Was junge Menschen von der Politik fordern

Wir haben junge Menschen nach ihren Wünschen und Bedarfen gefragt. Die Ergebnisse haben sie nun an politisch Verantwortliche übergeben. Bericht von der Abschlussveranstaltung im Projekt Kollekt zu jugendlicher Einsamkeit und Demokratiestärkung.

„Danke, dass Sie uns zuhören und uns ausreden lassen.” Was selbstverständlich sein sollte, ist es offenbar nicht. Zumindest nicht für Agatha, 15 Jahre alt, aus Jena. Sie ist eine von 22 jungen Menschen, die im Sommer auf Einladung des Progressiven Zentrums für ein Wochenende in Berlin zusammengekommen sind. Junge Menschen, die Erfahrungen mit Einsamkeit haben und sich allein gelassen fühlen – vor allem von der Politik. Deswegen haben die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis 21 Jahren beim KOLLEKTive Voices Weekend 15 Forderungen erarbeitet: Maßnahmen gegen jugendliche Einsamkeit und für die Stärkung von Teilhabe und Demokratie in ihrer Altersgruppe. Am Ende dieses Abends werden drei der Teilnehmenden die Forderungen an politisch Verantwortliche übergeben.

Ausgangspunkt der Veranstaltung im Betahaus an der Berliner Urbanstraße ist das Thema Einsamkeit. Auf den ersten Blick ist das nicht zu erkennen: Der Raum ist gut gefüllt, selbst die eilig dazu gestellten Stühle sind bis auf den letzten Platz besetzt. Die bekannte Autorin Marina Weisband ist da, die Bundestagsabgeordnete Emilia Fester, rund 120 Interessierte, ein Fotograf ebenso wie ein Kamerateam – und natürlich die KOLLEKTive Voices, vertreten durch Agatha, Pau, 19 Jahre aus Nordrhein-Westfalen und Maxim, 16 Jahre, aus Berlin. Sie stehen im Zentrum dieser Abschlussveranstaltung von Kollekt.

Projekt in drei Akten

Es ist ein Projekt in drei Akten, das hier zu Ende geht. Zuerst war da die Studie “Extrem einsam?”, die zeigte: Jugendliche in Deutschland sind einsam. Und: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit bei jungen Menschen und autoritären Einstellungen, Verschwörungsmentalität und der Billigung politischer Gewalt. Ein Befund, der ernstzunehmen ist. Oder wie die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus, es bei der Vorstellung der Studie formulierte: “Es ist unser aller Problem, wenn Jugendliche einsam sind.”

Das Problem gingen Kollekt-Projektleiterin Paulina Fröhlich und Junior Projektmanagerin Melanie Weiser an, gemeinsam mit Praktiker:innen aus der Jugendarbeit und Jugendhilfe sowie Expert:innen aus Wissenschaft und Politik. Das Ergebnis ist der Methodenkoffer gegen Einsamkeit, der Interessierten und Beteiligten auf einem Fachtag vorgestellt und diskutiert wurde. Er sammelt eine vielfältige Auswahl von neuen Formaten und Methoden, die in der Arbeit mit Jugendlichen eingesetzt werden können, um den Umgang mit Einsamkeit und demokratischen Haltungen zu stärken. Der letzte Schritt im Projekt Kollekt: Junge Menschen mit Einsamkeitserfahrung zusammenzubringen und ihnen den Raum zu geben, der ihnen zusteht – und in dem sie mit den Forderungen etwas Konkretes entwickeln können. 

15 Forderungen an die Politik

Zurück im Betahaus beschreibt Agatha auf der Bühne die Erfahrung als Teilnehmende des Wochenendes in Berlin: “Ich war aufgeregt. Aber die Diskussionen im großen und kleinen Kreis waren toll.” Maxim erinnert sich, in Berlin seien junge Menschen mit verschiedensten Biographien und Hintergründen aufeinander getroffen. Und bei jeder einzelnen Person sei da die Lust gewesen, etwas zu verändern. “Wir haben stundenlang gequatscht. Man hat gemerkt, wie wichtig das Thema jungen Menschen ist und dass es Handlungsbedarf gibt.” Für Pau sei das neu gewesen und bewegend – Einsamkeit eine Bühne zu geben aber “besonders schön”.

