Klimaneutralität braucht eine neue industriepolitische Strategie

Die Transformation der Industrie sollte strategisch aufgestellt werden. Statt sich dabei in Detailfragen zu verlieren, gilt es, industriepolitische Instrumente auf Grundlage einer ebenso deutschen wie auch explizit europäischen Langfristvision zu konzipieren.

Die Dekarbonisierung ist unter dem Handlungsdruck der Klimakrise zu einem unumkehrbaren Trend geworden. Verschiedene Politikfelder, von der Außenpolitik über die Klima- und Energiepolitik bis zur Wirtschafts- und Handelspolitik, stehen dabei in einer immer stärkeren Wechselwirkung zueinander. Zudem hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine offengelegt, welche Konsequenzen Abhängigkeiten von einzelnen Staaten wie Russland nach sich ziehen können und einen Vorgeschmack für das Ausmaß einer möglichen Krise infolge eines Zerwürfnisses des Westens mit China geliefert.

Vor diesem Hintergrund geopolitischer Verschiebungen ist die Transformation hin zu einer resilienten und von fossilen Rohstoffen unabhängigen Wirtschaft umso essenzieller. Dekarbonisierung und ein De-Risking im Falle von Abhängigkeiten bei Lieferketten müssen Hand in Hand gehen. Der damit verbundene Umbau von Industrie und Wirtschaft birgt jedoch immense Herausforderungen. Abhängigkeiten etwa in der Solar- oder Automobilindustrie machen deutlich, dass eine enge Abstimmung innerhalb der EU unerlässlich ist; dabei hat Deutschland jüngst viel Vertrauen in Europa verspielt, etwa durch die unabgestimmte Entscheidung zur Einführung eines Industriestrompreises.

Während die USA mit den “Bidenomics” und dem Inflation Reduction Act (IRA) eine neue, eingängige und mit massiven öffentlichen Mitteln unterlegte industriepolitische Strategie implementieren, streitet die Ampelregierung öffentlichkeitswirksam über einzelne Vorhaben wie das Gebäudeenergiegesetz. Auf europäischer Ebene erschwert der Tiefpunkt in den deutsch-französischen Beziehungen eine koordinierte und schlagkräftige Antwort der Staatengemeinschaft auf den IRA.

Wie also kann die Bundesregierung innerhalb der EU bei der Dekarbonisierung die erforderliche Geschwindigkeit erreichen und gleichzeitig die Risiken in Lieferketten abbauen? Und was für eine industriepolitische Strategie wäre geeignet, die Transformation effektiv und erfolgreich auszugestalten?

Notwendig sind eine transformative Angebotspolitik und schlanke Verfahren

Dass es für die Transformation eine starke Industriepolitik braucht, ist inzwischen auch am Kabinettstisch angekommen. Ihre genaue Ausgestaltung ist dagegen noch weitgehend diffus. Ungeklärt ist auch, welche Instrumente geeignet wären und wie eine europäische Einbettung und Koordination aussehen könnte.

Klar ist: Zentral für das Gelingen der Transformation ist der richtige Policy-Mix. Hierbei vertraut die Bundesregierung zum einen auf eine transformative Nachfrage-, aber auch Angebotspolitik, die auf marktseitige Anreize setzt, um knappe Ressourcen effizient in Richtung Zukunftsinvestitionen zu lenken. Insbesondere das Anwerben, Halten und Weiterbilden von Fachkräften für den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie der digitalen Transformation der Industrie müssen dabei gelingen. Zum anderen müssen Genehmigungsverfahren verschlankt und der Staat agiler werden. Die “Deutschlandgeschwindigkeit”, die mit dem Ausbau der – durchaus umstrittenen – LNG-Infrastruktur bereits ihr Potenzial gezeigt hat, muss gleichzeitig massiv an Fahrt aufnehmen. Anders ist etwa das Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch bis 2030 auf 80 Prozent zu erhöhen, nicht zu erreichen. 

