstehende US-Wahl auch für uns entscheidender sein wird als es eine US-Wahl je war. Wir scheuen keine Haltung, keine These und keine Kontroverse. Wir glauben an den Fortschritt, daran, dass Dinge besser gemacht und besser werden können. Wir sind überzeugt von der Gestaltungsmacht von Politik und Gesellschaft.

Der Wunsch nach Verlass und Sicherheit

Mit Blick auf die jüngsten Wahlen ist klar, welches Thema Gesellschaft und Gemüter derzeit im Kern bewegt:  Sicherheit! Dazu zählen die soziale Sicherheit, (die als irregulär bezeichnete) Migration und Russlands Krieg gegen die Ukraine. Aber auch sicht- und spürbarer werdende Lücken in der Gesundheitsversorgung und eine zähe Reformdebatte sowie die quasi garantierte Unzuverlässigkeit des Zugverkehrs infolge von infrastrukturellen Investitionsversäumnissen befeuern ein Verlässlichkeitsbedürfnis der Bürger:innen. Das müssen wir ernst nehmen – auch und vor allem Progressive, wenn sie das Feld perspektivisch nicht denen überlassen wollen, die bei abstoßenden Wahlpartys “Abschieben!” grölen. Wie aber kann eine Antwort lauten, die der gegenwärtigen Diskursverschiebung nicht auf den Leim geht, sondern das Problem an sich ebenso ernst nimmt wie seine Komplexität? Was also ist progressive Sicherheit?

Wir sind überzeugt: Wir brauchen ein neues politisches Angebot für progressive Sicherheit. Es muss darum gehen, die Ursachen für Unsicherheiten anzugehen, statt sich lediglich auf ihre Erscheinungsformen zu konzentrieren. Das meint den gesellschaftlichen Zusammenhalt (Kohäsion) – und eine Absage an Spaltungen in “wir” und “die”. Das meint zwischenstaatliche Zusammenarbeit und Multilateralismus (Kooperation). Und das meint die Überwindung investitionshemmender Maßnahmen (Kapazitäten) – besonders die der deutschen Schuldenbremse. Es geht darum, sich nicht nur der Komplexität der Probleme, sondern auch der Komplexität ihrer Lösungen zu stellen und Überzeugungen und Werte in praktische Politik zu gießen. Genau das macht seriöses Regierungshandwerk aus – und unterscheidet Progressive von den “Polarisierungsunternehmern” (Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser), die Ängste gezielt schüren und für ihre trüben Absichten nutzen.

Debatte wider den “Totalverweigerer”-Sound

Nehmen wir die soziale Sicherheit. Da geht es um die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, um die Höhe von Löhnen im Verhältnis zu Lebenskosten, Kinderarmut, Sorge um das Rentenniveau und auch um allgemeine Abstiegsängste. Diesen Themen müssen sich Progressive in der politischen Auseinandersetzung mit deutlich mehr Hingabe, Selbstbewusstsein und Detail widmen. Die hingegen öffentlichkeitswirksam geführte Bürgergeld-Debatte wird derzeit für Neid- und Schuldfragen missbraucht. Progressiven geht es dabei um Bedarfsgerechtigkeit, um Chancen und Teilhabe auch für Menschen, die aus verschiedenen Gründen auf Unterstützung angewiesen sind und um ihre hinreichende Absicherung. Und natürlich geht es auch darum sicherzustellen, dass Menschen wieder in gute Arbeit integriert werden können. Gleichzeitig adressiert werden muss die Frage nach dem Zusammenhang von Lohnabstand und einem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl. 

Der mediale und politische “Totalverweigerer”-Sound verstellt jedoch den Blick darauf, dass soziale Sicherheit – mindestens im progressiven Sinne – gerade auch über die oberen Einkommensgruppen hergestellt werden muss. Erst im März urteilte der Europarat, dass Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes stehen. Kohäsion heißt hier, Spaltungen zu überwinden und im Sinne der Gemeinwohlorientierung zu wirken.