Am Ende des KOLLEKTive Voices Weekend stehen 15 Forderungen. Gerahmt von Expert:innenmeinungen und empirischen Belegen bilden sie die Publikation “Einsamkeit überwinden – Demokratie stärken”, die später am Abend feierlich an die politischen Vertreterinnen vor Ort übergeben wird. Der Forderungskatalog bezieht sich auf vier Felder: Bildung, mentale Gesundheit, Orte und Demokratie. Bevor sie im Detail vorgestellt werden, haben drei Expert:innen Gelegenheit, in kurzen Impulsen die Dringlichkeit der Forderungen zu unterstreichen und aus ihrer jeweiligen fachlichen – und teils persönlichen – Perspektive einzuordnen.

Aufklärung und das Recht auf Bildung

Louisa Basner, ehemalige Generalsekretärin der Bundesschülerkonferenz, berichtet von Stress und Leistungsdruck in der Schule und einer daraus resultierenden psychischen Belastung. Eine Problemlage, die sich in den Forderungen wiederfinde – in der öffentlichen Debatte aber fehle: „Über den Zusammenhang von schulischem Druck und mentaler Gesundheit wird wenig gesprochen.” Neben Ursachenbekämpfung brauche es mehr Aufklärung und Normalisierung psychischer Belastungsstörungen. Junge Menschen müssten wissen: „Es ist total okay, sich Hilfe zu holen.”

Daniela Broda, Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings, ergänzte die außerschulische Perspektive. Schule brauche Partner, damit junge Menschen nicht im Lernalltag zerrieben und den von ihnen formulierten Forderungen nach Beteiligung und Hilfsangeboten erfüllt werden könnten. Dafür seien Jugendverbände passende Orte. Diese bräuchten aber einen verlässlichen Rahmen, wodurch entsprechende Angebote nachhaltig und bedarfsorientiert finanziert werden können. Gerade in Zeiten des Rechtsruck sei dafür das Demokratiefördergesetz, das derzeit im Bundestag auf Eis liegt, “wichtiger denn je”.

Christine Streichert-Clivot, Ministerin für Bildung und Kultur des Saarlandes sowie Präsidentin der Kultusministerkonferenz, schlug den Bogen zur Politik als Adressatin der Forderungen. Sie monierte mit Blick auf die – insbesondere für junge Menschen – schwierige Corona-Zeit: “Die Pandemie war staatlich verordnete Einsamkeitspolitik”. Sie schließe sich vielen der 15 Forderungen an, “weil sie im Grunde genommen der Kern des Rechts auf Bildung ausmachen. Mit diesem Kern haben wir in der Pandemie gebrochen.” 

Dazu gehöre, als junger Mensch Wirksamkeit zu erfahren und sein Umfeld gestalten zu können. Demokratiebildung beginne schon in der Kita und sei ein stetiger Prozess. Dafür brauche es auch Orte wie autonome Jugendzentren, die nicht von politischen Mehrheiten abhängen. In Richtung der Jugendlichen appellierte Christine Streichert-Clivot: “Lasst euch nicht entmutigen!” Einsamkeit dürfe nie so weit kommen, dass Betroffene sich aus der Gesellschaft zurückziehen. Die dadurch entstehenden Räume würden dann von extremen Kräften besetzt – und diese zurückzuerobern sei sehr schwierig.

Bildung, Mentale Gesundheit, Orte, Demokratie

Nach den Schlaglichtern auf einzelne Forderungen wird im Saal der Katalog der KOLLEKTive Voices nun in Gänze vorgestellt. Das klingt dann mit Blick auf Bildung zum Beispiel so: “Wir fordern eine konkrete Rechtsgrundlage für die Beteiligung aller Interessengruppen an Bildungseinrichtungen durch ein Stimmrecht” (Forderung 2) sowie “niedrigschwellige, gezielte und integrative Sprachangebote bei gleichzeitiger Würdigung von Mehrsprachigkeit” (Forderung 3). 

Unter der Überschrift Mentale Gesundheit wird neben der aktiven Bewerbung von Hilfsangeboten (Forderung 5) eine erhöhte und langfristig gesicherte staatliche Förderung von kostenfreien und niedrigschwelligen Gruppenaktivitäten von und für junge Menschen gewünscht (Forderung 7).

Für die jungen Menschen besonders wichtig sind Orte, die inklusiv, altersunabhängig, kostenlos und jederzeit zugänglich für alle Menschen sind und basisdemokratisch mitgestaltet werden können (Forderung 8). Lebenskompetenzzentren mit Seminaren und Kursen (Forderung 10) sollen ebenso gefördert werden wie generationenübergreifende Wohngemeinschaften (Forderung 11).