Offen ist die Finanzierung einer starken Industriepolitik. Damit Transformationsindustrien in Deutschland bleiben bzw. sich hier ansiedeln, ist auch hier ein wirksamer und ausgewogener Mix aus öffentlichen Investitionen bzw. Subvention und der gezielten Besteuerung von CO2-Emissionen notwendig.

Der IRA in den USA ist als massives öffentliches Investitionsprogramm angelegt. Obwohl die EU-Kommission sich in Fragen staatlicher Beihilfe schon überraschend weit bewegt hat, steht dies in keinem Vergleich zu den neuen finanziellen Hebeln auf der anderen Seite des Atlantiks, zumal beispielsweise die Erleichterungen im Beihilferecht vor allem reichen EU-Mitgliedstaaten bzw. in erster Linie Deutschland nützen. Als Antwort darauf muss die Bundesregierung vorsichtig zwischen defensiven und offensiven industriepolitischen Instrumenten abwägen – auch, um einen schon angestoßenen Subventionswettlauf mit den USA einzuhegen. 

Europäische Abstimmung ist entscheidend für das Gelingen der Transformation

Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher, vor allem energieintensiver Unternehmen ist der Strompreis. Wenn dieser nicht sinkt, werden zahlreiche Güter aus deutscher Produktion auf dem Weltmarkt verdrängt werden. Ein Industriestrompreis könnte hier zumindest kurzfristig das Mittel der Wahl sein, um heimische Unternehmen während der Übergangsphase in einer völlig auf erneuerbaren Energien basierte Stromproduktion wettbewerbsfähig zu halten. Dabei darf es aber keine deutschen Alleingänge in der EU geben, die den europäischen Strommarkt verzerren und die Beziehungen zu den europäischen Partnern so massiv schädigen würden.

Tatsächlich ist die europäische Einbettung und Abstimmung eine Kernfrage bei der Konzeption einer industriepolitischen Strategie. Zahlreiche Initiativen und konkrete industrie- und wettbewerbspolitische Vorhaben der EU-Kommission treffen in Deutschland aber auf Ignoranz, Gleichgültigkeit und mangelnden politischen Willen zur Umsetzung. Auch die Finanzierung der Transformation auf EU-Ebene über einen schuldenfinanzierten Fonds wird in Deutschland kaum Zustimmung finden.

Für die wirtschaftliche Transformation, die Zukunft des Standorts Europa und die zukünftige Chance für progressive Politik in der EU ist vor diesem Hintergrund die Neubelebung der stark beschädigten deutsch-französischen Beziehungen essentiell. Notwendig sind dafür wegweisende deutsch-französische Zukunftsprojekte und ein gemeinsames Vorgehen bei der Beschaffung der erforderlichen Mehrheiten im Rat der Europäischen Union. Die Europapolitik der Ampel muss dringend ambitionierter werden.

Eine kurzfristige Entkopplung von China ist unrealistisch

Zur Steigerung der Resilienz der deutschen und europäischen Wirtschaft ist ergänzend zur Dekarbonisierung ein De-Risking notwendig, damit die Risiken der existierenden Abhängigkeiten mittel- bis langfristig minimiert werden. Dabei ist ein “De-Coupling” von China in den nächsten Jahren kaum umsetzbar. Für die EU ist China der wichtigste Handelspartner. Seit dem Jahr 2000 hat sich der Handel mit China auf 16 Prozent des gesamten EU-Warenverkehrs verdreifacht, während der Handel mit den USA im selben Zeitraum anteilig zurückging. 

Die europäische Solarbranche etwa ist fast vollständig von China abhängig. Deutsche Solarmodule sind derzeit im Vergleich zu chinesischen doppelt so teuer. Vor diesem Hintergrund wirkte die chinesische Drohung von Exportbeschränkungen Anfang des Jahres umso stärker. Und der IRA, der bereits heute ein Pull-Faktor für deutsche Unternehmen ist, schwächt zusätzlich den europäischen Standort. Umso wichtiger wird es sein, Anreize zu schaffen, um die Solarindustrie Stück für Stück entlang der gesamten Lieferkette nach Deutschland zurückzuholen.

