Man muss die Ampelregierung an den Herausforderungen der vergangenen zwei Jahre messen

Die Ampelregierung trägt nicht nur schwer an ihren internen Meinungsverschiedenheiten, sondern auch auch an der Last einer jahrelangen deutschen Abhängigkeitenpolitik. Braucht es erst eine ernsthafte Krise, damit die Ampel zu sich findet?

Am 8. Dezember 2021 wurde Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt. Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. Weniger als drei Monate hatte die Ampelregierung Zeit, um unter Normalbedingungen einen Modus des Regierens zu entwickeln, bevor sie in den Krisenbewältigungsmodus wechselte – die Endphase der Corona-Pandemie außen vor gelassen. Wozu wäre die Ampelregierung fähig gewesen, wäre sie nicht durch die Ukraine-Krise dominiert worden?

Der Kontext

Der Kontext der deutschen Politik hat sich mit dem 24. Februar 2022 gänzlich verändert. Das gilt nicht nur für die Zeitenwende und die Erneuerung der Bundeswehr in Hinblick auf neue und akute sicherheitspolitische Aufgaben. Es gilt auch in Hinblick auf die Energiepolitik, den Verlust einer sicheren Energieversorgung durch Russland, auf den Bedeutungszuwachs von China und die Spannungen mit den USA sowie die Inflation und die dadurch induzierte Hochzinsphase. Diese Kontextverschiebungen sind einzeln betrachtet wesentliche Einflussfaktoren. Zusammengenommen bilden sie eine massive und neue Problemstellung, für die es bislang keine klare Antwort gibt. 

Gleichwohl kann man die Ampel auch nicht verstehen, ohne die lange Phase einer zunehmenden Abhängigkeit der deutschen Politik zu berücksichtigen. Lange Zeit hat die Bundesregierung – im Chor  mit SPD und vielen Ökonomen – ihre Politik der eigenen Schwäche als Stärke verstanden: die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl, die zunehmende Konzentration deutscher Exporte nach China während gleichzeitig das Vertrauen in den militärischen Schutz durch die USA keine offensichtlichen Fragen aufwarf. Selbst als die USA drohten, Deutschland mit Sanktionen über den Bau von Nordstream2 zu belegen, führte das nicht zu einem Überdenken, sondern einem festen „Weiter So“. 

Es ist daher wichtig zu berücksichtigen, dass die Ampel am 24. Februar 2022 ein hartes Erwachen aus einer Illusion erlebte – jedoch nicht als unschuldiges Opfer einer neuen internationalen Entwicklung. Seit der globalen Finanzkrise 2009 war die Priorität der deutschen Politik die Stabilisierung der deutschen Wirtschaft durch die Erschließung neuer Märkte, um die Ungleichgewichte der Eurozone auszugleichen und Wohlstand zu sichern. Die Energiebeziehungen mit Russland und die Orientierung an China waren Teil dieser Wachstumsstrategie, die die zunehmenden Vorbehalte der USA und die offenen Flanken in der europäischen Sicherheitspolitik unberücksichtigt ließ. Für das Vorantreiben der Transformation wurden die guten Jahre der Vollbeschäftigung und günstiger Zinsen nicht genutzt.

Die doppelte Transformation

Die Ampel hat diese Prioritäten deutscher Politik geerbt und musste sich in kürzester Zeit damit auseinandersetzen, dass der russische Angriffskrieg die Energiepolitik auf den Kopf und die Wirtschaftsbeziehungen mit China zunehmend infrage stellt. Die Herausforderung ist die einer doppelten Transformation: Zu der Transformation als Antwort auf die Klimakrise kommt die Transformation des deutschen Wirtschaftsmodells in einem neuen geopolitischen Kontext hinzu. Beides ist miteinander verknüpft. Die Klimapolitik ist für das deutsche Wirtschaftsmodell ein zentraler Faktor – und umgekehrt: Die Automobilindustrie ist nicht nur Schlüsselindustrie für eine klimagerechte Politik, sondern auch für die deutsche Wirtschaft. Das gleiche gilt für den Maschinenbau und die chemische Industrie. Es muss nicht nur die Energieversorgung von fossilen Rohstoffen auf erneuerbare Energien umgestellt werden – das Wirtschaftsmodell muss sich insgesamt neu aufstellen: Welche Fertigung soll mittelfristig in Deutschland mit welchem Energieverbrauch stattfinden? Wie nachhaltig ist eine exportorientierte Wachstumsstrategie im Kontext der Spannungen mit China? Wie abhängig ist die deutsche Wirtschaft nicht nur von Technologien aus den USA und Chips aus Taiwan, sondern auch von seltenen Erden aus China? Die deutsche Politik sitzt zwischen den Stühlen: zwischen dem Inflation Reduction Act der USA und den Restriktionen der europäischen Politik. Deutschland, das in den Binnenmarkt und die Eurozone eingebunden ist, kann nur in der Koordination innerhalb der EU wirtschaftspolitisch handeln.

Man muss die Ampel an den Herausforderungen messen

Wird die Ampel den Herausforderungen gerecht? Einerseits geht es hier um das unmittelbare Krisenmanagement, um Ankäufe von Flüssigerdgas (LNG), das Ersetzen von russischem Gas, die Lieferung von Waffen an die Ukraine und den Aufbau eigener militärischer Handlungsfähigkeit. Andererseits geht es um die Umsteuerung des deutschen Wirtschaftsmodells im Kontext des Klimawandels. Das ist eine gewaltige Herausforderung für eine neue Koalition, in der nur ein Partner langjährige Regierungserfahrung hat. Die Fortschrittskoalition kann daher nicht ausschließlich an ihrem Koalitionsvertrag gemessen werden. Es ist nicht allein entscheidend, welcher Anteil des Koalitionsvertrages in den letzten zwei Jahren abgearbeitet wurde, sondern vielmehr, ob und inwieweit die Ampelkoalition den Herausforderungen der letzten beiden Jahre gerecht geworden ist. 