Konkret adressiert wird die Bundesregierung. Von ihr fordern die KOLLEKTive Voices politische Maßnahmen zur Sensibilisierung, Toleranz, Offenheit und Abgrenzung gegen Rechts (Forderung 12). Außerdem wichtig: “Eine politische Stärkung der Selbstbestimmung, unter anderem durch die Änderung des Konsensbegriffs im Rahmen einer Reform des Strafrechts von „Nein heißt Nein!“ zu „Ja heißt Ja!“. (Forderung 14).

Diskussion und Appell

Auf der Bühne sind nun die drei jungen Vertreter:innen gefragt: Ob Social Media nicht helfen könne, Einsamkeit zu lindern, will jemand aus dem Publikum wissen. Pau berichtet vom Internet als Ausweichort, wo es auch tolle Foren gebe mit Vernetzungspotenzial. Allerdings könne man sich auch dort einsam fühlen: Jeder kenne die Symbolbilder in den Medien, auf denen Personen alleine vor dem Bildschirm sitzen. Mit Blick auf physische Orte, betont Pau, müsse regional unterschieden werden; gerade in ländlichen Regionen fehle es oft an Beteiligungsorten. 

“Wisst ihr jetzt besser, wie ihr euch einbringen könnt?”, fragt eine weitere Person aus dem Publikum. “Definitiv”, ruft Agatha. Nach dem Wochenende beim Progressiven Zentrum habe sie an ihrer Schule Jugendwahlen organisiert. Eine gute Erfahrung: “Das werde ich auch in Zukunft weiter machen.”

Das passt zu dem anschließenden Appell, den Marina Weisband in einem gesellschaftspolitischen Ausblick formuliert: “Der Kern von Demokratie ist das demokratische Selbstbild: Ich bin wichtiger, unverzichtbarer Teil dieser Gesellschaft.” Das würde bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland nicht ausreichend sozialisiert. Ein Punkt, an dem sie mit ihrem Beteiligungskonzept “aula” ansetzt, das Schüler:innen verbindliche Beteiligung im direkten Lebensumfeld der Schule ermöglicht. Den jungen Menschen ruft sie zu: “Seid die Jugendlobby!” Mit Forderungen höre es aber nicht auf. Es brauche Briefe an Abgeordnete, an Zeitungsredaktionen. “Ich ermutige euch, euch in eurer Sache zu radikalisieren!”

Nicht nur hören – sondern einbringen!

Der Weg zur Politik geht an diesem Abend aber nicht über die Post. Bundestagsabgeordnete Emilia Fester (Die Grünen), Mitglied und ehemalige Vorsitzende der Kinderkommission, nimmt die Forderungen – zusammen mit Christine Streichert-Clivot – stellvertretend für die Politik entgegen. Sie versichert: “Ich nehme diese Forderungen mit in den Bundestag!”

An dieser Stelle endete die Veranstaltung mit einem Gruppenfoto der Übergabe und viel Applaus. Es wurde zugehört, alle durften ausreden. Selbstverständlich, eigentlich. Wie sagte Daniela Broda in ihrem Impuls? “Junge Menschen sind Expert:innen ihrer eigenen Sache”, deswegen seien ihre Stimmen und Perspektiven so wichtig. Und zwar, sie nicht nur zu hören – sondern sie auch einzubringen. Damit die Forderungen nicht nur die Kinderkommission erreichen, wird das Progressive Zentrum die Publikation an alle jugendpolitischen Sprecher:innen der demokratischen Parteien im Bundestag sowie die Kultusminister:innen in den 16 Bundesländern übergeben.

Eine Forderung, so wusste Maxim zu berichten, sei übrigens schon erfüllt: Die Tagesschau gibt es seit kurzem in Einfacher Sprache – und damit die geforderte barrierefreie Erklärung komplexer Inhalte zur Prime Time (Forderung 4). Und die Abrufzahlen zeigten: Das war auch dringend nötig – und ein guter Anfang. Es bleiben 14 Forderungen.

Fotos der Veranstaltung

© Paul Schulze

Autor

Aaron Remus

stellv. Leitung Strategische Kommunikation
Aaron ist beim Progressiven Zentrum Kommunikationsmanager und stellvertretende Leitung des Bereichs Strategische Kommunikation. Studiert hat er Staatswissenschaften und Public Policy in Erfurt, Münster und St. Petersburg.
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