Lieferketten als Gradmesser für wirtschaftliche Unabhängigkeit

Entscheidend für das Gelingen der sozial-ökologischen Transformation ist auch der Zugang zu Rohstoffen und resilienten Lieferketten, zumal keiner der global agierenden Rohstoffkonzerne aus Deutschland kommt. Gleichzeitig werden Unternehmen über deutsche und europäische Lieferkettengesetze unter den Überschriften “Due Diligence” und “unternehmerische Sorgfaltspflichten” zunehmend dazu angehalten, ihre Lieferketten nachhaltig zu gestalten und ESG (economic, social, governance)-Risiken zu minimieren. Sofern sie Menschenrechts- und Umweltstandards verletzen, müssen sie verstärkt mit Klagen rechnen. Auch im Handel mit den USA gewinnen Menschenrechtsstandards an Bedeutung. 

Der internationale Wettbewerb um Rohstoffe und wichtige Vorkomponenten für zentrale Transformationstechnologien ist jedoch eine große Herausforderung auf dem Weg zu nachhaltigen Lieferketten und der Durchsetzung von gemeinsamen Menschenrechts- und Umweltstandards. Chinas beträchtliche Investitionen in den Abbau und die Weiterverarbeitung von Rohstoffen unterliegen keinen ESG-Standards. Für Deutschland und Europa bedeutet dies, dass Partnerländer über transformative Rohstoffpartnerschaften in Entscheidungsprozesse eingebunden werden müssen. 

Neben dem Ausbau und der Diversifizierung von Rohstoffpartnerschaften ist der schrittweise Umbau hin zu einer Kreislaufwirtschaft, bei der möglichst viele Ressourcen im Umlauf bleiben, Baustein einer Industriepolitik, die Deutschland und Europa nicht nur zu mehr Nachhaltigkeit, sondern auch zu mehr Unabhängigkeit führt. 

Eine ganzheitliche Perspektive auf die Transformation der Industrie

In einer Welt, die durch zunehmenden Nationalismus und Protektionismus gekennzeichnet ist, sollte es nicht zuletzt eine Lehre aus den Erfahrungen mit Nord Stream I und II sein, in Zukunft auf Absprachen mit Partnern und gemeinsame europäische Strategien zu setzen. Dazu gehört, Teile von Lieferketten in die EU (zurück) zu holen, Rohstoffquellen zu diversifizieren und Partnerschaften auf Augenhöhe mit Ländern des globalen Südens einzugehen. Auch Rohstoffrecycling und der Aufbau einer Kreislaufwirtschaft sind elementar für glaubwürdiges De-Risking und Resilienzstärkung. 

Die Transformation der Industrie sollte dabei nicht, wie momentan zu beobachten, reaktiv und von äußeren Faktoren getrieben werden, sondern strategisch aufgestellt werden. Welche Schlüsselindustrien braucht der Industriestandort Deutschland? Wo muss der Staat industriepolitisch aktiv steuern? Statt sich in Detailfragen zu verlieren, gilt es, industriepolitische Instrumente auf Grundlage einer ebenso deutschen wie auch explizit europäischen Langfristvision zu konzipieren. Daraus wird dann eine zukunftsfähige industriepolitische Strategie.

Dieser Text ist auf Grundlage einer Fachgruppendiskussion während unseres politischen Symposiums “Wie viel Konflikt verträgt die Transformation” am 28. Juni 2023 in Berlin entstanden.

Autorin

Dr. Sabrina Schulz

Policy Fellow
Sabrina Schulz arbeitet als Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sowie als Beraterin, Analystin und Moderatorin. Zuvor war sie Vorständin einer Holding für Start-ups im Bereich ClimateTech, arbeitete als Direktorin des Sustainable Development Solutions Network (SDSN) Germany, leitete das Berliner Büro der KfW Förder- und Entwicklungsbank und war Gründungsdirektorin des Berliner Büros von E3G – Third Generation Environmentalism. Ihre Laufbahn im Klimabereich begann sie als Klimadiplomatin im britischen Außenministerium.

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