Bei der unmittelbaren Krisenbewältigung ist die Ampel besser als ihr Image. Der Schock der Energie- und Inflationskrise wurde gemeistert, ohne dass es zu einem Einbruch der Wirtschaft gekommen wäre. Der Arbeitsmarkt und die Gesellschaft waren in der Lage, mehr als eine Million Ukrainer:innen aufzunehmen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist auf gutem Wege und in der Frage der Ukraine besteht weiterhin große Einigkeit – innerhalb der Bundesregierung ebenso wie in der Gesellschaft.

Die langfristigen Weichenstellungen der doppelten Transformation

Gleichzeitig gibt es in der Ampel massive Meinungsunterschiede, die in Hinblick auf die langfristigen Weichenstellungen zur doppelten Transformation wichtig sind. Der wichtigste betrifft die Haushaltsdisziplin. Die Kombination aus Rückkehr zur Haushaltsdisziplin einerseits und wachsenden Schattenhaushalten andererseits führt zu einer Engführung von politischen Entscheidungen – zum Beispiel dazu, dass die Länder und Kommunen bei den Kosten der Unterbringung von Geflüchteten allein gelassen werden und ihren Beitrag zur Transformation kaum noch leisten können. Gleichzeitig sind die Sonderfonds für Wirtschaft, Klima und Sicherheitspolitik heftig umkämpft. Zudem sind weiterhin hohe Investitionen für die Klima- und Energiepolitik erforderlich. 

Punkt zwei betrifft  das Gegenüber von Ordnungs- und Industriepolitik. Nur unter großer Anstrengung hat die Bundesregierung zur Energiepreisbremse gefunden. In der gegenwärtigen Debatte über den Industriestrompreis geht es nicht darum, ob große Unternehmen bevorzugt behandelt werden. Es geht vielmehr darum, ob bestimmte Produktionen noch in Deutschland stattfinden sollen. Weitere Punkte sind Technologieoffenheit im Hinblick auf Antriebsmotoren, das Tempo in der Klimapolitik sowie die soziale Dimension des Klimawandels (Klimageld, Infrastruktur). 

In vielen dieser Fragen herrscht Dissens zwischen der FDP einerseits und Rot-Grün andererseits. Bei Ordnungs- und Industriepolitik gibt es zudem einen Konsens unter Ökonom:innen, der eine weiterführende Debatte erschwert. In Hinblick auf das Tempo und die soziale Dimension des Klimawandels gibt es zudem Unterschiede zwischen SPD und Grünen. Das Problem dieser Meinungsverschiedenheiten besteht darin, dass sie die deutsche Wirtschaft weiter verunsichern in einer Phase, die ohnehin schon von hoher Unsicherheit geprägt ist.

Wie weiter mit der Ampel?

Wie kann in diesem Kontext die zweite Hälfte der Legislaturperiode aussehen? Es besteht die Gefahr, dass die Meinungsverschiedenheiten über mittelfristige Prioritäten, Geschwindigkeiten und Ziele der doppelten Transformation innerhalb der Ampelregierung die ökonomische Krise weiter verstärken – und die Ampel weiter an Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Es kann sein, dass es erst zu einer ernsteren Krise kommen muss, bis die Ampelparteien bereit sind, stärker in öffentliche Infrastruktur zu investieren und den Strukturwandel aktiv zu begleiten. Es kann auch sein, dass wichtige Gelegenheiten darüber verpasst werden.

Die progressiven Kräfte in der Ampel sollten sich auf diese Situation vorbereiten, indem sie klare Antworten auf wesentliche Fragen formulieren: Was ist die Rolle der industriellen Basis für den Wirtschaftsstandort Deutschland? Welche industriepolitischen Instrumente sollte die Bundesregierung weiterentwickeln, um die Industrie zu dekarbonisieren und zu digitalisieren? Welche Form des sozialen Ausgleichs in der Transformation ist angemessen und politisch sinnvoll? Sollten Einnahmen aus der Emissionssteuer mit dem Klimageld ausgeschüttet werden oder in Infrastruktur und Dienstleistungen investiert werden? Wie kann man Haushaltsdisziplin, Schattenhaushalte und öffentliche Investitionen zusammendenken? Was ist der Handlungsbedarf in der Bildungspolitik? 

Letztlich gehören auch Demografie und Migrationspolitik zur Frage der doppelten Transformation. Das Erwerbspersonenpotenzial Deutschlands ist in den vergangenen zehn Jahren um 2,5 Millionen gewachsen –  entgegen allen Prognosen, die seit Jahren dramatische Schrumpfungen vorhersagen. Dieser Bevölkerungszuwachs verschärft sowohl infrastrukturelle Probleme als auch den Engpass in der Versorgung mit Wohnraum – und das nicht nur in den Ballungsgebieten. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung auch in dieser Frage – und auch mit Blick auf das Thema Migration – ein klares politisches Ziel formulieren könnte und würde.

Foto: IMAGO / Jürgen Heinrich

Autorin

Anke Hassel

Prof. Dr. Anke Hassel

Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats
Anke Hassel ist Professorin für Public Policy an der Hertie School und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Progressiven Zentrums. Anke Hassel studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften sowie Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und an der London School of Economics and Political Science.

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