Die letzten Nachwahlbefragungen zeigen: das Thema der sogenannten irregulären Migration hat wieder Konjunktur, insbesondere nach dem furchtbaren Mordanschlag von Solingen ist es im gesamten gesellschaftspolitischen Spektrum zum Megathema avanciert. Schon davor hatte sich das progressive Lager erheblich gen Law and Order bewegt und an einer europäischen Lösung entscheidend mitgewirkt, wurde aber zuletzt unter dem Druck der Union – die sich ihrerseits unter dem Druck der AfD wähnte – zu einer weiteren Verschärfung in Form umfassender Grenzkontrollen bewegt, die zuvor undenkbar gewesen wäre. Immerhin: CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat versprochen, das Thema aus dem Bundestagswahlkampf 2025 herauszuhalten. Man wird ihn vermutlich daran erinnern müssen – obwohl es kein geringerer war als Merz‘ Mentor, der verstorbene Wolfgang Schäuble, der in seinen Memoiren dafür plädiert, „Stimmungen nicht aufzuheizen, sondern deeskalierend zu wirken.“ Kohäsion und Versachlichung der Debatte, Kooperation zwischen den Staaten Europas. Das wäre hier angezeigt. Stattdessen grassiert angesichts der neuen deutschen Abweisepraxis eine berechtigte Irritation unter unserer europäischen Nachbarn. Über viele Jahre mühsam erarbeitete Kompromisse stehen auf dem Spiel.

Mit Sicherheit Mehrheiten in der politischen Mitte

Und schließlich bewegt und besorgt der russische Angriffskrieg die deutschen Gemüter; nicht zuletzt hinsichtlich der eigenen Sicherheit – und mit denkbar konträren Standpunkten. Während die einen argumentieren, durch Waffenlieferungen an die Ukraine wachse die Gefahr eines direkten Krieges mit Russland, halten andere die katastrophalen Folgen einer ukrainischen Niederlage auch für Deutschland und Europa dagegen. Kapazitätenbildung hieße hier, an der nationalen und europäischen Verteidigungsfähigkeit zu arbeiten und wirksame Schutzmechanismen zu schaffen. Es war Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der den Zusammenhang der Themen auf den Punkt brachte: „Die, die gegen Flüchtlinge Wahlkampf machen, sind dieselben, die eine nächste Flüchtlingswelle auslösen, indem sie der Ukraine die Hilfe verweigern.“ 

Ein Jahr vor der Bundestagswahl hat das progressive Lager einen gewaltigen Rückstand in den Meinungsumfragen aufzuholen. Entschieden ist aber noch längst nichts. Wer die Frage der Sicherheit ernst nimmt und glaubhaft gegenwartstaugliche und zukunftsfähige Lösungen anbietet, der kann auch wieder Mehrheiten in der politischen Mitte erringen. Theoretisch bleibt progressiven Kräften für eine Neuaufstellung noch knapp ein Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl – de facto müssen wir uns heute mutig auf den Weg machen, wenn wir nicht schon morgen hinterherhinken wollen.

Die Progressive Lage soll ein Beitrag auf diesem Weg sein, der eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Es ist ein Angebot unter vielen – hoffentlich aber eines, mit dem wir für Euch einen Unterschied machen können. In diesem Sinne freuen wir uns über Euer Feedback und Eure Gedanken – schreibt uns an lage@progressives-zentrum.org.

Auf geht’s – mit einer ersten Ausgabe morgen von Karl Adam, langjähriger Begleiter unserer Arbeit, der als Kolumnist den Auftakt machen wird. Wir freuen uns auf die Debatte!

Herzliche Grüße

Dominic Schwickert & Paulina Fröhlich

Autor:innen

Dominic Schwickert

Geschäftsführer des Progressiven Zentrums
Dominic Schwickert ist seit Ende 2012 Geschäftsführer des Progressiven Zentrums. Er hat langjährige Erfahrung in der Politik- und Strategieberatung (u.a. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bertelsmann Stiftung, IFOK GmbH, Stiftung Neue Verantwortung, Deutscher Bundestag, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie).

Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin | Resiliente Demokratie
Paulina Fröhlich ist stellvertretende Geschäftsführerin und verantwortet den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“ des Berliner Think Tanks Das Progressive Zentrum. Dort entwirft sie Dialog- und Diskursräume, leitet die europäische Demokratiekonferenz „Innocracy“ und ist Co-Autorin von Studien und Discussion Papers.

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